Der Boom auf Pump ist vorbei

Die türkische Wirtschaft hat in den letzten Jahren geboomt. Damit ist jetzt Schluss, sagen Ökonomen. Die Gründe dafür liegen in den Konflikten der Nachbarländer, aber auch in der türkischen Innenpolitik.

In this photo taken Tuesday, Jan. 28, 2014, a woman counts U.S. dollar and Turkish lira banknotes at a currency exchange office in Istanbul, Turkey. Turkey's central bank has sharply raised its key interest rate to 12 percent from 7.75 percent to try to stave off inflation and support the national currency, which has fallen sharply in recent weeks. The decision was taken late Tuesday at an emergency meeting the central bank called for after the currency, the lira, hit a record low. (AP Photo/Emrah Gurel)

(Bild: EMRAH GUREL)

Die türkische Wirtschaft hat in den letzten Jahren geboomt. Damit ist jetzt Schluss, sagen Ökonomen. Die Gründe dafür liegen in den Konflikten der Nachbarländer, aber auch in der türkischen Innenpolitik.

Istanbul. Dass Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) die Türkei seit Ende 2002 ununterbrochen regieren, ist vor allem dem wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre geschuldet. Noch nie in seiner jüngeren Geschichte erlebte das Land eine solche wirtschaftliche Blüte. Das statistische Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte sich. Mit jährlichen Wachstumsraten von rund durchschnittlich sechs Prozent stieg die Türkei auf in die Liga der G-20, der 20 global grössten Wirtschaftsnationen. Erdogan gilt als der Vater dieses Wirtschaftswunders. Bis zum Jahr 2023, wenn sich die Gründung der Republik zum 100. Mal jährt, will er sein Land sogar in die Spitzengruppe der zehn grössten Volkswirtschaften führen.

Aber das dürfte eine Fata Morgana bleiben. Denn der Boom am Bosporus ist vorerst zu Ende. Und das ist ein grosses politisches Problem für Erdogan. Nicht zuletzt wegen der schwächelnden Wirtschaft verlor die AKP bei der Parlamentswahl im Juni erstmals seit über zwölf Jahren ihre absolute Mehrheit. Auch bei der Neuwahl am Sonntag könnten Erdogan und seine AKP die Wirtschaftsflaute wieder zu spüren bekommen.

Talfahrt der türkischen Lira

Nach dem 2013 erreichten Rekord von 10’822 Dollar werde das Pro-Kopf-Einkommen 2015 erstmals seit der globalen Finanzkrise wieder deutlich zurückgehen, nämlich auf 9’201 Dollar, prognostiziert die staatliche Statistikbehörde Tüik. Die türkische Konjunktur wurde in den vergangenen Jahren vor allem durch den Zustrom ausländischen Risikokapitals befeuert, das die türkischen Banken in Form von Krediten an die Verbraucher weiterleiteten – ein Boom auf Pump also. Doch seit 2013 fliesst massiv Kapital aus der Türkei ab – ein Phänomen, mit dem fast alle Schwellenländer zu kämpfen haben.

Im Fall der Türkei kommen Sorgen über die Bürgerkriege in den Nachbarländern, die wichtige Absatzmärkte waren, sowie der wieder aufflammende Kurdenkonflikt und die wachsende innenpolitische Polarisierung hinzu. Die ständigen Versuche Erdogans, der Zentralbank in die Geldpolitik hineinzureden und niedrigere Zinsen durchzusetzen, wecken ausserdem Zweifel an der Unabhängigkeit der türkischen Währungshüter. Diese Befürchtungen spiegeln sich auch in der rapiden Talfahrt der türkischen Lira, die seit Jahresbeginn rund ein Viertel ihres Aussenwerts gegenüber Euro und Dollar verloren hat. Die Inflation liegt mit fast acht Prozent weit über der Zielvorgabe von fünf Prozent, die Arbeitslosenquote hat den höchsten Stand seit vier Jahren erreicht.

Chronische Strukturschwächen

«Unser Wirtschaftswunder ist eigentlich schon seit der globalen Finanzkrise von 2008 vorbei», sagt die Istanbuler Ökonomieprofessorin Ümit Izmen. Die Politiker hätten das nur viel zu spät gemerkt. «Die extrem hohen Wachstumsraten der Jahre 2010 und 2011 waren nur eine Korrektur, ein Strohfeuer», so die Wissenschaftlerin. Das abgeschwächte Wachstum, das in diesem Jahr voraussichtlich nur drei Prozent erreichen wird, macht Izmen Sorgen, weil ein Schwellenland wie die Türkei einen Zuwachs des BIP von mindestens fünf Prozent brauche, damit die Arbeitslosenquote nicht weiter steigt.

Chronische Strukturschwächen der Wirtschaft, wie die zu geringe Sparquote, das Technologie-Defizit und die hohe Importabhängigkeit der türkischen Industrie «gehen Hand in Hand mit politischen Problemen», so Izmen. Eine katastrophale Finanzkrise wie 2001, als grosse Teile des türkischen Bankensektors zusammenbrachen, sieht die Ökonomin zwar nicht heraufziehen. Das Bankensystem sei heute ungleich stabiler und besser reguliert, die Staatsquote in der Wirtschaft viel geringer. Aber: «Wir stehen vor grossen politischen Herausforderungen.» Geldpolitik, fiskalische Disziplin und Industriepolitik allein reichten nicht aus, sagt Izmen. Wenn die türkische Wirtschaft wieder nachhaltig wachsen soll, müssten die politische Polarisierung beendet, der innere Friede gesichert, das Vertrauen in den Rechtsstaat und die Verfassung wiederhergestellt und der Kurdenkonflikt gelöst werden, sagt die Ökonomin.

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