Seine Bilder gingen um die Welt, sein Weltbild war fragwürdig: Erinnerungen an eine Begegnung mit dem russischen Kultregisseur Andrei Tarkowski.
An einem regnerischen Novemberabend 1983 empfing mich Andrei Tarkowski in einem Londoner Reihenhaus, mürrisch, eingehüllt in eine Decke. Nach mühsamen Verhandlungen mit Mittelsmännern sass vor mir leibhaftig eine Kultfigur jener Jahre.
Der Russe war nur zu Besuch in London, wo er die Oper «Boris Godunow» inszenierte. Die Bedingung für unser Gespräch war: keine politischen Fragen. Als Emigrantin aus der sowjetisch besetzten Tschechoslowakei spürte ich seine Selbstzensur und wünschte, er hätte wenigstens nicht so pathetische Sätze gesagt wie: «Der Mensch ist frei.» Ein Hohn war das angesichts der Diktaturen, aus denen wir kamen.
Es war tragisch zu wissen, dass er all das, was er ausliess, nicht aus Lust am Stilisieren, sondern aus Existenzangst tat. Es ging ihm gesundheitlich schlecht, er wusste von seinem Krebsleiden und hoffte, es im Westen heilen zu können, doch drei Jahre später erlag er ihm. Ein paar Monate nach unserem Treffen kommentierte er seinen Entschluss, im Westen zu bleiben, mit den Worten: «Es ist der hässlichste Augenblick meines Lebens.»
Konservative Sicht der Frau
Ich wählte die Taktik des Angriffs auf seine konservative Sicht der Frau: «In Ihren Filmen gibt es nur die männliche Welt. Die Frau ist aus dem Blickwinkel des Mannes rätselhaft. Ihr ganzes Dasein spielt sich nur in der Relation zum Mann ab. In ‹Solaris› ist die Liebe für Chari ihre einzige Kraft.» Tarkowski war erstaunt: «Die Frau hat wohl ihre eigene Welt, aber diese ist mit der Welt des Mannes, den sie liebt, sehr eng verknüpft. Eine einsame Frau ist eine Abnormität. Daher kommt es, dass in meinen Filmen die Frau entweder fehlt oder nur kraft des Mannes entsteht. Bloss in zwei meiner Filme tritt die Frau auf, in ‹Spiegel› und in ‹Solaris›, und natürlich befindet sie sich in Abhängigkeit zum Mann.»
Tarkowski glaubte, dass es zu einer globalen Katastrophe kommen würde, wenn die Frau diese Rolle ablehne. «Mich erstaunt die Frau, die bestrebt ist, ihre Welt zu erhalten. Der Sinn der weiblichen Liebe liegt in der Fähigkeit der Selbstaufgabe. Das ist die Grösse der Frau. Manche Frauen reden vom Gefühl der eigenen Würde, die man ihnen scheinbar rauben möchte. Sie begreifen nicht, dass sie nur durch die totale Hingabe an den Mann den Ausdruck für ihre Würde finden.»
Ich erinnerte ihn daran, dass er in die Frau all das projizierte, wozu er selbst unfähig war – zur Liebe und Opferbereitschaft. Er antwortete: «Für mich gibt es nichts Unangenehmeres als eine Frau mit einer guten Karriere.»
Je länger ich seinen Ausführungen zuhörte, je öfter seine energische Gattin Larissa den Raum betrat, umso mehr schien es mir, dass Tarkowski über sein Idol einer zarten, dem Mann ergebenen Frau bloss delirierte. Auf einem Foto vom Filmfestival in Cannes 1983 sitzt der Schmächtige im Sessel, und auf seinem Schoss thront mit einem herausfordernden Blick die korpulente Larissa. Geradezu ein Bild des mütterlichen Übergriffs auf den kindlich gebliebenen Sohn.
Freudloser, zerrissener Mann
Tarkowskis Schwester Marina, die 2002 das Buch «Über Tarkowski, Erinnerungen an den Künstler und Menschen» herausgab, sagte mir: «Andrei war seiner Frau hörig, einer groben, habgierigen, ja wahnsinnigen Person.» Marina Tarkowskaia gab ihr die Schuld für alles – für sein angebliches Unglücklichsein und für seinen ihrer Ansicht nach falschen Entschluss zu emigrieren. Auf die Frage, wieso dieser von ihr als «starke Persönlichkeit» bezeichnete Mann es nicht fertig gebracht hatte, ausserhalb von seinem Filmschaffen eigenständig zu handeln, sagte sie: «Die Antwort ist bei Freud zu suchen.»
Tarkowski würde wohl die Bemühung seiner Schwester, ihn zum Opfer zu stilisieren, ablehnen. Wie eloquent er sich in unserem Gespräch auch gab, seine diktatorische Art konnte er nicht verbergen. Er warf mir gar vor, in der Welt herumzureisen, statt bei meinem Mann im Haus zu sitzen.
Tarkowski machte Filme über sein eigenes Taumeln: «Ich spiegle mich in den Filmen.» Was verbirgt sich hinter all den Nebeln und dem ständigen Regen? Nach drei Stunden mit ihm sah ich darin kein Mysterium mehr, sondern den Ausdruck seiner eigenen Verschwommenheit und Unkonkretheit. Er gab sich als Prophet aus, der die Menschheit belehrt – sie mache seit Jahrzehnten alles falsch – und der weiss, worin der «Sinn des Lebens» bestehe.
In seinen langen Ausführungen darüber blieb er abstrakt: «Die heutige Zivilisation ist in eine Sackgasse geraten. Die Zeit, um unsere Gesellschaft geistig umzubauen, fehlt. Die Menschen, die Politiker sind Sklaven des Systems geworden. Der Computer hat die Führung übernommen. Die einzige Hoffnung, die bleibt, ist, dass der Mensch in jenem letzten Moment, in dem er den Computer ausschalten kann, von oben erleuchtet wird.» Tarkowski wälzte die Rettung des Planeten auf Gott ab. Da sass weiss Gott kein Denker vor mir.
Marina Tarkowskaia beklagte, wie einsam ihr Bruder in der Fremde verschieden war. Aber als einen Liebenden habe ich ihn nicht erlebt. Seine Filme sind uns geblieben, die eines zerrissenen Mannes mit Talent, freudlos und wütend. Die Endzeitstimmung, die er beschwörte, betraf aber wohl eher ihn selbst. Am 29. Dezember 1986 starb er in Paris.
Tarkowski-Retrospektive in Basel
Für Ingmar Bergman war Andrei Tarkowski (1932–1986) der grösste Filmemacher der Welt, auch Lars von Trier spricht vom Russen («Stalker», «Solaris») als grosses Vorbild.
Das Philosophicum Basel spiegelt derzeit Tarkowski im Ackermannshof mit einer Ausstellung, Videoinstallationen und mehr. Das Stadtkino Basel zeigt seine Filme.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16.11.12