Aufgrund einer Anzeige des FC Zürich und des Profis Gilles Yapi verurteilt die Staatsanwaltschaft den Super-League-Profi Sandro Wieser für ein Foul mit gravierender Verletzungsfolge. Aus juristischer Sicht und im Sinne des Sports ist das fragwürdig, meint unser Autor.
Die Bilder vom Spiel der Super League am 9. November 2014 sind messerscharf, in Doppelzeitlupe, aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Staatsanwalt muss nichts ermitteln, er hat die Tat in HD-Qualität auf dem Tisch. Der «Treter» auf dem Brügglifeld ist sozusagen bereits im Live-TV überführt.
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau wirft Sandro Wieser nun eventualvorsätzliche einfache Körperverletzung und fahrlässige schwere Körperverletzung zum Nachteil des Yapi Gilles vor.
Die Fernsehbilder:
Die juristische Floskel «eventualvorsätzlich» bedeutet, dass er es bei seiner Spielaktion auf dem Aarauer Brügglifeld für möglich gehalten hat, dass sich Gilles Yapi verletzt. Er soll dies bewusst in Kauf genommen haben, auch wenn ihm dies letztlich unerwünscht war. Die Konsequenzen dieser Schlussfolgerung sind schwerwiegend. Sandro Wieser stünde bei einer Verurteilung wegen eventualvorsätzlichen Handeln ohne jeden Versicherungsschutz da und ist möglicherweise konfrontiert mit hohen Schadenersatzforderungen. Zudem gilt er als vorbestraft und hat einen Eintrag im Strafregister.
Im Fall Wieser fehlt eine taugliche Abgrenzung
Die Berichterstattung zum Foul von Sandro Wieser, den gravierenden Verletzungsfolgen für Gilles Yapi und die Sperre durch die Liga sind unter den verwandten Artikeln aufgelistet. Am 8. Dezember 2014 vermeldete der FC Zürich, dass Strafanzeige gegen Wieser eingereicht wurde. Am 6. Mai 2015 veröffentlichte die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aargau ihren Strafbefehl über eine Busse von 10’000 Franken und einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen.
Wie kommt die Staatsanwaltschaft zu diesem Schluss? Hat Sandro Wieser ihr erklärt, dass es ihm egal gewesen sei, ob sich Gilles Yapi verletzt oder nicht, Hauptsache er gewinnt? Wohl kaum.
Der Gesetzgeber erachtet einen Vorsatz bereits dann für gegeben, wenn jemand die Verwirklichung einer Tat für möglich hält und diese in Kauf nimmt. Das Problem, das auch der Fall von Sandro Wieser exemplarisch aufzeigt, ist aber, dass es – trotz gravierenden Konsequenzen der Unterscheidung – keine wirklich taugliche Abgrenzung zwischen diesem sogenannten Eventualvorsatz und der milderen Tatform, der sogenannten bewussten Fahrlässigkeit, gibt.
Die Konsequenz der Unterscheidung ist aber keineswegs gering. Fahrlässigkeitsdelikte führen in der Regel nicht zum Verlust des Versicherungsschutzes und sie werden auch weit weniger hoch bestraft.
Bewusste Fahrlässigkeit und Eventualvorsatz stimmen auf der Wissensseite überein. In beiden Fällen ist dem Täter die Möglichkeit einer Verletzung bewusst. Die entscheidende Differenz liegt auf der Willensseite. Wer handelt und darauf vertraut, dass nichts passieren werde, handelt nur fahrlässig. Wer sich sagt, «mag es so oder so ausgehen, ich handle», handelt mit Eventualvorsatz.
Wie will nun die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau wissen, ob Sandro Wieser bei seinem Einsatz im Spiel ernstlich damit rechnete, dass sich sein Gegenspieler verletzt oder ob er bei seinem Einsatz einfach nur darauf vertraute, dass schon nichts passieren werde? Die Bilder können auf diesen inneren Vorgang auch in HD keine Antwort geben. Diese Abgrenzung ist eines der schwierigen Beweisprobleme im Strafrecht.
Wohl das einzige wirklich taugliche Abgrenzungskriterium wäre, zu prüfen, ob das Verhalten von Sandro Wieser dergestalt war, dass man ihn auch ohne Verletzung des Gegners verurteilen müsste. Also auch, wenn Yapi sich noch hätte wegdrehen können und nichts passiert wäre. Dann lediglich wegen versuchter einfacher Körperverletzung.
Diese Frage offenbart die ganze Problematik des Entscheids aus Aarau.
Jeder harte Zweikampf eine versuchte Körperverletzung?
Wer selber unten auf dem Platz stand, weiss genau, wie schnell es geht, wie wenig Zeit ist, um sich für oder gegen eine Aktion zu entscheiden.
Jedes einigermassen harte Einsteigen in einem Fussballspiel, welches letztlich einen Kampf mit den Füssen um einen Ball darstellt, müsste nach diesem Ansatz jeweils die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen versuchter Körperverletzung zur Folge haben. Jedes Mal, wenn ein Spieler im letzten Moment noch aufspringen kann, müsste sofort ein Verfahren wegen versuchter Körperverletzung eröffnet werden, denn das Unrecht wäre letztlich dasselbe.
Müssen wir also zukünftig Fussballspiele verbieten, wegen der Gefahr drohender Straftaten im Gewaltbereich?
Nein, das Strafrecht hat beim Spiel um Ball, Ruhm und Ehre auf dem Fussballplatz grundsätzlich nichts verloren. Verletzungen bei Risikosportarten müssen das bleiben, was sie sind, nämlich die unerwünschte Verwirklichung eines stets bestehenden Risikos. Mehr sind Verletzungen, solange es um den Ball geht, nicht.
Bei der Dynamik des modernen Fussballs spielen derart viele Elemente in die Bewegungsabläufe aller Beteiligten hinein, dass es zwangsläufig immer wieder gefährlich werden kann. Jeder Profi ist sich dieser dem Fussball inhärenten Gefahr bewusst. Alle 22 Akteure auf dem Platz wirken insofern an einer 90-minütigen gemeinsamen Selbstgefährdung mit. Gilles Yapi und Sandro Wieser genauso wie Neymar und Lionel Messi – und diesen Sommer alle Teilnehmer an den vielen «Grümpelis».
Spieler nehmen das Risiko freiwillig und bewusst auf sich
Richtig ist deshalb, wenn solche Sportverletzungen weder zivil- noch strafrechtliche Folgen haben. Der Spieler hat dieses Risiko freiwillig und bewusst auf sich genommen, und damit sollte es sein Bewenden haben, zumindest wenn es im Spielgeschehen passiert ist. Jemandem, der in der Hitze des Gefechts grob foult, ein Vorsatzdelikt zu unterstellen, ist falsch, und auch eine Untersuchung wegen fahrlässiger Tatbegehung ist unnötig.
Zwei mit Basler Vergangenheit: Gilles Yapi (links) spielte 2010 bis 2013 für den FCB, Sandro Wieser (rechts) von 2006 (Juniorenzeit) bis 2012, kam aber nur zu zwei Einsätzen im Fanionteam. (Bild: Keystone/Freshfocus)
Es ist Teil des Fussballs und damit Bestandteil des bekannten Risikos, dass es zu Spielregelverletzungen kommt. Benannt werden sie nach dem schönen englischen Begriff eines «Fouls». Fouls werden sanktioniert mit Freistössen, Penaltys, gelben und roten Karten bis hin zu Spielsperren. Teil der Regeln ist somit auch, dass geregelt ist, wie Regelverstösse sanktioniert werden.
Jedermann, der sich auf einen Fussballplatz begibt, und sei es nur bei einem Grümpelturnier, weiss deshalb auch, dass solche Regelverstösse vorkommen, auch grobe. Anders als bei der Wartung eines Flugzeuges, des Durchführens einer Operation oder anderen Tätigkeiten, ist die Einhaltung der Regeln nicht kompromisslos geboten, Regelverstösse, auch grobe (Sorgfaltspflichtverletzungen) sind beim Fussballspiel spielimmanent und, solange sie im konkreten Spiel geschehen, kein Fall für den Strafrichter.
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Christian von Wartburg arbeitet als Partner in der Kanzlei Janiak, Freivogel und Partner in Binningen, ist spezialisiert auf Strafrecht und wurde von der TagesWoche für diesen Beitrag angefragt. Fussball gespielt hat von Wartburg in der 2. Liga, mit Arthur von Wartburg, der von 1976 bis 1984 Profi beim FC Basel war, ist er weder verwandt noch verschwägert.