Die französischen Sozialisten nehmen Kurs nach links: Der «Rebell» Benoît Hamon hat den ersten Durchgang der parteiinternen Primärwahl für sich entschieden. Er vergleicht sich mit dem US-Demokraten Bernie Sanders und dem britischen Labor-Chef Jeremy Corbyn.
Er hat etwas von einem Hobbit: Mit grossen Ohren und kleiner Statur, einem sanften, aber unbeugsamen Wesen wirkt Benoît Hamon stets etwas fehl am Platz im Scheinwerferlicht. TV-Auftritte mit perfekt sitzender Krawatte sind nicht seine Sache.
Am Sonntagabend, als der 49-jährige Bretone überraschend den ersten Durchgang der sozialistischen Primärwahlen gewonnen hatte, musste er sich zwischen Türrahmen und Leibwächtern durchzwängen, um überhaupt auf das Rednerpodest zu gelangen. Dort sichtete er mit nervösen Fingern seinen Zettelsalat, um lehrerhaft seine sozialen wie ökologischen Prioritäten aufzuzählen: ein Grundeinkommen für alle und eine Energiewende mit Abkehr vom französischen Atomkurs.
Im Wahlkampf hatte Hamon klargemacht, dass er die «neue Linke» in Frankreich verkörpern will – wie Bernie Sanders in den USA, Jeremy Corbyn in England oder Podemos in Spanien. Der ehemalige Bildungsminister ist ein «Frondeur» (Rebell) vom linken Flügel des Parti Socialiste. Erbittert bekämpfte er das liberalisierte Arbeitsrecht, das die Regierung von Präsident François Hollande und Premier Manuel Valls über die Köpfe der Parlamentarier in Kraft gesetzt hatten.
Valls warf Hamon 2014 zusammen mit Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg aus der Regierung: Zu unloyal, zu aufsässig erschienen ihm die beiden Widerspenstigen vom linken Parteiflügel. Jetzt treffen sich der Entlassene und der ehemalige Boss zum direkten Duell: Hamon hat sich am Sonntag mit 36 Prozent der Stimmen für das Finale der parteiinternen Primärwahl qualifiziert, Valls mit 31 Prozent der Stimmen. Und der unscheinbare Rebell ist plötzlich der Favorit, während sich der medienversierte Politprofi Valls zum Herausforderer degradiert sieht.
«Wir müssen von den alten Rezepten und Methoden wegkommen, wir müssen neue Wege gehen», lautet die Strategie von Benoît Hamon.
Der Ex-Premier ist noch am Wochenende zum Angriff übergegangen: Das von Hamon geforderte Grundeinkommen sei schlicht «unrealisier- und unfinanzierbar», sagte Valls, um sich als Vertreter der «republikanischen Ordnung und der Autorität des Staates» gegen die Terrorbedrohung zu präsentieren. Und während die radikale Linke – gemeint waren Hamons Vorbilder Sanders oder Corbyn – den «Komfort der Opposition» vorzögen, wolle er die Präsidentenwahlen wirklichen gewinnen und Regierungsverantwortung ausüben.
Hamon reagiert unaufgeregt wie immer: «Wir müssen von den alten Rezepten und Methoden wegkommen, wir müssen neue Wege gehen», konterte er am Sonntagabend vor seinen euphorischen Fans in einer plötzlich viel zu engen Wahlkampfzentrale in Paris.
Ganz anders war die Stimmung im Hauptquartier von Valls: Obwohl der im Dezember zurückgetretene Regierungschef den Einzug ins Primärwahlfinale geschafft hat, machen seine Anhänger lange Gesichter. Da der Drittplatzierte Montebourg (18 Prozent) zur Wahl Hamons aufruft, wird Valls die grösste Mühe haben, die sicher geglaubte Investitur seiner Partei für die Präsidentenwahlen noch zu erhalten. Rein rechnerisch kommt Hamon allein schon mit den Stimmen Montebourgs auf 54 Prozent der Stimmen. Am Montag rief auch die einflussreiche Ex-Parteichefin der französischen Sozialisten, Martine Aubry, zur Wahl Hamons auf.
Entschieden ist das Rennen aber noch nicht. In ersten Wahlgängen stimmen französische Sozialisten meist mit dem «Herz», in der Endrunde aber wieder mit der «Vernunft». Die tiefe Wahlbeteiligung im ersten Primärwahlgang – nur 1,6 Millionen Abstimmende bemühten sich in die 7300 Wahllokale – lässt die Analysten annehmen, dass viele Sozialisten des pragmatischen Flügels am Sonntag zu Hause blieben.
Erhebt die Faust als pragmatischer Linker: Manuel Valls. (Bild: REUTERS/Charles Platiau)
Die Frage ist indes, warum. Glauben sie schon nicht mehr an den Sieg eines sozialliberalen Kandidaten?
Gegen diesen Defaitismus kämpfte Valls am Sonntagabend an: Ein linker Sieg bei der Präsidentenwahl sei in Trump- und Putin-Zeiten nicht nur bitter nötig, rief er dramatisch aus, sondern auch durchaus «möglich». Aber es gibt auch eine andere Annahme: Blieben die Realo-Sozialisten am Sonntag vielleicht zu Hause, weil sie bereits auf ein anderes Pferd setzen?
Viele liebäugeln mit Emmanuel Macron, dem abtrünnigen Ex-Wirtschaftsminister, der gar nicht erst an der Vorausscheidung der Sozialisten teilnimmt. Der linke Ex-Banker will im April unabhängig von jeder Urwahl ins Präsidentschaftsrennen steigen. Und laut Umfragen (siehe Info-Box) ist Macron von allen Linkskandidaten am ehesten in der Lage, den Rechtskandidaten François Fillon und Marine Le Pen gefährlich zu werden. Hamon und Valls sind dagegen abgeschlagen.
Die fünfjährige Amtszeit von François Hollande lässt die gesamte Linke in einem deprimierten, ja desolaten Zustand zurück.
Wem auch immer die sozialistischen Wähler heute zuneigen: Valls hat nur eine Woche Zeit, sie auf seine Seite zu ziehen. Dass er in der Wahl von Sonntag wohl nur eine halbe Million Parteigänger oder Sympathisanten hinter sich scharte, lässt tief blicken: Es zeigt sich, dass die fünfjährige Amtszeit von François Hollande – und seines Sekundanten Valls – die gesamte Linke in einem deprimierten, ja desolaten Zustand zurücklässt.
Zudem ist der Parti Socialiste gespaltener denn je zwischen proeuropäischen Reformisten à la Valls und globalisierungsfeindlichen Austeritätsgegnern wie Hamon. Der interne Wahlkampf wird diese «unversöhnliche» Kluft, wie Valls einmal selber erklärt hatte, diese Woche nur noch vertiefen.
Der Sieger vom kommenden Sonntag wird auf jeden Fall unter diesem Grabenbruch leiden. Gewinnt Valls, werden viele Linkssozialisten eher dem Kandidaten der «Linken», Jean-Luc Mélenchon, zuneigen, der in den Umfragen vor allen Sozialisten liegt. Und wenn Hamon das Rennen macht, werden noch mehr sozialistische «Realos» zu Macron überlaufen.
Egal, wie man die Dinge betrachtet: Der Parti Socialiste, der zu Zeiten von François Mitterrand oder Lionel Jospin die französische Politik noch beliebig dominiert hatte, droht im französischen Präsidentschaftswahlkampf schlicht aufgerieben zu werden.
Diese findet am kommenden Sonntag statt. Die eigentlichen Präsidentenwahlen folgen Ende April (erster Wahlgang) und Anfang Mai (zweiter Wahlgang). Bereits jetzt stehen vier prominente Bewerber fest. In einer Umfrage der Zeitung «Le Monde» von letzter Woche erhielten Marine Le Pen (Front National) 25 Prozent, François Fillon (Republikaner) 24 Prozent, Emmanuel Macron (Mittelinks) 20 Prozent und Jean-Luc Mélenchon (Die Linke) 15 Prozent. Der sozialistische Kandidat landete auf dem fünften Platz: Valls werden nur 10 Prozent gutgeschrieben, Hamon 7 Prozent. Im Finale würde Fillon Le Pen laut allen Szenarien schlagen. (brä)