«Der Gang zu uns ist mit Scham verbunden»

Nicole Wagner, Leiterin der Basler Sozialhilfe, hätte selbst Hemmungen, Sozialhilfe zu beziehen. Aber auch sie war schon einmal als Arbeitslose auf staatliche Hilfe angewiesen.

«Wir haben grosse Mühe, geeignetes Personal zu rekrutieren». Nicole Wagner, Leiterin der Basler Sozialhilfe, kämpft mit Personalproblemen. (Bild: Basile Bornand)

Nicole Wagner, Leiterin der Basler Sozialhilfe, hätte selbst Hemmungen, Sozialhilfe zu beziehen. Aber auch sie war schon einmal als Arbeitslose auf staatliche Hilfe angewiesen.

Seit zwei Jahren ist Nicole Wagner Leiterin der Basler Sozialhilfe. In dieser Zeit hat sie ein gescheitertes ­Reformprojekt ihres Amtsvorgängers «korrigiert», da dieses zu einer Mehrbelastung der Angestellten geführt hatte. Noch sind die Probleme nicht gelöst. Die Arbeitslast ihrer Angestellten ist noch immer übermässig hoch, ebenso die Personalfluktuation. Im Gespräch erklärt Nicole Wagner, wa­rum sie so grosse Mühe hat, geeignetes Personal für ihre Amtsstelle zu finden.

Frau Wagner, die Zahl der Sozialhilfebezüger stieg letztes Jahr erneut, die Kosten nahmen um zehn Millionen zu, Sie mussten in Ihrer Abteilung mehr als ein ­Dutzend neue Stellen schaffen. Können Sie noch ruhig schlafen?

Ja, ich kann gut schlafen. Ich mag es, gefordert zu sein – sonst hätte ich ­diese Stelle als Leiterin der Sozialhilfe nicht antreten dürfen.

Nicole Wagner
Die 53-jährige Nicole Wagner leitet seit zwei Jahren die Sozialhilfe Basel-Stadt. Zuvor war sie Geschäftsführerin des Wohn Werk ­Basel. Kurz nach ihrer Lehre als Damenschneiderin ­begann sie als Sozialarbeiterin zu arbeiten und half beim Aufbau des Nottelefons von vergewaltigten Frauen mit. Anschliessend holte sie per Fernstudium die Matur nach und studierte Jura. Wagner war Mitglied der Progressiven Organisationen Basel, später von BastA!. Mit 30 Jahren rückte sie für die heutige SP-Ständerätin Anita Fetz in den Grossen Rat nach. Insgesamt gehörte sie dem Basler Parlament zehn Jahre an. 1999 verabschiedete sie sich aus der Politik. Wagner lebt im Bachletten-Quartier und ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern.

Wie viele Sozialhilfe-Empfänger gibt es derzeit in Basel?

Im Moment empfangen 8’217 Leute Leistungen von uns, das entspricht rund sieben Prozent der Bevölkerung. 2012 betrug die Zahl der kummulierten Zahlfälle  rund 11’500.

Basel belegt diesbezüglich schon seit mehreren Jahren einen der Spitzenplätze. Woran liegt das?

Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Als Stadtkanton erfüllen wir Zentrumsfunktionen. So zieht eine Stadt beispielsweise mehr Einpersonenhaushalte an, als dies eine ländliche Gemeinde tut. Diese fallen statistisch stark ins Gewicht, da solche Personen häufig kein soziales Netz ­haben, das sie auffangen kann. Ausserdem gibt es in Basel vergleichsweise günstigen Wohnraum. Hier ­können sich also auch Personen niederlassen, die keiner qualifizierten ­Arbeit nachgehen und nur ein geringes Einkommen haben.

In den letzten Jahren wurde aber immer wieder Kritik laut, dass zahlbarer Wohnraum fehle. Ein Widerspruch?

Die bezahlbaren Wohnungen sind auch bei uns knapp, das stimmt. Im Vergleich ist der Wohnraum in ­Basel aber dennoch günstiger als in anderen Städten wie zum Beispiel Zürich.

Muss die Sozialhilfe also immer mehr Geld ausgeben für die Mieten ihrer Klienten?

Ja, wir mussten die Mietzinsbeiträge leicht nach oben anpassen. Dabei ist aber grosse Vorsicht geboten, zumal der Markt umgehend reagiert. Wenn wir unseren Klienten höhere Beiträge zukommen liessen, dann wären die günstigsten Wohnungen schon bald entsprechend teurer.

«Die Belastung unserer An­gestellten in fachlicher und mengenmässiger Hinsicht ist im ­Moment sehr hoch.»

Nochmals zur Arbeitsbelastung Ihrer Angestellten: Wie viele Dossiers betreut einer Ihrer Mitarbeiter im Durchschnitt?

Eine Richtgrösse, die für einen Sachbearbeiter zu bewältigen ist, sind 120 Dossiers. Natürlich kann es aber passieren, dass diese Zahl aufgrund ­eines Anstiegs der Fallzahlen oder von Personalfluktuationen überschritten wird. Für die Sozialarbeiter ist die Zahl der Fälle von Fallführung wesentlich tiefer, da ihre Aufgabe und Fachlichkeit eine andere Form von Unterstützung beinhaltet.

Und diese Werte können Sie ­einhalten?

Nicht immer, im Moment sind wir darüber. Die Belastung unserer Angestellten in fachlicher und ­mengenmässiger Hinsicht ist im ­Moment sehr hoch.

Wir haben Quellen, die sagen, dass die aktuelle Fallbelastung der Sozialarbeiter keine genaue Prüfung der Zahlfälle erlaube.

Es ist schon so, dass man ohne Zeitdruck mehr und gründlicher abklären kann. Wir sind bestrebt, die Dossierzahlen wieder auf einen guten Wert zu bringen. Die Sozialhilfe hat ein dynamisches Budget. Bei einem Anstieg der Fallzahlen können wir Budget und Personalbestand erhöhen. Umgekehrt gilt allerdings das Gleiche: Sinken die Fallzahlen, müssen wir die Stellen wieder streichen.

Warum ist denn die Fallbelastung Ihrer Angestellten trotz dieses «dynamischen Budgets» zu hoch?

Die Fallzahlen variieren ständig, also sind wir konstant in der Situation, dass wir anpassen müssen. Ausserdem kann die Arbeit bei der Sozialhilfe sehr belastend sein, was dazu führt, dass einzelne unserer Angestellten nach ­einer gewissen Zeit eine neue Stelle ­suchen. Da die Rekrutierung und ­Einarbeitung neuer Mitarbeitender äus­serst anspruchsvoll und zeitaufwendig ist, sind wir gegenüber den Fallzahlen zeitweise im Verzug. ­Eigentlich müssten wir konstant leicht überbesetzt sein.

Dann ist die Sozialhilfe also falsch aufgestellt?

Nein, es gehört zur Sozialhilfe, dass sie ununterbrochen in Bewegung ist und sich permanent anpassen muss. Wir sind aber sehr bemüht, die Personalfluktuation zu senken. Denn mit erfahrenen Mitarbeitenden kehrt auch Ruhe ein und Phasen der hohen Be­lastung sind besser auszuhalten. Wir sind damit recht erfolgreich, vor ein paar Jahren war das Problem durchaus gravierender.

Sie haben schon länger mit Langzeitkrankheitsabsenzen unter Ihren Angestellten zu kämpfen. Hat das auch mit der übermässigen Belastung zu tun?

Langzeitkranke gibt es in jedem ­Betrieb, wir befinden uns da im Durchschnitt.

Ausserdem blieben mehrere ­Stellen über längere Zeit unbesetzt, wie Sie gegenüber der ­«Basler Zeitung» gesagt haben. Haben Sie Mühe, Personal zu ­rekrutieren?

Ja, namentlich bei den Sozialarbei­tenden ist es nicht einfach, geeignetes Personal zu rekrutieren. Einzelne Fachhochschulen richten ihren Fokus nicht unbedingt auf die Arbeit der ­Sozialhilfe. Dies ist einer der Gründe, warum das Interesse der Studierenden, nach ihrem Abschluss bei uns zu arbeiten, gering ist.

«Wir haben grosse Mühe, Personal zu rekrutieren. Für Berufseinsteiger sind wir nicht attraktiv.»

Ist die Sozialhilfe Basel denn kein attraktiver Arbeitgeber?

Für junge Leute sind wir sicher nicht die erste Wahl. Berufseinsteiger wollen meist mit Jugendlichen arbeiten oder an einem Ort, wo sie mehr Gestaltungsmöglichkeiten haben, also nicht Beratung im Pflichtkontext ausüben müssen. Wir müssen uns bemühen, gegen aussen auch die positiven Seiten der Sozialhilfe aufzuzeigen. Im öffentlichen Diskurs dominieren die Pro­bleme gegenüber den Erfolgsmeldungen, die es ja auch gibt, etwa bei der Senkung der Jugendarbeits­losigkeit.

Müssten Sie sich nicht in die ­Ausbildung einmischen, wenn die Sozialhilfe bei Berufsein­steigern derart unbeliebt ist?

Ich sitze im Beirat der Fachhochschule Nordwestschweiz. Wir ­lassen dort ­unsere Anliegen einfliessen.

Sie haben ein Optimierungs­projekt Ihres Amtsvorgängers rückgängig gemacht. Weshalb?

Ich würde das anders formulieren. Jede grössere Umstrukturierung muss irgendwann darauf untersucht werden, ob sie zu einer Verbesserung ­geführt hat. Das haben wir getan, und die Analyse hat gezeigt, dass Korrekturen nötig sind.

Zuerst macht man eine Reform, dann wird diese wieder rück­gängig gemacht. Da sind Reibungsverluste beim Personal doch programmiert.

Der Wunsch zu dieser Korrektur ging zu grossen Teilen vom Personal aus. Wir ziehen also mit dem Personal am gleichen Strick.

Hat man bei dieser Reform am Personal vorbei geplant?

Auch dies fällt in die Verantwortung meines Vorgängers, weshalb ich die ­Situation nur schwer beurteilen kann. Unsere Analyse hat jedenfalls Handlungs- und Korrekturbedarf ­gezeigt. Ich will das aber niemandem zum Vorwurf machen. Eine nachträgliche Überprüfung gehört meines Erachtens zu jedem Projekt dieser Grössen­ord­nung. Wir wollen aber nicht nur die Prozesse optimieren, sondern auch eine Veränderung der Haltung gegenüber den Klienten ­herbeiführen. Ziel ist es, von einem verwaltenden zu ­einem bedarfs- und ressourcenorientierten Dienstleister zu werden.

Mehrere Firmen haben vor ­Kurzem einen Stellenabbau angekündigt. Entspannung ist also nicht in Sicht.

Wenn der Trend anhält, dass niederschwellige Arbeitsplätze verloren gehen, dann haben wir zwangsläufig mehr Leute, die von der Sozialhilfe ­abhängig sind. Ich stelle aber fest, dass eine Tendenz besteht, dass KMU entstehen, die solche Arbeitsplätze schaffen und damit in die Bresche springen.

«Gehen niederschwellige Arbeitsplätze verloren, haben wir zwangsläufig mehr Menschen in der Sozialhilfe.»

Gibt es eine Klientel, die ­besonders schwierig ist und ­Ihnen ­Sorgen bereitet?

Mir bereiten alle Klienten Sorgen. Ich beneide niemanden, der von der Sozialhilfe abhängig ist. Der Gang zu uns ist mit viel Scham ­verbunden. Den meisten Leuten fällt es deshalb auch sehr schwer, sich bei uns anzumelden.

Wie sieht ein klassischer Sozialhilfefall aus?

Einpersonenhaushalte und alleinerziehende Frauen sind die beiden grössten Gruppen. In letzter Zeit stellen wir aber auch fest, dass wir mehr Klienten mit gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen haben. Das ist zunehmend ein Problem, denn diese Personen sind sehr schwierig in die Berufswelt zu integrieren.

Das heisst, diese Personen bleiben meistens in der Sozialhilfe?

Für Menschen mit gesundheitlichen und psychischen Problemen sind die Chancen, einen Job zu finden, sehr ­gering. Das Gleiche gilt für Menschen ab 55 aufwärts. Ein Grossteil unserer Klienten bleibt aber ein bis zwei Jahre bei uns, andere auch länger.

Die Arbeitslosigkeit in den süd­lichen Ländern Europas zwingt viele Menschen, auszuwandern. Merkt man das in Basel bereits?

Wir spüren das noch nicht gross. Unter den rund 5’300 Dossiers befinden sich 67 Portugiesen und vier Griechen. Das ist wirklich marginal. Aber solche Dossiers könnten natürlich künftig zunehmen.

«Manche Medien schüren die Ängste der Bevölkerung vor Asylsuchenden.»

Immer, wenn die Stadt ankündigt, in einem Quartier eine Unterkunft für Asylsuchende einzurichten, wird Widerstand laut. Woher kommen diese Ängste?

Es sind nicht zuletzt die Medien, die das Thema hochkochen.

Sie machen es sich einfach.

Ich möchte den Medien nicht die Schuld an allem geben. Aber es gibt nun mal gewisse Medien, die dieses Thema exzessiv bespielen. Dass der Mensch auf etwas Fremdes mit Abwehr reagiert, ist normal. Wenn das Thema jedoch medial noch angeheizt wird, dann wird die Angst noch grösser. Wir nehmen die Sorgen der Anwohner ernst. Im Alltag zeigt sich aber eigentlich immer, dass die Asylunterkünfte problemlos sind für die Nachbarschaft und die Ängste verschwinden.

Sie politisierten einst für die Progressiven Organisationen ­Basel (POB) und waren Gründungsmitglied von BastA!. Steht Ihnen diese Partei auch heute noch nahe?

Mit der aktiven Politik habe ich vor mehr als zehn Jahren abgeschlossen.

Sie reden nicht gerne über diese Zeit?

Es wäre meinem Job nicht dienlich, würde ich mich politisch exponieren.

«Ich bin Idealistin.»

Es nimmt uns aber wunder, ­weshalb Sie damals den POB beitraten.

Ich bin vom Grundtypus her sicherlich visionär und idealistisch. Insofern entsprachen mir die POB damals sehr. Auch wegen den Themen Gleichstellung und Antidiskriminierung fühlte ich mich in dieser Partei am besten aufgehoben. Zudem fand ich die POB auch intellektuell sehr anregend.

Sind Sie bürgerlicher geworden?

In gewissen Sachen bin ich pragma­tischer geworden. Man verändert sich mit den Erfahrungen, die man macht, und lernt dazu. Aber einen gewissen Idealismus habe ich sicher immer noch bewahrt.

Anfang 30 holten Sie per ­Fern­studium die Matur und dann das Studium nach, weil ­ Ihnen als ­Damenschneiderin die «intellektuelle Herausfor­derung» fehlte. Litten Sie sehr ­darunter?

Ich litt nicht darunter. Ich war jedoch schon immer eine Person, die die intellektuelle Herausforderung mochte – und diese Herausforderung war im ­Beruf der Damenschneiderin schon nicht vorhanden. Es war nicht zuletzt meine Zeit bei den POB, die mich schliesslich dazu bewog, das Stu­dium nachzuholen.

Sie haben mit Menschen zu tun, die ganz unten angekommen sind. Wie sich das anfühlt, wissen Sie aber nicht.

Zwischen 21 und 29 musste ich als­ Damenschneiderin ebenfalls mit sehr wenig Geld leben.

Aber arm waren Sie nicht.

In die Sozialhilfe musste ich nie. Ich glaube auch, dass ich sehr grosse Scham gehabt hätte, Leistungen zu beziehen. Ich hätte wohl versucht, irgendwo Geld auszuleihen. Aber ­diese Möglichkeit muss man ­zuerst haben – ich hätte sie ­gehabt, viele aber nicht. Ich musste einmal stempeln gehen. Das war eine ­wich­tige Erfahrung für mich, auch für meine heutige Arbeit.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 31.05.13

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