Die türkische Luftwaffe bombardiert Stellungen der PKK im Nordirak, die Guerilla antwortet mit Morden und Attentaten. Mittendrin in diesem Konflikt: der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas. Für ihn geht es jetzt um alles – seine Partei, seine Glaubwürdigkeit, seine Freiheit. Ein Porträt von unserem Türkei-Korrespondenten.
«Als ich jung war, dachte ich, ich würde die meiste Zeit meines Lebens im Gefängnis verbringen», sagt Selahattin Demirtas. Keine unrealistische Erwartung für einen türkischen Kurden, der sich als Menschenrechtsanwalt betätigt. Das Gefängnis: Es kann ja noch kommen. Vorerst sitzt Demirtas zwar nicht hinter Gittern, sondern in der türkischen Nationalversammlung – als einer von 80 Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), deren Vorsitz er gemeinsam mit der Kurdin Figen Yüksekdag führt.
Aber jetzt ermittelt die türkische Staatsanwaltschaft gegen das Duo. Demirtas und Yüksekdag werden beschuldigt, Propaganda für die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) gemacht zu haben, die offiziell als Terrororganisation eingestuft werden. Bei einem Schuldspruch müssen sie mit bis zu 24 Jahren Haft rechnen, der HDP könnte ein Verbot drohen.
So machte Demirtas aus der HDP eine Partei, die sich nicht mehr ethnisch definiert, sondern sich öffnet für Angehörige anderer Minderheiten, für Linke und Liberale, für Ökologen und die Gezi-Protestbewegung, für Schwule und Lesben. Frauen, mit und ohne Kopftuch, spielen in der HDP ohnehin eine grössere Rolle als in jeder anderen politischen Partei des Landes.
Nicht nur für die Kurden, auch für viele Türken ist Demirtas ein Hoffnungsträger. «Obama»: Das zeigt, wie hoch die Erwartungen gesteckt sind – und wie gross damit die Fallhöhe ist. Wenn jetzt der Kurdenkonflikt wieder aufflammt, ist das für Demirtas die denkbar grösste Herausforderung.
Er steht zwischen den Fronten: Auf der einen Seite Erdogan und die nationalistischen Hardliner, auf der anderen Seite der militante, kampfbereite Flügel der PKK, dem die Türkifizierung der HDP seit jeher missfiel, weil die Partei damit dem Einfluss der PKK entzogen wird. Auch persönlich geht Demirtas jetzt durch einen schwierigen Prozess der Läuterung und der Bewährung. Dass sein älterer Bruder Nurettin als PKK-Mitglied im Gefängnis sass und jetzt mit der Guerilla in den Bergen des Nordirak lebt, bringt ihm bei den Kurden im Südosten zwar Sympathie ein, denn dort ist die PKK als Massenbewegung tief verwurzelt. In den Augen vieler Türken ist es dagegen ein schwerer Makel.
«Wenn wir heute Frieden schliessen, müssen morgen unsere Kinder nicht sterben.»
Erdogan setzt darauf, dass Demirtas und die HDP zwischen diesen Fronten zerrieben werden. Deshalb schürt er den Konflikt, lässt die Lager der PKK im Nordirak nun wieder bombardieren und erklärt den von ihm selbst angestossenen Friedensprozess für beendet. Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Die PKK antwortet bereits mit Terroranschlägen. Schlimmstenfalls droht der Türkei ein Rückfall in die bürgerkriegsähnlichen Zustände der 1990er-Jahre. Erdogan nimmt das offenbar in Kauf, um seine Macht zu festigen.
Demirtas lässt sich nicht entmutigen, weder durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, noch durch die Tiraden Erdogans oder durch den Terror der PKK-Hardliner: «Es ist nie zu spät, zum Frieden aufzurufen», sagte er am Montag und appellierte an die Armee und an die PKK, «den Finger vom Abzug zu nehmen.» Und fand ein gutes Argument dafür, eines das beide Seiten gleichermassen trifft: «Wenn wir heute Frieden schliessen, müssen morgen unsere Kinder nicht sterben.»