Für die einen ist er ein Stalinist, für die anderen das letzte Bollwerk gegen den «Ultraliberalismus»: Gewerkschaftsboss Philippe Martinez führt die Streikfront in Frankreich an.
Eigentlich hätte es die französische Regierung wissen müssen: An Philippe Martinez kommt sie nicht so schnell vorbei. Als der ehemalige Renault-Arbeiter 2015 Generalsekretär der wichtigsten französischen Gewerkschaft Confédération Générale du Travail (CGT) wurde, hatte er seine Weltanschauung offen dargelegt. All das, was heute die Wirtschaftsabläufe präge, Globalisierung und Freihandel, Liberalismus und Austerität, Börsenprofite für die Reichen und Jobunsicherheit für die Arbeiter, das wolle Martinez ganz einfach nicht. «Das ist nicht unsere Welt. Wir wollen eine andere.»
Jetzt, gut ein Jahr später, lässt der Sohn spanischer Flüchtlinge den Worten Taten folgen. Seine unzimperliche CGT blockiert Benzinlager, sperrt Häfen, bestreikt – wie am Mittwoch geschehen – Bahnlinien. All das ist das Werk von Philippe Martinez. Der 55-jährige Sohn spanischer Republikaner, die schon vor seiner Geburt vor dem Franco-Regime nach Paris geflüchtet waren, führt die seit Wochen dauernden und unüblich harten Proteste gegen die Arbeitsrechtsreform der Regierung an.
Hinter seinem dicken Schnurrbart argumentiert Martinez wortreich, konsequent und in der Sache ebenso stur wie sein Gegenüber, der sozialistische Premierminister Manuel Valls, der ebenfalls einen spanischen Vater hat und ein Anhänger des FC Barcelona ist. Beide rücken keinen Millimeter von ihrer Position ab. Martinez erklärt in aller Ruhe, er vertrete nun einmal die Interessen der Arbeitnehmer, und die Aufweichung der 35-Stunden-Woche und des Kündigungsschutzes gehöre nun bestimmt nicht dazu.
Brennende Autoreifen
Der Unternehmerverband Medef sieht das anders, bezeichnete doch sein Vorsteher Pierre Gattaz die CGT-Streikposten als «Minderheiten, die sich ein wenig wie Gauner, wie Terroristen, benehmen». Martinez, der 1987 in die französische KP eingetreten war, kündigt eine Gerichtsklage gegen Gattaz an, hält sich aber verbal zurück. Er weiss, dass ihn Pariser Medien als «Maximo Líder» betiteln. Das vor allem, seit er vor einer Woche von den Tageszeitungen im Land den Abdruck eines CGT-Kommuniqués verlangte. Nur die «Humanité» als einstiges KP-Blatt machte mit. Alle anderen Zeitungen hinderte Martinez für einen Tag am Erscheinen. «Le Monde» nannte ihn gar einen «Stalinisten».
Laut einer Umfrage haben 67 Prozent der Franzosen eine «schlechte Meinung» von dem CGT-Sekretär. Das ist noch lange kein Grund für ihn, die Blockaden abzubrechen. Martinez weiss, dass die Franzosen mehrheitlich auch gegen die Arbeitsreform sind, und dass sie vor allem den schwachen Präsidenten François Hollande für den wirtschaftlichen Schlamassel verantwortlich machen. So lässt es sich der CGT-Boss auch nicht nehmen, selbst einen brennenden Autoreifen auf eine Strassensperre zu werfen.
Viele «Cégétistes» um Martinez sind nur deshalb so radikal, weil sie gegen den eigenen Niedergang kämpfen.
Sturheit ist aber selten Stärke. So wild entschlossen Martinez zur Sache geht, so schwach ist seine Position – persönlich wie politisch. Seinen Chefposten verdankt er nur einem Skandal um Luxusausgaben seines Vorgängers. Die Wahl im Februar 2012 gelang ihm dank seiner Lebensgefährtin, die den einflussreichen Pharma-Sektor der CGT leitet; indem sie in der internen Abstimmung für Martinez votierte, setzte sie sich über die anderslautende Vorgabe ihrer Abteilung hinweg.
Vor allem aber steht die CGT selbst mit dem Rücken zur Wand. Bei den nächsten Betriebswahlen droht sie die Stellung als stärkste Landesgewerkschaft an die reformwillige, den Sozialisten nahestehende CFDT zu verlieren. Die an den Massendemos aus den Lautsprecherboxen dröhnenden CGT-Parolen täuschen nicht darüber hinweg, dass die französischen Gewerkschaften insgesamt nur noch acht Prozent der Erwerbstätigen vertreten – dreimal weniger als im EU-Schnitt. Die CGT als älteste und grösste Gewerkschaft vertritt nur noch 2,6 Prozent der französischen Arbeiter und Angestellten. Gerade deshalb geben sich viele «Cégétistes» um Martinez so radikal: Sie kämpfen gegen den eigenen Niedergang.
Kritik hinter vorgehaltener Hand
Dieser harte CGT-Kern stösst aber auch intern auf Kritik: Hinter vorgehaltener Hand meinen viele Reformer, die sozialromantische Verweigerungshaltung bringe so wenig wie die marxistisch verbrämte Zurückweisung des globalen Kapitalismus; bei fünf Millionen Arbeitslosen müssten die Blockaden der französischen Wirtschaft auch auf unorthodoxe Manier gesprengt werden.
Die gemässigteren Cégétistes haben noch ein weiteres Argument: Wie auch Martinez einräumen muss, sind heute ein Viertel der CGT-Sympathisanten Anhänger des rechtsextremen Front National. Die gehen auch auf die Barrikaden, aber nicht für eine rote, sondern eine braune Revolution. Viele alte CGT-Kämpen, die bei den Streikposten noch mit gereckter Faust die Internationale anstimmen, wenn sie den Wasserwerfern der Polizei widerstehen, verschliessen davor schlicht die Augen: Hauptsache, die Gewerkschaft sagt «non».