«Der Novartis Campus ist nicht integrationsfördernd»

Beim Migrationsamt war Andreas Räss unter anderem für Ausschaffungen zuständig. Seit drei Monaten leitet er nun die Integrationsstelle Basel-Stadt. Bunt und vielfältig sei die Stadt – und das sei eine «riesige Chance», sagt der 50-Jährige im Gespräch.

Sieht es als seine Mission an, die bunte Durchmischung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten: Andreas Räss, Basels neuer Integrations-Chef.

(Bild: Nils Fisch)

Beim Migrationsamt war Andreas Räss unter anderem für Ausschaffungen zuständig. Seit drei Monaten leitet er nun die Integrationsstelle Basel-Stadt. Bunt und vielfältig sei die Stadt – und das sei eine «riesige Chance», sagt der 50-Jährige im Gespräch.

Seit dem 1. Juli ist Andreas Räss neuer Leiter der Fachstelle für Diversität und Integration im Präsidialdepartement. In der Basler Verwaltung arbeitet der Zürcher aber schon seit 15 Jahren – zuletzt war er stellvertretender Leiter des Amts für Migration. Der 50-Jährige hat den Job von Nicole von Jacobs übernommen, die sich nach vier Jahren im Amt frühpensionieren liess. Geprägt wurde das Amt lange von Thomas Kessler, der heute Räss‘ Vorgesetzter ist.

Ein Gespräch über Ausländer, die sich nicht integrieren wollen, Expats, die er nicht zur Integration zwingen will, und den Novartis Campus als Integrationskiller.

Andreas Räss, bis vor wenigen Monaten arbeiteten Sie beim Migrationsamt und waren dort für Ausschaffungen zuständig. Nun sind Sie Integrationsbeauftragter. Der Seitenwechsel sorgte bei den Linken für Kritik. Hat Sie das überrascht?

Ich war schon erstaunt darüber. Die Kritik ist unbegründet, zumal Ausschaffungen nur einen kleinen Teil meiner Arbeit beim Migrationsamt ausmachten. Ausserdem hatte ich dort bereits sehr viel mit dem Thema Integration zu tun. So habe ich mit Thomas Kessler zusammen das Integrationsgesetz ausgearbeitet. Es gab aber auch durchaus positive Reaktionen auf meine Wahl, dies vornehmlich von Personen, die mich bereits persönlich kennen, wie beispielsweise von SP-Grossrat Mustafa Atici oder diversen Exponenten von Migrantenvereinen.

Inwiefern profitieren Sie in Ihrer jetzigen Funktion von den im letzten Job gemachten Erfahrungen?

Ich habe schon ein Netzwerk in diesem Bereich. Und ich bin natürlich mit den rechtlichen Grundlagen bestens vertraut.

Ihr Vorgesetzter Thomas Kessler wurde in der Funktion, die Sie heute innehaben, einst schweizweit als «Mister Integration» ­berühmt. Es wird nicht einfach für Sie, das Amt zu prägen – erst recht, wenn man bedenkt, dass Ihre Vorgängerinnen Elisa Streuli und Nicole von Jacobs nicht gross wahrgenommen wurden und auch nicht wirklich lange im Amt geblieben sind.

Thomas Kessler hat als Integrationsbeauftragter nie um den heissen Brei geredet, sondern er hat die Chancen, aber auch die Probleme der Migration beim Namen genannt. Das hat ihn populär gemacht. Ich kenne Thomas Kessler seit 15 Jahren und pflege ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm: Wir ergänzen uns gut. Ich kann sicher viel von seiner Vorarbeit profitieren.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation für Ausländerinnen und Ausländer in Basel?

Wir haben einen Ausländeranteil von 35 Prozent. Hinzu kommen rund 35’000 Grenzgänger. Für Basel ist das eine riesige Chance: Basel ist bunt, Basel ist vielfältig. Die Themen Migration und Integration positiv zu besetzen, ist unsere grosse Herausforderung. Wir sind gut aufgestellt, ich profitiere von guter Vorarbeit und fortschrittlichen Rahmenbedingungen – ich übernehme sozusagen ein gemachtes Nest: Basel-Stadt hatte schon immer eine Vorreiterrolle in der Integration und Migration. Es wurde also schon viel getan.

Wo wollen Sie Schwerpunkte setzen?

Ein Schwerpunkt ist sicher, die bunte Durchmischung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Was mir zudem sehr am Herzen liegt, ist die Chancenfairness für Kinder und Jugendliche.

Sie meinen Chancengleichheit?

Nein, diese Bezeichnung meide ich bewusst. Denn Chancengleichheit wird es nie geben – auch unter Schweizern nicht. Wir können nur Rahmenbedingungen schaffen, damit die Chancengleichheit theoretisch gewährleistet ist. Aber Gleichheit selber können wir nie schaffen. Deshalb bevorzuge ich das Wort Chancenfairness.

Basel-Stadt kennt das Instrument der Integrationsvereinbarungen. Wie viele Vereinbarungen werden jährlich abgeschlossen?

In der Anfangsphase, 2010 und 2011, waren es jährlich rund 70. Inzwischen werden pro Jahr zwischen 30 bis 40 Vereinbarungen abgeschlossen.

Und auf was ist die Abnahme zurückzuführen?

Eine Integrationsvereinbarung hat einen sehr stark fordernden Charakter. Sie ist ein Instrument, das nur zielgerichtet und zurückhaltend angewendet werden soll, ein Zwischenschritt, bevor eine Zwangsmassnahme eingeleitet wird. Es muss also viel passieren, bis sie zur Anwendung kommt.

Zum Beispiel?

Die Integrationsvereinbarung wird angewendet, wenn Leute straffällig werden, sich chronisch verschulden oder nicht kooperativ mit der Sozialhilfe verhalten. Das sind alles Gründe, die zu einem Widerruf einer Bewilligung führen können. Aber bevor es so weit kommt, gibt man den Leuten nochmals eine Chance.

Hier laufen Ihr früherer und Ihr jetziger Job zusammen: Wer sich nicht an die Integrationsvereinbarung hält, wird ausgeschafft. Haben Sie viele Ausschaffungen dieser Art erlebt?

Es gab keinen einzigen Fall deswegen, nein.

Vor einem Jahr wurde eine SVP-Initiative vom Volk abgelehnt, die flächendeckend Integrationsvereinbarungen mit Ausländern verlangte. Angenommen wurde hingegen der Gegenvorschlag, der Gratis-Deutschkurse und Begrüssungsgespräche vorsieht. Wie weit ist man mit der Umsetzung?

Das läuft bereits. Nach den Sommerferien wurden die Gratis-Deutschkurse eingeführt. Bereits seit Mai führt das Einwohneramt Erstgespräche beziehungsweise Begrüssungsgespräche durch.

Sind diese Deutschkurse gut besucht?

Für eine Bilanz ist es leider noch zu früh. Das Ganze muss zuerst evaluiert werden. Ich finde es aber ein unglaublich starkes Zeichen von der Basler Bevölkerung, dass sie den Gegenvorschlag zur Integrationsinitiative und damit die Gratis-Deutschkurse angenommen hat. Ein solches Angebot ist europaweit einzigartig. Die Willkommensgespräche sind zudem hilfreich, weil man den Leuten gezielter und individueller Informationen erteilen kann. Man nimmt sich mehr Zeit für sie – das kommt sicher gut an.

Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass man mit diesem Angebot auch die Integration von Expats erreicht.

Bei Fachkräften, die vorübergehend für ein Projekt in die Schweiz kommen und dann wieder gehen, vertrete ich die klare Haltung, dass wir keinen grossen Aufwand betreiben müssen, sie zu integrieren.

Wieso?

Dies, weil kein Wille dazu besteht, weil sie sowieso nur vorübergehend hier weilen und die Schweiz nach Beendigung des Projektes wieder verlassen.

«Ich kenne Thomas Kessler seit 15 Jahren und pflege ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm: Wir ergänzen uns gut.» (Bild: Nils Fisch)

Manche bleiben aber auch lange hier.

Natürlich würde ich es begrüssen, wenn sie sich integrieren. Ich halte es trotzdem für falsch, sie dazu zu zwingen. Das ist nicht unsere Aufgabe, zumal die Chancenfairness in ihrem Fall gegeben ist. Sie kommen bereits aus gut gebildeten Kreisen. Wir müssen uns auf jene konzentrieren, bei denen die Chancenfairness gefährdet ist. Dazu kommt: Die Expats, die länger bleiben, sind oft auch gewillt, Deutsch zu lernen.

Trotzdem gibt es viele Expats, die in Parallelgesellschaften leben. Firmen wie Novartis fördern das auch mit ihrem Campus.

So wie ich es wahrnehme, haben Firmen wie Novartis oder Roche gar kein Interesse am sogenannten Expat Bubble. Aber es stimmt: Der Campus ist nicht gerade integrationsfördernd. Ich stelle jedoch mit Freude fest, dass die Mitarbeiter immer mehr aus dem Campus und weiter in die Stadt gehen.

Also, Sie meinen um die Ecke. Beispielsweise in die Bars «Voltabräu» oder «Conto» beim Voltaplatz.

Immerhin verlassen sie den Campus – und sie gehen auch in die Cargo Bar. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, zumal sich Novartis mit der neuen Rheinuferpromenade auch der Basler Bevölkerung öffnet. Es wird ja ein öffentliches Restaurant geben an der Promenade. Das sind gute Voraussetzungen für eine Durchmischung.

Die Flüchtlingskrise beschäftigt die Welt. Inwiefern macht sich dies in Ihrer Fachstelle bemerkbar?

Insofern, dass wir sensibilisiert sind und im ständigen Kontakt zur Asylkoordinatorin des Kantons, Renata Gäumann, stehen. Denn bei Leuten, die hier bleiben – und momentan haben wir doch eine Anerkennungsquote von gegen 60 Prozent – besteht irgendwann ein Integrationsbedarf. Wir müssen sie fit machen für die Teilnahme am Wirtschaftsleben und ihnen die Möglichkeiten eröffnen, am sozialen und kulturellen Leben aktiv teilzunehmen.

Haben Sie schon Massnahmen getroffen?

Das ist momentan nicht erforderlich, die Zahlen bewegen sich noch im überschaubaren Bereich, sodass die bestehenden Massnahmen ausreichend sind. Wir beobachten vorerst mal die Situation aufmerksam.

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