Der Salat mit den Sanktionen

Die Schweiz hält gerne die Prinzipien von Neutralität und Souveränität hoch. Dabei geht es in der Frage des wirtschaftlichen Boykotts gegen Russland um handfeste materielle Interessen.

EU-Agrarprodukte finden ihren Weg über die Schweiz nach Russland: Salaternte in Mecklenburg-Vorpommern. (Bild: KEYSTONE/HOLGER WEITZEL)

Die Schweiz hält gerne die Prinzipien von Neutralität und Souveränität hoch. Dabei geht es in der Frage des wirtschaftlichen Boykotts gegen Russland um handfeste materielle Interessen.

Die von den USA und der EU gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen stellen die Schweiz vor Probleme: Mitmachen ja oder nein? Und wenn ja, wie und in welchem Mass? Zur Diskussion stehen dabei die Bedeutung von Sanktionen an sich sowie die Eigenständigkeit der Schweiz an sich. Statt Eigenständigkeit der Schweiz könnte man die geschätzten und darum gerne verwendeten Begriffe von Souveränität und Neutralität einsetzen.

Es gibt viele Argumente gegen Sanktionen: Ein Hauptargument sieht darin eine nutzlose Störung des normalen Gangs der transnationalen Geschäfte. Das angestrebte Ziel würde verfehlt, und auf der eigenen Seite würde nur Schaden angerichtet. Über die Wirkungslosigkeit solcher Sanktionen gehen auch die wissenschaftlichen – und darum unvoreingenommenen? –  Meinungen auseinander.

Gängig ist die Meinung, dass Sanktionen immer die Falschen, das heisst die schwache Bevölkerung und nicht die mächtige Elite treffen, zugleich aber die avisierte Gesellschaft schicksalshaft stärker zusammenschweissen würden. Ein weiterer Einwand setzt bei der höchst beschränkten Durchführbarkeit an; er hält «eigene» Opfer für widersinnig, wenn andere nicht mitziehen und dabei gute Geschäfte machen.

In der Schweiz ist die Meinung stark verankert, dass man sich nicht in «fremde Händel» mischen soll.

Im Falle der Schweiz kommen zwei weitere Vorbehalte hinzu: Erstens die stark verankerte Meinung, dass man doch neutral sei, sich nicht in «fremde Händel» mischen und sich für gute Vermittlungsdienste bereithalten soll. Zweites gibt es die auf erzdemokratischen Vorstellungen beruhende Meinung, dass der Bundesrat nicht zu bestimmen habe, was man unter Berufung auf die hochgelobte Gewerbefreiheit als privater Akteur tun oder lassen soll. Etwas anderes sind die von Privaten propagierten Boykotte wie früher etwa gegen Apartheid-Südafrika.

Auf der anderen Seite lassen sich doch einige gute Gründe für den Einsatz einer kollektiven Verweigerungshaltung anführen. Für Boykotte also, deren Bezeichnung auf die 1880er-Jahre zurückgeht und ihren Ursprung in einer organisierten irischen Verweigerungsaktion von schwachen Bauernpächtern gegen einen mächtigen Grossgrundbesitzer – eben mit Namen Mr. Boycott – hat. Sanktionen können auch ein Mittel der Mittellosen sein (Stichwort: Gandhi).

Sanktionen sind aber auch ein Mittel in den Händen von ohnehin Mächtigen. Diese versuchen, mit ihrer Übermacht die «Solidarität» zu erzwingen, die für eine erfolgreiche Durchführung nötig ist.

Sanktionsfreudige USA

Die USA, die in der Gestaltung ihrer Aussenbeziehungen schnell zur Embargo-Keule greifen, etablierten 1996 mit der an sich gegen Kuba gerichteten Helms-Burton Act eine Regelung, die sich bedenkenlos über das internationale Recht hinwegsetzt, indem sie Gültigkeit auch für Handelsbeziehungen von Drittstaaten beansprucht. Ähnliches hat die Schweiz übrigens bereits im Zweiten Weltkrieg mit den «black lists» erlebt.

Das kann darum funktionieren, weil dabei Zulassung oder Ausschluss zum wichtigen amerikanischen Markt und zum System des internationalen Zahlungsverkehrs auf dem Spiel stehen. Besonders störend ist, dass die USA dieses Mittel nach politischen Opportunitäten einsetzen oder eben nicht einsetzen – und nicht nach konsequent rechtlichen Kriterien.

Es gibt viele Rechtsverletzungen, die nicht sanktioniert werden, weil sie nicht stören. Im Grunde wäre die universale UNO für solche Sanktionen zuständig, wenn sie nicht durch die Veto-Regelung gelähmt wäre.

Wirtschaftssanktionen können als Mittelweg zwischen Überreagieren und Nichtstun gewürdigt werden.

Man sollte sich aber daran erinnern, dass der Griff nach diesem Mittel insofern auch eine gute Sache sein kann, weil er einen heissen Krieg eindämmt oder gar erstickt. Es gibt Pazifisten, die darum Wirtschaftssanktionen (bis hin natürlich zum Verbot von Waffenlieferungen) gut finden.

Werden Sanktionen aber ohne diesen Hintergrund diskutiert, erscheinen sie als eine eigene Kriegsform und erfahren tendenziell eher Ablehnung. Dann ist auch oft davon die Rede, dass solche «Bestrafungen» nicht sinnvoll seien – als ob es um rückwirkende Abrechnungen ginge. Der Hauptzweck der Sanktionen, auch im aktuellen Fall, zielt darauf, gegenwärtiges und künftiges Verhalten im Sinne der Wiederherstellung des internationalen Rechts zu beeinflussen.

Wirtschaftssanktionen können als Mittelweg zwischen kriegerischem Überreagieren und gleichgültigem Nichtstun gewürdigt werden. Und, wie man sieht, gibt es innerhalb der Wirtschaftssanktionen einige Abstufungsmöglichkeiten. Eine Schweizer Initiative um 2001 stand mit dem sogenannten Interlaken-Prozess am Anfang der Entwicklung der «smart sanctions».

Die Innenpolitik der Aussenpolitik

Der Krieg in der Ukraine und die verschiedenen internationalen Reaktionen stellen die Schweiz vor eine Herausforderung. Sie muss abwägen, in welcher Weise sie ihre eigenen Interessen am besten verfolgen kann. In welchem Mass muss sie mit dem «Westen» (den USA und der EU), zu dem sie tatsächlich gehört, solidarisch sein? Inwieweit kann sie die guten Beziehungen, die sie in den letzten Jahren zu Russland aufgebaut hat, weiterpflegen beziehungsweise «vertiefen»?

Man lese, was da an Würdigung auf der offiziellen Website des Auswärtigen Departements (EDA) im Zusammenhang mit dem diesjährigen Jubiläum «200 Jahre diplomatische Beziehungen» mit Russland an Schönem geschrieben worden ist. Und Basel ist mit seinem Tourismusmarketing diesbezüglich besonders aktiv.

Andererseits muss die Schweiz im jetzigen Sanktionenkrieg darauf achten, dass sie nicht eine Drehscheibe für Umgehungsgeschäfte wird und die eigenen Exporte nicht zu stark von den Boykotten der anderen profitieren. «Courant normal» lautet die Formel. Schon ist bekannt geworden, dass EU-Agrarproduzenten, die von Russland mit einer Einfuhrsperre belegte worden sind, nun versuchen, zum Beispiel ihren Salat via die Schweiz nach Russland zu verkaufen.

Es wird der Eindruck kultiviert, dass keine materiellen Interessen das Verhalten der Schweiz bestimmen.

Eine andere, nicht auf «Umetikettierung» beschränkte Methode besteht darin, dass man die letzte Verarbeitung hier vornehmen lässt, um die Ware dann als schweizerische weiterschieben zu können.

In der umgekehrten Richtung besteht vor allem das Risiko, dass russische Oligarchen den Finanzplatz Schweiz für die Umgehung der westlichen Sanktionen nutzen. Da zeigen sich wiederum die wahren Kräfteverhältnisse: Die offizielle Schweiz (der Bundesrat) muss gewisse Sanktionen gar nicht verhängen, weil exponierte Unternehmen, insbesondere die Grossbanken, sie sozusagen von sich aus einhalten, um nicht ins Visier der amerikanischen Justiz zu geraten, enorme Bussen aufgebrummt zu bekommen und den amerikanischen Markt zu verlieren.

Das sind die realen Mechanismen. Die offiziellen Verlautbarungen, das Gerede – das «wording» – produziert jedoch ganz andere Illusionen. Es wird der Eindruck kultiviert, dass weder handfeste materielle Interessen noch real wirksame Kräfteverhältnisse das Verhalten der Schweiz bestimmen, sondern das Hochhalten der eigenen Prinzipien von Souveränität und Neutralität. Damit werden Chiffren bedient, die sich in der vernünftigen Gestaltung der schweizerischen Aussenpolitik immer wieder als hinderlich und schädlich erweisen.

Wenn das Feigenblatt fällt

Beinahe skurril wirkt die Rechtfertigung einer neutralistischen Position mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, dass die Schweiz im Ukraine-Krieg als Vermittlerin zur Verfügung stehen müsse. So hat man öffentlich die schweizerische Unterstützung bei der Untersuchung des Abschusses der malaysischen MH17 zur Verfügung gestellt. Bloss gab es dafür keinen Bedarf.

Die Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien können erfreulicherweise direkt zwischen West und Ost, neuerdings sogar direkt zwischen Poroschenko und Putin stattfinden. Die Schweiz kann ihre aus anderen Gründen praktizierte Zurückhaltung im Moment mit der OSZE-Präsidentschaft rechtfertigen. Was aber, wenn diese im nächsten Jahr an Serbien übergeht und Helvetien dieses Feigenblatt nicht mehr hat?

Dann wird man vor allem den eigenen Bürgerinnen und Bürgern Erklärungen bieten müssen, die näher bei der Realität liegen und aufzeigen, in welchem Verhältnis das an sich legitime Fahren von nationalen Separatzüglein und die solide Verbundenheit mit übernationalen Gemeinschaften zueinander stehen.

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