Der Schnellbleiche-Dschihadist, der nicht ins Paradies wollte

Salah Abdeslam ist der einzige Überlebende des Terrorkommandos, das vor einem Jahr in Paris über 500 Menschen tötete oder verletzte. Heute sitzt der monatelang meistgesuchte Mann Frankreichs in Isolationshaft. Nur eine Waffe bleibt ihm: sein Schweigen.

In this framegrab taken from VTM, armed police officers escort a suspect to a police vehicle during a raid in the Molenbeek neighborhood of Brussels, Belgium, Friday March 18, 2016. After an intense four-month manhunt across Europe and beyond, police on Friday captured Salah Abdeslam, the top fugitive in the Paris attacks in the same Brussels neighborhood where he grew up. (VTM via AP) BELGIUM OUT

Salah Abdeslam ist der einzige Überlebende des Terrorkommandos, das vor einem Jahr in Paris über 500 Menschen tötete oder verletzte. Heute sitzt der monatelang meistgesuchte Mann Frankreichs in Isolationshaft. Nur eine Waffe bleibt ihm: sein Schweigen.

Jeder Franzose kennt das unscheinbare bubenhafte Gesicht. 125 Tage lang hing das Konterfei Abdeslams im Land aus, und viele fragten sich: Sieht so das Monstrum von Molenbeek, der «Staatsfeind Nummer eins» (France TV) aus?

Nach seiner Verhaftung besuchte ihn sein belgischer Anwalt Sven Marty – und relativierte: Salah Abdeslam sei kein Anführertyp, sondern ein Mitläufer, der sich durch eine «bodenlose Leere» auszeichne, ein Kleinkrimineller der «Generation GTA», der in einem Videogame zu leben glaube. Kurz: «ein kleiner Knülch mit der Intelligenz eines leeren Aschenbechers». 

Wie passt das zur Angabe des Staatsanwaltes, Abdeslam habe bei dem Mehrfachanschlag vom 13. November 2015 eine «Schlüsselrolle» gespielt? Antwort wird vielleicht Abdeslams Prozess geben, für den noch kein Datum feststeht. Ein Jahr nach der Blutnacht von Paris geben Polizeiberichte und die Aussagen Direktbeteiligter aber schon recht genau Aufschluss. 

Radikalisierung

Salah Abdeslam, 27 Jahre alt und 1,75 Meter gross, Sohn marokkanischer Eltern, ist Franzose und im Brüsseler Stadtteil Molenbeek aufgewachsen. Er war ein Lebemann, wechselte seine Freundinnen wie seine Modeklamotten; er trank Alkohol, trieb sich in Spielhöllen herum und soll auch in Schwulenbars gesehen worden sein. Ferner dealte er; einmal wurde er wegen qualifizierten Diebstahls und Körperverletzung verurteilt. 

Etwa ein Jahr vor dem Massaker in Paris fiel er in der Bar «Bégouines» seines Bruder Brahim – der sich am 13. November in einem Pariser Bistro in die Luft sprengte – zunehmend durch radikalislamistische Sprüche auf. Seine damalige Gefährtin Yasmina erklärte später, er habe nach Syrien in den Dschihad reisen wollen.

Von Anwalt Marty gefragt, ob er den Koran kenne, antwortete er in der Untersuchungshaft, er habe sich eine Interpretation im Internet angeschaut. Später entdeckten die Ermittler auf seinem Computer mehrere Attentatspläne für französische Städte wie Marseille, Toulouse oder Lyon, zum Teil mit Drohnen auszuführen.

Planung

Ab Anfang 2015 telefonierte Abdeslam mehrfach mit seinem Jugendfreund Abdelhamid Abaaoud in Griechenland, dem Kommandochef der Pariser Anschläge. Danach wechselte er wöchentlich die Handy-Chips. Im September holte er in Budapest mit einem Mercedes zwei Dschihadisten ab, die sich als syrische Flüchtlinge getarnt hatten, und händigte ihnen belgische Identitätskarten aus.

Er besorgte in französischen Spezialläden Natriumhypochlorit und Wasserstoffperoxid, um den in Paris verwendeten Sprengstoff TATP herzustellen, und dazu mehrere Zünder. Ferner mietete er die für die Anschläge erforderlichen Hotelzimmer und Autos. Zur gleichen Zeit besuchte er in Brüssel weiter Nachtlokale wie das «Sphinx» oder das «Planet». Noch am 8. November 2015 filmten ihn Überwachungskameras mehrerer Casinos beim Pokerspielen. 

Ausführung

Fünf Tage später, am 13. November, fährt Abdeslam drei Attentäter zum Stade de France, wo am Abend Deutschland gegen Frankreich spielt. Sein weiterer Weg an diesem Abend ist nicht belegt. In einem Auto findet sich später ein GPS-Eintrag «Place de la République», unweit der Bistro-Terrassen und des «Bataclans», wo an jenem Abend insgesamt 130 Menschen erschossen und 413 verletzt werden. Sicher ist, dass Abdeslam nach den Anschlägen durch die Stadt irrt und die Nacht mit Obdachlosen in einem Treppenhaus verbringt. Gegen 5.30 Uhr holen ihn zwei Freunde im Auto nach Belgien zurück. 

Unterwegs überwinden sie drei Polizeikontrollen. Einmal lässt sie ein Gendarm weiterfahren, obwohl er ihren Joint bemerkt hat. «Heute Abend suchen wir etwas anderes», sagt er zu den dreien, nach denen wenige Stunden nach dem Attentat noch nicht namentlich gefahndet wird.

Ein weiteres Mal werden sie eine halbe Stunde für eine Personenkontrolle festgehalten; der belgische Flic erkundigt sich sogar bei den französischen Kollegen, ob sie einen Salah Abdeslam kennten, das ist aber zu dem Zeitpunkt noch nicht der Fall. Dabei hatte der Gesuchte seine Identitätskarte in einem sichergestellten Mietwagen liegenlassen – doch die Franzosen durchsuchten das Handschuhfach erst einen halben Tag später. 

Fahndung

Dann aber, als klar wird, dass er der einzige Überlebende des Kommandos ist, beginnt eine wahre Treibjagd auf Abdeslam. Präsident François Hollande verspricht mit finsterer Miene einen «gnadenlosen Kampf». Das hindert den Gesuchten nicht, ab dem 16. November, nur drei Tage nach dem Blutbad, wieder einschlägige Spielklubs in Brüssel aufzusuchen, als wäre nichts gewesen. 

Über vier Monate lang entgeht der Franzose der belgischen Polizei immer wieder im letzten Moment. Einmal kann Abdeslam entwischen, weil die belgische Polizei die gesetzliche Sperrfrist für nächtliche Hausdurchsuchungen einhält. Erst am 19. März 2016 wird er bei der Mutter eines Cousins in Molenbeek gestellt. Durch einen Beinschuss verletzt, lässt er sich im Keller verhaften – ohne sich in die Luft zu sprengen. Den Handlanger-Dschihadisten zieht es offensichtlich nicht ins Paradies. 

Haft

Gut eine Woche lang bleibt Abdeslam in belgischer Haft. Am Tag nach seiner Beinoperation gibt er in einer improvisierten Einvernahme ein einziges Mal zu, er habe Autos und Hotelzimmer für das Terrorkommando gemietet und drei Selbstmordattentäter zum Stade de France gefahren. Er behauptet aber, er habe einzig auf Weisung seines Bruders Brahim und ihres Chefs Abaaoud gehandelt. Letzteren will er nicht persönlich gekannt haben, was eine plumpe Lüge ist. 

Ende März wird Abdeslam per Helikopter in das grösste Gefängnis Europas in Fleury-Mérogis bei Paris überführt – auf 2855 Zellenplätze kommen dort 4380 Insassen. Der schmächtige «Barbare« (Hollande) kommt in eine Isolierzelle; das Gitterfenster ist mit Plexiglas abgedichtet, die Nachbarzellen bleiben leer. 

Das genügt den erzürnten Kommentatoren in den Internetforen nicht: Abdeslam solle «bei Wasser und Brot» gehalten werden, heisst es allenthalben. Nach einem Besuch im Gefängnis berichtet der konservative Abgeordnete Thierry Solère, für Abdeslam sei ein Sportsaal mit Rudergerät und dergleichen «reserviert». Die Direktion stellt klar, dass das Reglement verlange, dass jeder Häftling mindestens zu einer Aktivität angehalten werde. Ein anderer Abgeordnete, Nicolas Dupont-Aignan, schimpft dennoch über Abdeslams «Ferienklub». 

Auch für Dschihadisten ein Verlierer

Abdeslams französischer Anwalt Franck Berton protestiert seinerseits gegen die permanente Überwachungskamera in der Isolierzelle, worin er eine «psychologische Folter» sieht. Als die Behörden nicht darauf eingehen, verweigert Abdeslam in seiner ersten Anhörung im Mai jede Aussage. «Er macht von seinem Schweigerecht Gebrauch», erklärte Berton, er sei aber guter Dinge, dass sein Klient bald reden werde.

Die Franzosen wollen wissen, wie ein kleinkrimineller Dandy auf den Salafismus kommt. 

Abdeslams Aussage wäre zentral. Er ist der erste bekannte Terrorist, den Frankreich lebend in die Hände bekommen hat. Und vor allem wollen die Opferverbände «verstehen», wie es zu dem 13. November gekommen ist. Sie wollen erfahren, was im Kopf dieser Schnellkurs-Dschihadisten vorging. Abdeslam könnte erzählen, wie aktiv er war, wie weit er indoktriniert und ferngesteuert wurde. Die Franzosen wollen wissen, wie ein kleinkrimineller Dandy auf den Salafismus kommt. 



Journalists surround Frank Berton, lawyer of Salah Abdeslam, outside the courthouse after the arrival of the Paris attacks suspect at the main law court in Paris, France, May 20, 2016. REUTERS/Gonzalo Fuentes/File picture

Nach der Überführung von Salah Abdeslam in ein französisches Gefängnis steht sein Anwalt Franck Berton im Zentrum des Medieninteresses. (Bild: Reuters/GONZALO FUENTES)

Aber Abdeslam schweigt beharrlich. Will er sich nicht belasten oder hat er einfach nichts zu sagen? Sein Verhalten klingt jedenfalls nicht nach Strategie. Sein Anwalt Berton hat sein Mandat Mitte Oktober resigniert niedergelegt. Er erklärte bei einer Pressekonferenz, er glaube nicht mehr, dass sein Klient noch einmal aus sich herauskommen werde, denn er radikalisiere sich immer mehr. «Das Gefängnis ist daran, Salah Abdeslam in eine wilde Bestie zu verwandeln», klagte Berton.

Früher – im Algerienkrieg – habe man die Feinde der Nation noch mit Folter zum Reden gebracht, liest man in Sozialen Medien.

Danach forderte auch Abdeslams Bruder Mohammed, der nicht in die Anschläge verwickelt war, den Häftling über das Radio auf, endlich zu reden. Und er warnt ebenfalls: «Salah radikalisiert sich immer mehr, er zieht sich auf sich selbst zurück.» Aber nach drei schweren Terrorattacken mit mehr als tausend Toten und Verletzten binnen anderthalb Jahren will Frankreich mit dem einzigen festgenommenen Attentäter nicht über Überwachungskameras verhandeln. In den Sozialen Medien liest man, «früher» – gemeint ist im Algerienkrieg – habe man die Feinde der Nation mit der «gégène« (Elektrofolter) zum Reden gebracht. 

Der Kriminologe Alain Bauer meint, Abdeslam schweige womöglich, weil er sich zwischen den Fronten wähne: Im Dschihad-Lager gelte er als Feigling, da er als einziger der Attentäter nicht den Märtyrertod gewählt habe. Im Bekennervideo der Terrormiliz IS wurde sein Name unter den heroisierten Attentätern nicht genannt. Was immer Abdeslam aussagen könnte, es würde von der einen oder anderen Seite gegen ihn ausgelegt. 

Vielleicht ist sein Schweigen auch nur seine letzte Waffe, um die Menge in Rage zu bringen, ein wenig wie im Camus-Klassiker «Der Fremde», wo der Protagonist vor dem Gang zur Guillotine wünscht, dass ihn bei seiner Hinrichtung möglichst viele Zuschauer «mit Schreien des Hasses» empfangen werden.

In 30 Jahren wieder auf freiem Fuss?

Die meisten Franzosen wollen nur, dass Abdeslam unschädlich bleibt – und zwar für immer. Bloss kann in Frankreich niemand länger als 30 Jahre eingesperrt werden. Unter dem Eindruck der Causa Abdeslam hat die Nationalversammlung im März beschlossen, dass Terrorverurteilte nicht mehr frühzeitig entlassen werden können, ausser wenn unter anderem die Opferverbände damit einverstanden sind. Auch für Abdeslam – der niemanden selber umgebracht hat – liegt die Maximalstrafe damit bei 30 Jahren. Und dann? Wird er mit 57 Jahren freikommen? 

Hollande liess durch einen Regierungssprecher mitteilen, ein Strafmass «bis zum Tod» sei unvereinbar mit dem Europarecht sowie der ethischen Vorgabe, dass man einem Menschen weder das Leben noch die letzte Hoffnung nehmen dürfe. Auch der konservative Abgeordnete Patrick Devedjian meinte, dies käme einer «langsamen Todesstrafe» gleich – und Frankreich habe diese 1981 abgeschafft. 

An dieser in Frankreich überaus hart erfochtenen humanistischen Errungenschaft dürfte schliesslich auch Abdeslam nichts ändern. Ein Jahr nach dem 13. November erkennen die Franzosen langsam, dass er es schlicht nicht wert wäre.

1100 Opfer in eineinhalb Jahren 
Die Anschläge vom 13. November 2015 in Paris erfolgten im Konzertlokal Bataclan, vor dem Stade de France und in einem halben Dutzend Bistros des Bastille-Viertels. Die furchtbare Bilanz: 130 Todesopfer und 413 Verletzte, wovon 100 Schwerverletzte. Die sieben Attentäter starben durch Sprengstoffladungen oder wurden von der Polizei erschossen.
Die Anschläge erfolgten zehn Monate nach dem Angriff auf die Redaktion des Satiremagazins «Charlie Hebdo» und einen jüdischen Supermarkt in Paris (17 Tote, 22 Verletzte; drei Terroristen erschossen). Am 14. Juli 2016 Jahres starben in Nizza 86 Menschen (plus der Attentäter) bei der Amokfahrt mit einem Lastwagen, 434 wurden verletzt. Sechs Personen aus dem weiteren Umfeld des Täters sitzen in Untersuchungshaft.
Insgesamt wurden bei diesen drei Anschlägen rund 1100 Menschen getötet oder verletzt; dazu befindet sich eine unbekannte Zahl Betroffener weiterhin wegen psychischer Traumata in Behandlung. In Frankreich gilt seit dem 13. November 2015 nach wie vor der Ausnahmezustand. (brä)

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