Der schnelle Marsch

Chinas Regierung modernisiert das Land im Eiltempo. Besonders gut lässt sich das in der ehemaligen Industriestadt Shenyang beobachten. Die einst als Dreckschleuder verrufene Millionenstadt soll zur Ökocity werden. Eine Reportage aus dem «Ruhrpott der Volksrepublik».

Shenyang, die Vorzeigestadt: Chinesische Arbeiter tragen die Modelle neuer Wohnhäuser herbei, im Hintergrund wurde bereits gebaut. (Bild: © Sheng Li / Reuters)

Chinas Regierung modernisiert das Land im Eiltempo. Die Menschen versuchen, Schritt zu halten – so gut es geht.

Der Smog hat sich in die Hauswände gefressen. Über Jahrzehnte haben Russ, Schwefeldioxid und Staub ihre hässlichen Spuren hinterlassen. Unter den Fenstern sind sie noch finsterer als am Rest der Wand, die vielleicht mal weiss war, vielleicht auch nicht.

Bunte Schilder und beleuchtete Werbetafeln bringen Farbe in die ansonsten triste Gegend. Durch die beschlagenen Fenster einer Nudelküche scheint grelles Neonlicht. Drinnen stehen Herr Wang, seine Frau und seine Tochter hinter dem Holztresen und warten auf Kundschaft. Während draussen Minusgrade herrschen, ist es drinnen heimelig warm.

Im Ruhrpott der Volksrepublik

Die Nudelküche liegt im ehemaligen Industriegebiet Shenyangs, einer Millionenstadt im Nordosten Chinas – dem Ruhrpott der Volksrepublik. Reiche Rohstoffvorkommen machten die Region in Zeiten der chinesischen Industrialisierung zum Zentrum der Schwerindustrie. Der umweltbelastende Bergbau, die Eisen- und Stahlerzeugung und die Giftstaub speienden Kohlekraftwerke liessen die Region vom einst reichen Stahlgürtel zum schmutzigen Rostgürtel verkommen.

In den 1980er- und 1990er-Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage, Kohleminen waren erschöpft, viele Fabriken standen vor dem Bankrott. Es waren elende Zeiten für die Region und damit auch für die Industriestadt Shenyang. Die neuen kapitalistischen Fabriken im Süden hatten den einst so erfolgreichen Norden mit seiner Industrie längst abgehängt.

«Urlaubsort für Arbeiter»

Schnell wurde offensichtlich, woran die chinesische Industrie krankte: Die Staatsbetriebe waren ineffizient, die Anlagen nach 50 Jahren alt und rostig. Praktisch alle Unternehmen schrieben rote Zahlen, die Produktion wurde weitestgehend eingestellt, da sie unwirtschaftlich war.

«Urlaubsort für Arbeiter» nannten die Menschen einst Shenyangs Industriegebiet Tiexi. Doch ein Paradies war es nicht. Aus erhabenen Arbeiter-Kulturpalästen waren längst heruntergekommene und trostlose Bauwerke geworden, von denen der Putz abbröckelte. Den ehemals hochmodernen Arbeiterunterkünfte nach sowjetischem Vorbild haftete der giftige Staub der Jahrzehnte an. Es moderte, rostete, rottete.

Die Umweltverschmutzung war enorm. Shenyang rangierte unter den zehn Städten mit der schlechtesten Luftqualität weltweit.

Die Umweltverschmutzung war enorm. Shenyang rangierte unter den zehn Städten mit der schlechtesten Luftqualität weltweit. Die Zentralregierung zog die Notbremse. Doch anstatt die alten Fabriken zu sanieren, entschloss sie sich für den grossen Umbruch. Die Stadt sollte ein neues Gesicht bekommen.

Mitten in Tiexi liegt Herr Wangs Nudelküche. Die roten Tische sind am Nachmittag noch leer. Für umgerechnet gut zwei Euro gibt es hier eine grosse Schale Nudeln mit dünnen Rindfleischstreifen.

Der grosse Wandel

Eigentlich gehört das Lokal seiner Frau, womit Herr Wang sein Geld verdient, möchte er nicht sagen. Den kleinen Finger des 49-jährigen Mannes mit der Glatze ziert ein langer Nagel. In Asien gilt dies als Statussymbol wie hierzulande ein Porsche auf dem eigenen Firmenparkplatz. Er zeigt, dass Herr Wang nicht körperlich arbeitet, sondern jemand ist, der Befehle erteilt.

Der Fingernagel passt nicht zu dieser Nudelküche, nicht zu Herrn Wang, der vielleicht wie China selbst mehr sein will, als er ist. Medien gegenüber ist er vorsichtig, erst bei der zweiten Zigarette beginnt er zu erzählen. Als er ein Jahr alt war, zogen seine Eltern mit ihm nach Tiexi. «Die Strasse sieht aus wie in meiner Kindheit», sagt Herr Wang, wenig habe sich verändert. Ganz im Gegensatz zum Rest Tiexis. «Um unser Wohnviertel herum standen früher Fabriken und kleine Häuser – das war alles.»

Millionen Arbeitslose

Als junger Mann arbeitete er in einem Werk der «Maschinen-Kooperation». Doch noch bevor es geschlossen wurde, kündigte er seinen Job und machte sich mit einem kleinen Geschäft selbstständig. Das war vor der grossen Entlassungswelle, die Mitte der 1990er-Jahre im Nordosten Chinas Millionen Menschen von einem Tag auf den anderen vor den Fabriktoren stehen liess. «Einige bekamen damals eine Entschädigung von der Regierung, doch längst nicht alle. Die meisten gründeten wie ich kleine Unternehmen oder wurden Taxifahrer.» Die Menschen protestierten, doch trotz versprochener Sozialprogramme mussten viele ohne Abfindung auskommen.

Wo vor 20 Jahren Schornsteine qualmten, stehen Hochhäuser und Shoppingmalls.

Im Juni 2002 beschloss die Zentralregierung, die Probleme anzupacken, liess die alten Fabrikgebäude Tiexis Block für Block abreissen und baute am Stadtrand ein neues Industriegebiet auf – moderner, effizienter, auf Profit ausgerichtet. Viele der alten Arbeiterunterkünfte wurden durch moderne Gebäude ersetzt, die den Menschenmassen Herr werden sollen, die vom Land in die Stadt ziehen. Und so veränderte sich das Stadtbild von Shenyang im rasanten Tempo. Wo vor 20 Jahren noch die Schornsteine qualmten, stehen heute moderne Hochhäuser und Shoppingmalls.

Ein Gebäude gleicht dem anderen

Überall wird gebaut. Riesige Plakatwände, auf denen extravagante Autos vor glänzenden Wolkenkratzern stehen, preisen die neuentstehenden Viertel an. Heute ist das alte Industriegebiet Tiexi wieder hip, wer es sich leisten kann, zieht hierher. Hunderte Baukräne kündigen weitere Neubauten an. Ein Gebäude gleicht dem anderen, mal sind es 25 Stockwerke, mal 30. Dass hier vor zehn Jahren noch zahllose Fabriken standen, ist heute schwer vorstellbar.

Es ist die alte Sicherheit der Planwirtschaft, die den Menschen fehlt.

Herr Wang nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette, pustet den Rauch langsam aus. «Vor der Krise war die Lebenssituation stabil, wer einmal einen Job in einer Fabrik hatte, blieb dort für den Rest seines Lebens. Er bekam eine Wohnung gestellt, war versorgt. Heute ist alles viel komplizierter, es gibt Arbeitsverträge, die jederzeit gekündigt werden können, Essen und Kleidung sind teurer geworden.» Es ist die alte Sicherheit der kommunistischen Planwirtschaft, in der jeder gleich viel hatte, die den Menschen hier fehlt.

«Das Gleichgewicht hat sich verschoben», sagt Herr Wang. Früher waren in seinem Viertel alle gleichgestellt, selbst der Vorgesetzte hatte nicht viel mehr als der einfache Arbeiter. Heute zeigen teure Kleidungsstücke, luxuriöse Wohnungen oder protzige Autos, wie weit man es gebracht hat. «Es ist nicht gut, wenn das Gleichgewicht gestört wird», findet Herr Wang, wenn wenig und viel Geld aufeinandertreffen. So wie derzeit in Tiexi. Doch die Entscheidungen aus Peking zu kritisieren, liegt vielen fern – auch Herrn Wang. Insgesamt, so resümiert er, habe sich die Lage ja deutlich verbessert.

Immer mehr Ackerland fällt der Expansion zum Opfer.

Ob das kleine Wohnviertel und die Nudelküche noch lange existieren werden, ist jedoch fraglich. Die Stadtväter wollen das gesamte Gesicht der Stadt verändern, die so schnell wächst, dass immer mehr Ackerland im Umland der Expansion zum Opfer fällt.

In der Shenyang Urban Planning Hall zeigt ein Modell der Stadt, 1500 Quadratmeter gross, vergleichbar mit der Grösse von zwei Tennisplätzen, wie Shenyang bereits in wenigen Jahren aussehen soll. Das Modell ist übersät mit Hochhäusern und modernen Eventhallen, kleine individuelle Häuser oder Wohneinheiten sucht man vergeblich.

«Gross, grösser, Shenyang»

«Nein», erklärt die Museumsführerin, «die kleinen Häuser, die jetzt noch stehen, werden alle abgerissen.» Sie passen nicht in das moderne Bild der Stadt. «Gross, grösser, Shenyang» lautet die Devise. Europäische Nostalgiker werden den urchigen, urbanen Charaktervierteln nachtrauern, die bald durch anonyme Bauwerke ersetzt werden.

Doch um vergangenen Zeiten nachzutrauern, bleibt China bei seiner rasanten Entwicklung keine Zeit. Und so wundert es nicht, dass zwischen all den interaktiven Museumselementen und grossflächigen Ausstellungen eines fehlt: ein Ort des Gedenkens an die Millionen Arbeiter, die von heute auf morgen vor dem Nichts standen.

Die Leute erzählen von etlichen Selbstmorden in jener Zeit, Zahlen gibt es nicht.

Im Jahr 1993 gab es im Nordosten Chinas laut offiziellen Statistiken drei Millionen Arbeitslose, fünf Jahre später schon über 17 Millionen. In Tiexi blieb kaum einer in seiner Anstellung.

Die Leute erzählen von etlichen Selbstmorden in jener Zeit, Zahlen gibt es nicht. Es waren die Menschen, die die Last der rasanten Modernisierung getragen haben, die Verlierer der Pekinger Wirtschaftsreformen.

Kein Platz für Verlierer

Doch für Verlierer ist in China kein Platz. Peking pumpt Milliarden in die Problembezirke. Shenyang ist die neue Vorzeigestadt, aus der ehemaligen Dreckschleuder soll eine Öko-City werden.

Und sie ist auf gutem Weg dahin: Die Umweltbilanz hat sich rasant verbessert, der Smog in Shenyang trübt deutlich seltener den Blick in den Himmel – heute ist es der Baustaub, der für graue Nachmittage sorgt. Konnten die Menschen in Shenyang im Jahr 2002 gerade mal an 209 Tagen den Himmel sehen, waren es 2011 schon 331 Tagen.

Beim Wandel der Stadt wird auf eine umweltfreundliche Bauweise geachtet, alles soll grüner, energiesparender, fortschrittlicher werden. Wo einst der Russ der Kohleöfen die Luft verschmutzte, sorgt heute Naturgas für saubere Wärme.

Eine der letzten Fabriken des alten Tiexi-Distrikts ist die Northeast Pharmaceutical Group am Rande des Bezirks, die ihre Produkte auch nach Europa exportiert. Die Japaner errichteten sie 1946, nun muss sie auf Druck der Zentralregierung weichen. «Damals stand sie nicht wie heute inmitten eines Wohngebiets, sondern am Rande Shenyangs», sagt Wang Yuan Hang, stellvertretender Generaldirektor, der vor 17 Jahren nach Shenyang kam.

Hauspreise verdoppeln sich

«Ich erinnere mich an den ersten Besuch meiner Eltern. Sie fuhren vom Bahnhof aus einmal quer durch Tiexi, damals noch ein heruntergekommenes Industriegebiet, in dem nur die armen Menschen lebten. Am liebsten hätten sie mich wohl gleich wieder mit nach Hause genommen.» 1998 kaufte er in Tiexi eine Wohnung direkt neben dem Metallhüttenwerk. «Mein Appartement lag parallel zu dem Schornstein der Fabrik. Ich habe die Wohnung damals nur gekauft, weil sie billig war.» Drei Jahre später wurde das Werk geschlossen, der Schornstein abgerissen. Wang Yuan Yang konnte sie zum doppelten Preis verkaufen.

Seit vier Jahren plant die Unternehmensspitze nun den Umzug des Betriebs, spätestens 2016 soll er abgeschlossen sein. Etwa 180 Millionen Euro hat der Neubau die Firma bislang gekostet. Die Betriebsfläche hat sich verdoppelt. «Einen Teil der Kosten haben wir durch den Verkauf unseres Grundstücks an die Regierung wieder reinbekommen», sagt Wang Yuan Yang, «mehr staatliche Unterstützung bekommen wird nicht. Die restlichen Gelder werden aus dem Gewinn des Unternehmens und vom Aktienmarkt generiert.»

Anschluss an den Westen

Ein Grossteil der Materialproduktion erfolgt bereits in den neuen Hallen ausserhalb der Stadt. Von den 9000 Angestellten werden alle an dem neuen Standort übernommen, Neueinstellungen wird es nicht geben. Die meisten Arbeiter begrüssen den Wechsel, wenn auch nicht alle, sagt Wang Yuan Hang. Der stellvertretende Generaldirektor möchte keinesfalls als Kritiker verstanden werden. «Der Umzug ist viel mehr als eine staatliche Auflage. Um auf dem Weltmarkt bestehen zu können, müssen wir den hohen Ansprüchen unserer Kunden gerecht werden und unsere neue Produktion noch umweltfreundlicher gestalten.» 

Die Landflucht in China ist immens, die jungen Menschen zieht es in die Grossstädte.

Ein paar Blocks weiter sind die Schornsteine bereits erkaltet. Die Fabrik, die einst den grauen Platz mit ihren dicken Stahlträgern und ihrer massigen Statur beherrschte, wirkt heute inmitten Dutzender Gebäude, die in die Wolken ragen, fehl am Platz. Die Hochhäuser umschliessen die alte Fabrikhalle, ragen weit über ihr Dach empor, als würden sie das alte Bauwerk verhöhnen. Graue Betonklötze, die neue Heimat für Tausende Bewohner Shenyangs, zu viele, zu dicht gedrängt.

Etliche stehen leer. Doch die Menschen werden kommen, da sind sich die Stadtväter sicher. Die Landflucht in China ist immens, die jungen Menschen zieht es in die Grossstädte. Offiziell leben sieben Millionen Menschen in Shenyang, inoffiziell geht man bereits von neun Millionen aus. Tendenz steigend.

Wer soll hier wohnen?

Unter dem Vordach der alten Fabrikhalle sitzt ein Mann in einem grauen Mantel, brauner Hose, Baskenmütze. Einfache Klamotten, trotzdem hat der Mann etwas Anmutiges. Seine Finger umschliessen einen Bambusbogen, lassen ihn über die Saiten einer Erhu gleiten – ein zweisaitiges Streichinstrument, das von der Instrumentenführung her an eine Geige erinnert, jedoch viel schlichter ist. Er spielt mit blossen Händen, bei Minusgraden.

Einen Tag zuvor hat es noch geschneit. Stoisch erträgt er die Kälte. In seiner Wohnung kann er nicht spielen, die Nachbarn würden sich beschweren. Ruhige Töne erfüllen den Raum unter den alten Stahlstreben.

«Vor zehn Jahren hat die Fabrik der «Kooperation Grossmaschinen» geschlossen», erzählt Herr Ma, «nun haben sie hier ein Museum und Kulturzentrum eröffnet, die Fabrik als Industriedenkmal erhalten.» Herr Ma arbeitete jahrzehntelang als Metallarbeiter, zuletzt in einem Elektrizitätswerk. Vor zwei Jahren ging er in Rente, damals war er 61. Er verbrachte fast sein ganzes Leben in Tiexi – erst zum Arbeiten, später dann auch zum Wohnen.

Vor zehn Jahren lebte ein Bewohner auf rund 12 Quadratmetern, 2011 war es fast das Dreifache.

Der pensionierte Metallarbeiter lebt in einem der neuen Gebäude, die nach dem Abriss der alten Fabriken wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. «Viele Werke waren alt und in keinem guten Zustand», sagt Herr Ma. Die neugebauten Betriebe seien dagegen mit den modernsten Technologien ausgestattet, und die Lebensbedingungen seien viel komfortabler.

Die Zahlen geben ihm recht: Vor zehn Jahren lebte ein Bewohner im Durchschnitt auf rund 12 Quadratmetern, 2011 war es fast das Dreifache. «Früher kamen wir nur zum Arbeiten hierher, heute träumen viele Menschen davon, hier zu wohnen.» Leisten könne sich das jedoch nicht jeder, die Einkommen seien zwar gestiegen, mit ihnen aber auch die Preise. «Es kommen viele Fremde nach Shenyang», sagt Herr Ma. «Manchmal fehlen mir die alten Zeiten. Damals hatten wir wenig Druck, alles wurde vom Staat und dem Betrieb geregelt. Heute ist das Leben schneller, der Druck viel höher.»

Doch hier, unter den grauen Stahlstreben, kann Herr Ma durchatmen. Er setzt die Erhu wieder auf sein Knie, nimmt den Bambusbogen in seine rechte Hand, schliesst die Augen und spielt.

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