Der Sieg eines Abgewiesenen

Menschen mit Behinderungen haben es in der Arbeitswelt meist nicht leicht. Stigmatisierung, Unterschätzung und Hilflosigkeit resultieren – seitens Arbeitsumfeld und den Arbeitssuchenden selbst. Ein grosser Teil findet nie auf den Markt. Aber es gibt Ausnahmen: Ein Portrait über Samael Agreda, der sein Schicksal selbst in die Hand nahm.

Den eigenen Weg gegangen, über die Hürden des Marktes: Samael Agreda hat sich trotz körperlicher Behinderung eine eigene Lebensgrundlage aufgebaut. (Bild: Livio Marc Stöckli)

Menschen mit Behinderungen haben es in der Arbeitswelt meist nicht leicht. Stigmatisierung, Unterschätzung und Hilflosigkeit resultieren – seitens Arbeitsumfeld und den Arbeitssuchenden selbst. Ein grosser Teil findet nie auf den Markt. Aber es gibt Ausnahmen: Ein Portrait über Samael Agreda, der sein Schicksal selbst in die Hand nahm.

Seine Hände sind zart von den vielen Ölen und Crèmes, sein Händedruck warm. Samael Agreda hat ein konzentriertes aber freundliches Gesicht, wie er in der Tür zu seiner Praxis steht und gerade eine Kundin verabschiedet. Draussen an der Güterstrasse hinter dem Bahnhof zieht ein leiser Verkehrsstrom dahin. Irgendwo kreischt ein Zug.

Agredas Hände waren vielleicht zuvor schon zart, bevor er begann, Leute zu massieren, bevor er das fand – wie er sagt – das ihn zurück ins «Sein» brachte. Barbara, eine Kundin, wird später sagen, sie liebe genau diese zarten Hände und sein Gespür, wenn er massiere. Samael Agreda wird dann ein wenig verträumt lächeln und zufrieden sein mit sich, mit seiner Arbeit.

Zufrieden sein und arbeiten. Nicht immer war dies Realität für Agreda. Von Geburt leidet der 31-Jährige unter infantiler Zerebralparese. Er selbst nennt das so: zerebrale Behinderung mit Spasmen. Wenn er spricht, kommt das zum Vorschein. Bei manchen Silben hört sich alles normal an, bei manchen aber verzieht sich sein Mund und nur unter Mühe kommt ein Wort heraus. Wenn er geht, hinkt er leicht, seine Arme heben und senken sich manchmal ruckartig, roboterhaft.

Eine Zeit der Nutzlosigkeit

Arbeiten war etwas, auf das er sich in seiner Jugend nicht einstellen konnte. Mit 18, als er volljährig wurde, erfasste ihn die IV für eine Vollrente. Der gebürtige Bolivianer kam mit drei Jahren in ein Kinderheim in die Schweiz. Mit 18 war er auf sich alleine gestellt. Agreda ist Waise. Unterstützung war wenig da. Vor sich sah er dazumal eine lange leere Zeit. Eine Zeit ohne Arbeit, eine Zeit, in der er sich vollkommen nutzlos vorkam, sagt er.

Verschiedene Fläschchen stehen auf einer Ablage entlang der Wand. Öle in allen Düften. Ein Radio, es ist ausgeschaltet. Der Raum ist nicht sonderlich gross, aber wirkt gemütlich, mit dem Massagebett in der Mitte auf mattem Parkett. An der Wand liegt zusammengerollt eine Matratze. Durch das Fenster fällt grelles Licht, das vom Raum sofort aufgesogen wird. Hier drin herrschen eigene Lichtregeln – blasses Gelb aus kleinen Lampen.

An jeweils zwei Tagen in der Woche, Montag und Donnerstag, bietet Agreda hier Massagen an. Fussreflex-Therapie und die klassische Massage sei das, sagt er und steht ein wenig unsicher vor dem Bett. Auch Sportmassagen gibt er. Eine Hand auf das weisse Leintuch gebettet, scheint es, als halte er sich an diesen Massagen fest. Seit fünf Jahren arbeitet er selbständig, anfänglich im St. Alban-Quartier in einer Gemeinschaftspraxis, dann zog es ihn ins Gundeli an den jetzigen Ort. Bei einer Arbeitskollegin ist er für seine Stunden untergemietet – sie ist ebenfalls Masseurin. «Hier bin ich für mich, kann meinen eigenen Rhythmus einhalten.» Die ewigen Besprechungen am letzten Ort waren nichts für ihn.

«Die Musik war für mich da»

Agreda massiert in sich gekehrt. Zwei Kerzen brennen auf der Ablage neben dem Radio, das noch immer aus ist. Ab und zu fragt Agreda seine Kundin Barbara, ob für sie alles ok sei. Gesprochen wird weiter nicht viel. «Die Körper der Kunden sprechen mit mir», sagt Agreda. «Teilweise merken das die Kunden selber nicht.» Agreda hat ein Leben lang mit seinem eigenen Körper gesprochen, nur antwortet dieser bei einer cerebralen Behinderung manchmal nicht. Der Geist wird dann zur Barrikade.

Es ist beinahe nichts zu hören im Raum, die weichen Bewegungen fallen schwer, von draussen kommende Geräusche scheinen an den Fenstern haften zu bleiben, ausgesperrt, nur einzelne dringen durch.

Ausgesperrt fühlte sich Agreda einst selbst. Er wollte arbeiten, wollte sich betätigen. Die IV verschaffte ihm durch ihr Integrationsprogramm zwei Schnupperlehren. Unterschiedlichste Berufe waren das – beide schaffte er nicht. Die Schreinerlehre habe körperlich nicht geklappt, die Bürolehre geistig nicht, wegen der Konzentration. «Ich erhielt nur diese zwei Optionen von der IV. Als beides nicht funktionierte, wussten sie nicht mehr weiter mit mir.» Von der IV fühlte er sich dazumal im Stich gelassen. Die Beschäftigung suchte er in der Musik. Begann als DJ zu arbeiten. Noch immer, wenn sich am Dienstagabend in der Kuppel Salsa-Klänge um die Wände schlängeln, steht Agreda hinter den Platten. «Salsa geht mir sehr tief. In der Zeit, in der ich nichts zu tun hatte, war diese Musik für mich da.»

Der Zweifel bleibt

Die Verzweiflung wuchs kontinuierlich, das Jahr 2003, kein Vorankommen. Mit einer Kollegin sprach er eines Tages über Massagen. So entschied er sich, zu Beginn seiner 20er-Jahre, für einen Grundkurs. Wäre das Scheitern an Agreda haften geblieben – er wüsste nicht. Es schien so, zu Beginn, auch beim Massieren. Aber ein guter Lehrer boxte ihn durch, sagt Agreda. «Er motivierte mich, sagte, ich könne das schaffen.»

Eine Perspektive fiel durch ein Kaleidoskop und von da an ging er diesen Ausbildungsweg weiter, holte sich Qualifikation um Qualifikation. Weiterbildungen kamen hinzu, Kräuterstempel-Massage und Triggerpunkt-Therapie sind nur einige davon. Heute ist Agreda Krankenkassen-anerkannter Masseur. Während dem Besuch sagt er das oft und viel, und es scheint teilweise, als zweifle er in gewissen Sekunden selbst noch an seinen Worten.

Später, als alles bereits seinen Lauf genommen hatte, als Agreda in der Welt der Massagen einen Platz zum Ruhen fand, wusste er, dies hat vielleicht so kommen müssen. «Während der Schulzeit musste ich in die Logopädie und Physiotherapie. Ich hatte schon früh Erfahrung mit dieser Art von Körperbehandlung.» Und Barbara, die nun auf dem Bett sitzt, gehüllt in blasses Gelb und die Nachwirkung der Massage: «Man merkt es. Er hat ein spezielles Gespür für den Körper.»

Kein anderer Weg, als der eigene

Aber der Markt ist ein Fels, hart und unzugänglich, wenn er will. Agreda, mit gehäuften Zertifikaten unter dem Arm, klopfte an verschlossene Türen. Stelle fand er keine, trotz unzähliger Bewerbungen. «Oftmals sagte man, es fehle mir an Erfahrung. Manchmal war man aber auch direkt. Es hiess, es sei wegen meiner Behinderung.» Agreda ist gnädig, wenn er urteilt. Es sei ihm teilweise schon bewusst gewesen, dass es schwierig sei. Durch seine Behinderung sind 100 Prozent Arbeitstätigkeit nicht möglich. «Teilweise wurden die Kompromisse aber auch gar nicht erst gesucht. Es hiess einfach: nein.»

Er zögerte erst, fasste mit einer eigenen Praxis dann selbst Fuss. Nach fünf Jahren nun läuft das eigene Geschäft gut, aber nicht einwandfrei: «Auch heute bin ich noch nicht ganz unabhängig von der IV. Es geht eben auf und ab.» Und die Menschen, die ihn für Massagen anvisieren, zeigen oftmals das Zerrgesicht des Marktes. Dann, wenn Agreda den Hörer abnimmt bei einem Neukunden und sich nur unter Mühe ausdrücken kann. «80 Prozent, die telefonisch Auskunft haben wollen, kommen erst gar nicht.» Den ersten Kontakt nimmt Agreda deshalb lieber per Mail auf. Wenn die Kunden dann in der Praxis sind, sagt er ihnen meistens etwas zu seiner Behinderung, das hilft.

«Mit Schmerzen zu arbeiten ist schwierig», sagt Agreda. Heute schaffe er am Tag 4 bis 5 Stunden. An einem guten Tag mehr, an einem schlechten weniger, wenn die Schmerzen zurückkehren, plötzlich aufflammen und sein Körper ihm wieder bewusst macht, dass er auf eine eigenartige Weise doch mit ihm spricht.

Agreda sitzt nun alleine im Raum, den er sich von einem Markt entrissen hat, der ihm den Zugang einst verwehrte. Viele Menschen mit Behinderungen bleiben noch immer aussen vor. Samaels weisse Arbeitshose ist eins mit der grellen Wand, mit den gelöschten Kerzen. Spricht man mit ihm, wirkt er positiv und glücklich, aber durch gewisse Spalten seines Charakters drängt auch der Stolz eines Abgewiesenen, der Frust eines Gebrandmarkten.

Schweizweit über eine Million Menschen mit Behinderungen
Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) lebten in der Schweiz nach den letzten Rechnungen im Jahre 2011 insgesamt rund 1,2 Mio. Menschen mit Behinderungen – 731’000 davon waren im erwerbsfähigen Alter von 16 bis 64 Jahren. Knapp 70 Prozent der Menschen mit Behinderung sind erwerbstätig, wogegen es sich bei 26 Prozent um Nichterwerbspersonen handelt – einberechnet hierbei sind Menschen mit starken körperlichen wie geistigen Behinderungen. Im Kanton Basel Stadt betrug die Anzahl Invaliden-Rentenbezüger im Jahre 2012 insgesamt 9429, der Grossteil davon, 6871, beziehen die volle Rente. Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt schaffen viele nicht.

Nach den Zahlen der IV-Stellen-Konferenz (IVSK) konnten im vergangenen Jahr schweizweit für 16 629 Menschen mit Behinderung ein Arbeitsplatz gefunden werden – 6000 davon bei einem neuen Arbeitgeber, beziehungsweise als Erststelle oder einem anderen Arbeitsort. Für die Eingliederung behinderter Menschen in den ersten Arbeitsmarkt setzt sich in Basel auch der Verein Impulse mit dem neuen Label iPunkt ein. Der iPunkt zeichnet Unternehmen aus, die Menschen mit Behinderungen einstellen und für berufliche Chancengleichheit sorgen. Das Label dient auch als Kommunikations-Werkzeug und als Austauschplattform der teilnehmenden Firmen, sagt Nicole Bertherin, Präsidentin von Impulse Basel, das als neutrale Vergabestelle die Kontrollfunktion über die Mitglieder übernimmt. Impulse hält auch die Trägerschaft der 2009 lancierte «Charta» inne, einer Kampagne, die den chancengerechten Zugang von behinderten Menschen zum 1. Arbeitsmarkt anstrebt.

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