Am 11. Oktober wählt Weissrussland seinen Präsidenten. Das Ergebnis steht jetzt schon fest: Alexander Lukaschenko wird mit überwältigender Mehrheit für eine fünfte Amtszeit gewählt. Wer ist dieser «letzte Diktator Europas»? Ein Porträt unserer Weissrussland-Korrespondentin.
Angeblich liegt in seinem Büro eine stark abgenutzte Ausgabe von Machiavellis «Der Fürst». Der weissrussische Politologe Pawel Usow, Autor eines kritischen Buchs über Alexander Lukaschenko, glaubt gern, dass dieser von Machiavelli lernt: «Er ist ein effizienter Politiker», sagt er. «Er weiss, wie man zu den Wählern redet, er kann ihre Ängste und Erwartungen ansprechen, die Schwäche der Opposition nutzen und Europa und Russland gegeneinander ausspielen.»
Alexander Lukaschenko – für viele Weissrussen ist er einfach «der Präsident». Oder «Batko», der Vater. Allmächtig und fürsorglich. Zar. Beinahe Gott. Seit 21 Jahren ist er im Amt. Am 11. Oktober lässt er sich für eine fünfte Amtsperiode wählen.
Obwohl man es im Westen nicht gern hört: Lukaschenko ist in Weissrussland sehr populär. Das bestätigen Umfragen des unabhängigen Instituts Nisepi. Kein Kandidat der Opposition kommt auf derart hohe Vertrauenswerte wie Lukaschenko.
Verschwundene Widersacher
Die Wahlergebnisse muss er gar nicht erst fälschen lassen. Wahrscheinlich tut er es trotzdem. «Lukaschenko kann nicht einfach gewinnen, er muss es mit einer durchschlagenden Mehrheit tun. Nur das gibt ihm und der Gesellschaft den Eindruck, er sei der richtige Vater der Nation» sagt Pawel Usow.
Jahrelang hat Alexander Lukaschenko an seiner Popularität gearbeitet und Widersacher ausgeschaltet. Er unterdrückt die Opposition, infiltriert sie mit Agenten, lässt politische Gegner festnehmen, sorgt für Repressalien gegenüber Rebellen in den eigenen Reihen.
Es wird vermutet, er stehe hinter dem spurlosen Verschwinden von drei Politikern im Jahr 1999. Weggenossen, die ihn früher unterstützt, dann aber die Seite gewechselt haben und zu stark wurden.
Mittlerweile ist die Opposition intern so zerstritten, dass sie nur von wenigen Bürgern ernstgenommen wird. Es gibt keine Alternative zu Lukaschenko, so sehen es viele.
Lukaschenko ist in der EU mit einem Einreiseverbot belegt. (Bild: SERGEI GRITS)
Das ganze öffentliche Leben dreht sich um den Präsidenten. Lukaschenko bei der Kartoffelernte, Lukaschenko mit preisgekrönten Sportlern, Lukaschenko mit Kindern, Lukaschenko beim Hockeyspiel.
Der Präsident ist in den regimetreuen Medien dauerhaft präsent, in einem übertriebenen, sowjetischen, propagandistischen Stil. Er zeigt sich gerne bei körperlicher Arbeit – «ich bin ja ein Kind vom Land» – oder beim Sport, selbstverständlich als Gewinner, nach dem Vorbild Wladimir Putins. Immer gesund, immer stark: ein Anführer, der sein Volk schützen kann.
Aber er darf nur so gezeigt werden, dass seine Glatze nicht zu stark auffällt. Eitelkeit.
Niemand hätte gedacht, dass ausgerechnet dieses Landei es nach ganz oben schafft
In gewisser Hinsicht gleicht sein Leben dem Märchen von Aschenputtel. 1954 als unehelicher Sohn einer Melkerin geboren, erlebte er in der Kindheit nicht nur Armut, er musste auch schiefe Blicke ertragen. Später wird er behaupten, sein Vater sei als Soldat im Krieg gefallen. Sein Jahrgang straft ihn Lügen, aber niemand traut sich zu fragen. Auch nicht nach der Mutter seines unehelichen Sohnes Nikolai.
In seiner Kindheit und Jugend lernt Lukaschenko, wie man kämpfen muss, um das zu erreichen, was man will. Er macht Abitur, studiert, wird Lehrer und Agrarökonom und bekommt zum ersten Mal eine gewisse Macht: Er wird Leiter einer Sowchose, eines staatlichen Landwirtschaftsbetriebs.
Hier holt er sich das Rüstzeug für seine spätere Laufbahn. Die Sowchose blüht, erfüllt die Vorgaben. Lukaschenko verprügelt einen Mitarbeiter, der sich während der Arbeitszeit betrinkt. Die Ermittlungen gegen ihn werden erst eingestellt, als er Präsident wird.
Seine einfache Herkunft verschweigt er nicht. Ganz im Gegenteil – er betont sie und schlägt daraus Kapital. Alexander Lukaschenko ist «einer von uns», oder er kann ihn gut spielen.
Nach der Wende wird er ins Parlament gewählt. Er gehört zur «liberalen Fraktion» der Kommunisten. «Als ich ihn damals im Parlament gehört habe, war ich mir sicher, dass niemand ihn wählen würde», erinnert sich der Dokumentarfilmer Uladzimir Kolasa. Ein Trugschluss.
Er redet dem Volk nach dem Mund
Lukaschenko spricht im Dialekt, den die meisten Weissrussen in den Neunzigern sprachen, eine Mischung aus Russisch und Weissrussisch. Es ist keine literarische Intellektuellensprache, die einschüchtert. Er versteht die Ängste der Menschen, die sich in den chaotischen Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Sicherheit und Stabilität sehnen. Die von der vergangenen Zeit träumen, nicht von Demokratie und freiem Markt.
Der Präsident wird von Intellektuellen ausgelacht, als Landei verspottet: ordinär, ungehobelt, dumm. Der Sowchose-Leiter eben. Er trägt Sandalen zum Anzug, zeigt sich im Trainingsanzug. So sehen auch seine Wähler aus. Er gestikuliert übertrieben, regt sich auf, schimpft über korrupte Politiker und Oligarchen. Das wollen die Bürger hören. Diese Taktik nutzt er bis heute.
Der Kampf gegen die Korruption wurde zu seiner Besessenheit. Batko rügt Minister vor der Kamera, lässt befreundete Geschäftsleute festnehmen – traditionell vor jeder Wahl –, um zu zeigen, dass Korruption nicht geduldet wird in Weissrussland. Anders als in den Nachbarstaaten Ukraine oder Russland.
Er hat viel mit Putin gemein, doch persönlich mag er ihn nicht. Wieder Hochmut. Mit Jelzin war er befreundet. Er unterstützte dessen Idee einer russisch-weissrussischen Union nicht nur, weil sie seinen Wählern gefiel. Er träumte davon, Jelzins Nachfolger zu werden.
Diese Stelle übernahm jedoch Wladimir Putin, und der lässt Lukaschenko spüren, dass er für ihn nur ein unbedeutender, provinzieller Politiker ist. Das verträgt der Batko schlecht, aber er ist vom grossen Nachbarn abhängig. Ohne das russische Geld und Öl würde Weissrussland Pleite gehen. Deshalb muss Lukaschenko Zugeständnisse machen.
Alexander Lukaschenko und Sohn Nikolai unterwegs zur Inauguration anlässlich der vierten Amtszeit des Langzeitpräsidenten. (Bild: VIKTOR DRACHEV / POOL)
Umso mehr betont er seine Wurzeln. Er, der Russisch als Amtssprache wiedereinführte und die Nationalfarben änderte, hielt zur letzten Nationalfeier eine Rede auf Weissrussisch. In seiner Wahlkampagne tritt er mit dem Slogan «Souveränität und Unabhängigkeit» auf.
Der autoritäre Anführer pflegt einen anderen Stil als seine Kollegen in den übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken. Er zeigt seinen Reichtum nicht offen: keine Residenzen, keine auffälligen Autos und Accessoires. Er weiss, dass augenfällige soziale Unterschiede zum Umsturz führen könnten.
Sicherlich fliesst Geld in seine Tasche, doch auch das Volk erhält seinen Anteil: Er lässt gute Strassen, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten bauen und Arbeitsplätze schaffen. Das kommt gut an. Die Mehrheit gibt sich damit zufrieden.
Geschickt laviert er zwischen den Fronten
Persönliche Bindungen pflegt der Präsident kaum. Mit seiner Ehefrau Galina lebt er schon fast 20 Jahre lang nicht mehr zusammen. Sie wohnt unweit der Sowchose, die Lukaschenko mal geleitet hat. Das Haus gehört zu den am besten geschützten Objekten im Land. Galina, beschützt oder eingesperrt?
Die Mutter seines jüngsten Sohnes Nikolai, seine persönliche Ärztin, liess er mit einem Angestellten verheiraten und nahm ihr das Kind weg. Jetzt baut er Nikolai zu seinem Schatten auf. Immer wieder begleitet dieser den Vater, der seine älteren Söhne von sich fern hielt. Einer ist heute Chef des Geheimdienstes, der andere leitet das weissrussische Olympische Komitee.
Dass er als Diktator betrachtet wird, stört Alexander Lukaschenko wenig. Angeblich ist er sogar stolz darauf, denn Diktator sein bedeutet stark sein. Und er mag es, den Macho zu spielen. Bei offiziellen Anlässen zeigt er sich in einer extra für ihn entworfenen Paradeuniform.
Es gebe schlimmere Diktatoren als ihn in Europa, sagte er vor kurzem im Fernsehen. Namen nannte er nicht, aber das war auch nicht nötig. In den Augen der Westeuropäer ist jetzt Putin der «letzte Diktator Europas».
Die Ukrainekrise hat dem weissrussischen Präsidenten eine Bühne als Vermittler zwischen Russland und der EU geboten. Sein grösster Erfolg sind die zwei Minsker Abkommen, bei denen er zwischen der Ukraine und Russland vermittelte.
Lukaschenko zeigte sich damit sowohl nach aussen als auch nach innen als ein bedeutender Politiker und Partner der europäischen Anführer. Eine Rolle, die ihm noch vor einem Jahr niemand zugetraut hätte.