«Der Streit mit der EU ist ein Zeichen unserer engen Bindung»

Der Basler Uni-Professor Walter Leimgruber beschäftigt sich mit Fragen zu unserer Identität wie auch mit Schweizer Phantomschmerzen. Er erläutert die Resultate der Volksbefragung «Point de Suisse» und führt uns vor Augen, inwiefern sich die Schweiz in ihrer Entwicklung selber blockiert.

«Strassencafés oder das Rheinschwimmen sind Teil unserer Volkskultur geworden», sagt Professor Walter Leimgruber vor seinem Seminar am Basler Rheinsprung.

(Bild: Ketty Bertossi)

Der Basler Uni-Professor Walter Leimgruber beschäftigt sich mit Fragen zu unserer Identität wie auch mit Schweizer Phantomschmerzen. Er erläutert die Resultate der Volksbefragung «Point de Suisse» und führt uns vor Augen, inwiefern sich die Schweiz in ihrer Entwicklung selber blockiert. Heute Abend diskutiert er mit Georg Kreis und Ueli Mäder in der Barfüsserkirche.

Von seinem Büro aus hat Walter Leimgruber den Weitblick. Er sitzt im vierten Stock am Rheinsprung, unterhalb des Basler Münsters. Klingt idyllisch, ist es auch. Aber nicht immer einfach, der Masse beim Rheinschwumm zuzusehen, während man selber im Büro sitzt und Studien auswertet. 

Leimgruber ist Kulturwissenschaftler, Historiker, Ethnologe, Geograf – er zählt zum besonderen Schlag der Welterklärer, die zu vielfältigen Themen etwas zu sagen haben. Zur Schweiz hat er seine ganz eigene Meinung. Wir seien gefangen in der Migrationsdebatte, die alle anderen Themen übertönt («Migration ist nur der Phantomschmerz») und die Westschweizer und Tessiner würden Reformen blockieren («die Reformfreudigsten sind die Konservativsten»). 

Herr Leimgruber, was hält die Schweiz im Innersten zusammen?

Die Ablehnung gegenüber der EU! 85 Prozent sind laut einer aktuellen Umfrage des Künstler-Projekts «Point de Suisse» gegen einen Beitritt der Schweiz, darin sind wir uns so einig wie in keinem anderen Punkt, der hier befragt wurde. Vor 20 Jahren, bei der EWR-Abstimmung, war man ennet des Röstigrabens noch ganz anderer Ansicht als in der deutschen Schweiz. Jetzt scheinen fast alle Schweizer gegen die EU zu sein.

War Christoph Blocher, der schon damals vor der EU warnte, also ein Visionär?

Vielleicht. Vielleicht wäre es aber auch wesentlich einfacher geworden, wenn wir dem EWR beigetreten wären. Die Ablehnung steht auch für Ratlosigkeit. Es ist einfach, gegen die EU zu sein, wir können uns ihr aber dennoch nicht entziehen: Sie ist unser Nachbar und unser wichtigster Handelspartner, wir müssen mit ihr Beziehungen pflegen, mit ihr verhandeln und zusammenarbeiten. Solange uns die EU nicht abschneidet, geht es uns noch gut. Wenn es uns wirtschaftlich schlecht ginge, die Konditionen schlechter würden für uns, würde sich unsere Haltung der EU gegenüber womöglich verändern. Der Lakmustest kommt nun mit der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die MEI schliesslich dazu führt, dass wir näher an die EU heranrücken. Denn das Einzige, was uns davor rettet, uns ganz von den Bilateralen zu verabschieden, ist, dass wir uns institutionell stärker einbinden. Das ist auch eine Forderung der EU. Und ich vermute, dass dies mit der Umsetzung passiert.

Welche Eigenheiten der Schweizerinnen und Schweizer lesen Sie aus der grossen Umfrage von «Point de Suisse»?

Zum einen sehe ich eine grosse Stabilität. Die Leute glauben an die Macht der direktdemokratischen Institutionen, an den Föderalismus. Sie fühlen sich wohl und sehen kaum Gründe, dass sich auf dieser institutionellen Ebene was ändern muss.

Die Befragten wollen aber auch einiges ändern. Zum Beispiel wünschen sie sich einen Elternurlaub von zwei Jahren.

Darin sehe ich einen Wunsch für soziale Reformen, die an der Urne eigentlich keine Chance hätten. Wir haben in der Schweiz bereits über ähnliche Initiativen abgestimmt – sie blieben jeweils chancenlos.

Wie erklären Sie das?

Die Leute möchten zwar Reformen, aber sie möchten nicht, dass das Auswirkungen hat auf das Erfolgsmodell Schweiz, auf das institutionelle Gefüge. Am deutlichsten zeigt sich dies an den Westschweizern und Tessinern. Diese gelten als die reformfreudigsten Kantone, wenn es um Sozialpolitik geht, sie sind jedoch auch am konservativsten, was Institutionen angeht: Den Kantonen weniger Macht zu geben, kommt nicht in Frage, denn das ist der Garant ihrer Eigenständigkeit als Minderheit. Das ist ein bisschen das Grundproblem unserer Gesellschaft: Wir können gewisse Probleme nicht mehr angehen, ohne uns auch institutionelle Fragen zu stellen. Vor diesen fürchten sich aber viele. Sie wollen festhalten am politischen Gefüge und haben zugleich Lust an Reformen, die aber unweigerlich auch das Zusammenspiel der Institutionen tangieren würden. Denn Fragen wie Lohngleichheit oder Elternschaftsurlaub können nicht auf Gemeinde- oder Kantonsebene gelöst werden. Das Resultat dieser Konstellation ist eine Blockierung. Solange niemand über neue Formen des institutionellen Zusammenspiels nachdenken mag, können wir die Gesellschaftsreformen nicht angehen. Daher diskutieren wir die relevanten Themen nicht wirklich, sondern führen als Ersatz eine unendliche Diskussion über die Migrationsfrage.

Ihre These vom Phantomschmerz.

Ja, genau. Das Einzige, worüber wir mit einer gewaltigen Intensität reden in der Schweiz, ist die Migrationsfrage und damit einhergehend unser Verhältnis zur EU und zur restlichen Welt. Überall, wo es die Gesellschaft zwickt und kneift, muss die Migration als Erklärung herhalten, vom Arbeitsplatz über den «Dichtestress» bis zur Umwelt. Deswegen nenne ich die Migration Phantomschmerz.

Die Idee eines zweijährigen Elternurlaubs stösst bei den Befragten auf Zustimmung. 58 Prozent wären dafür. Haben die Familienparteien hier ein starkes Thema für den Wahlkampf verschlafen?

Gute Frage. Parteien wie die CVP leiden darunter, dass sie selber gespalten sind. Bei ihnen stellen sich viele Mitglieder hinter das klassische Rollenmodell. Die CVP muss also auf die konservativen Wähler in den eigenen Reihen Rücksicht nehmen – und andere Mitte-Parteien wie die BDP oder die Grünliberalen greifen das Thema auch nicht wirklich auf. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass sich mit Familienpolitik schwer Wahlkampf machen lässt. Eltern sind sehr engagiert mit Arbeit und Familie und ihr politisches Engagement ist daher eher gering.

Aber wir reden doch über etwa zwei Millionen Haushalte, die man mit dem Thema erreicht.

Das stimmt, ja. Aber ein Grossteil ist politisch nicht aktiv, weil die Prioritäten anders gesetzt sind. Zudem gibt es eine klare Spaltung innerhalb der Familien: Da sind einerseits konservative, andererseits aufgeschlossene Eltern. Erschwerend kommt hinzu, dass die Phasen variieren, ich sehe es bei mir selber: Kommen die Kinder aus der Schule, kümmert mich die fortlaufende Ausbildung meiner Kinder mehr als die Schulpolitik – ob die Tagesstrukturen, die ich 20 Jahre lang vermisst habe, endlich kommen, interessiert mich nicht mehr so vehement wie früher…

… stattdessen beschäftigt man sich als Vater plötzlich mit der Erbschaftssteuer.

(lacht) Genau! Es gibt nicht die Familie. Und daher auch nicht die Familienpolitik. Es ist nicht einfach, alles unter einen Hut zu bringen. Aber dieser klare Wunsch für einen längeren Elternschaftsurlaub liefert uns immerhin einen Hinweis, dass sich hier etwas bewegen sollte. Der gesellschaftliche Wandel – sozialer Ausgleich, Stellung der Frau, der Familie, Lohngerechtigkeit – bewegt die Leute. Doch fehlt es im Moment am Willen, politische Veränderungen durchzusetzen. Noch haben wir keine Lösungen.

Kein guter Schweizer ist gemäss dieser Umfrage, wer keine Landessprache spricht und wer nie abstimmen geht.

Richtig. Das heisst also, dass jeder Zweite kein guter Schweizer ist, weil er nicht abstimmen geht. Aber es zeigt auch, dass die direkte Demokratie den Leuten sehr wichtig ist. Vielleicht müsste man die ausbürgern, die sich nicht demokratisch engagieren? Das meine ich natürlich ironisch.

Ausgangspunkt für «Point de Suisse» war ja die Gulliver-Umfrage 1964. Unsere Generation weiss nichts mehr darüber, erklären Sie doch kurz, was es damit auf sich hatte.

Es handelte sich um eine Umfrage, die im Rahmen der Expo 1964 bei Schweizerinnen und Schweizern gemacht wurde. Und deren Resultate dann auf Geheiss des Bundesrats nie veröffentlicht wurden.

Zensur durch den Bundesrat?

Oh ja, hier fällte eine Landesregierung einen absolut undemokratischen Entscheid. Teile dieser Gulliver-Umfrage wurden aber dennoch zugänglich, und der französische Soziologe Luc Boltanski veröffentlichte, basierend auf den Resultaten einer Vorstudie, das Buch «Le Bonheur suisse».

Was war denn so brisant an dieser Umfrage?

Gewisse Themen waren dem Bundesrat zu heikel. Zuerst mussten Fragen zum Schwangerschaftsabbruch, zur Armee, zur Bodenspekulation, zur Militärdienstverweigerung und zur 40-Stunden-Woche gestrichen, Fragen zum EWR, zur Neutralität und zum Kommunismus abgeändert werden. Und als die ersten Antworten eintrafen, verbot der Bundesrat die Auswertung ganz. Die politische Führung war offenbar nicht bereit, den gesellschaftlichen Wandel, der sich hier manifestierte, zu akzeptieren.

Die gesellschaftliche Offenheit hat seither zugenommen.

Richtig. Die Frage, ob man ein guter Schweizer sein kann, wenn man erst um 9 Uhr aufsteht, wurde schon vor 50 Jahren mehrheitlich mit Ja beantwortet. Jetzt sind es mehr als 70 Prozent, die darin kein Problem sehen. Eine Mehrheit findet auch, dass man ein guter Schweizer ist, wenn man nicht wandert, von der Sozialhilfe lebt oder mal im Gefängnis war. Die Gesellschaft ist lockerer geworden. Dabei fällt übrigens auf, dass Tessiner und Romands viel strenger sind als Deutschschweizer und sich zu all diesen Punkten weniger tolerant geäussert haben. Die gängigen Klischees zu den Sprachregionen werden ziemlich infrage gestellt.

Welche Erklärung haben Sie dafür?

Romands und Tessiner sind ja ihrerseits Minderheiten, und – ich kann nur spekulieren – pochen umso mehr darauf, dass man das Schweizersein ernst nehmen sollte.

Uns fällt auf, dass das Welschland den Deutschschweizern immer ferner liegt. Die jungen Deutschschweizer jetten eher nach Berlin, als Lausanne oder Genf zu entdecken. Leben wir uns in der Schweiz auseinander?

Ja, diese Befürchtung habe ich. Das ist aus meiner Sicht die Folge der Dummheit unserer Politiker. Mit der Einführung von Englisch als Erstsprache fing es an. Die damaligen Männer an der Macht machten die Erfahrung: Englisch ist wichtig. Vielleicht wäre ich mehr als ein Regierungsrat geworden, wenn ich Englisch gelernt hätte. Also schlussfolgerten sie: Englisch muss Priorität haben. Das ist dumm, weil Englisch heute die Sprache ist, die Kinder sowieso lernen wollen und die alle lernen. Es ist die Sprache der Hollywoodfilme, der Pop-Kultur. Es wäre viel gescheiter, mit der komplizierteren Sprache anzufangen und die Kinder mit Englisch als zweite Sprache zu belohnen.

Dazu kommt, dass immer weniger Schülerinnen und Schüler ein Welschlandjahr machen.

Das war eine super Erfindung unserer Vorfahren, die wir ohne Not aufgaben. Statt dass wir eine Expo machen, würde man mit dem Geld besser ein Welschlandjahr für alle Schülerinnen und Schüler finanzieren. Das wäre eine echte nationale Ausstellung im Sinne eines Austauschs. Heute gehen die Jugendlichen nach Kanada, Neuseeland, Australien, aber in der Westschweiz waren sie noch nie. Ich würde vorschlagen, dass zumindest jeder Maturand obligatorisch ein Schuljahr in einer anderen Sprachregion macht. Das wäre kein Problem, wenn der politische Wille da wäre. Dann würde die zweite Sprache leichtfallen und das soziale Netz den Röstigraben überspannen.

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Die Ausstellung «Point de Suisse» läuft bis zum 18. Oktober, Forumszentrum ist das Basler Museum für Geschichte.  

Walter Leimgruber unterhält sich am 3. September (18.00) zum Thema «Wo stehen wir? Die Vermessung der Schweiz» mit den Professoren Georg Kreis, Kornelia Imesch und Ueli Mäder. Historisches Museum, Barfüsserkirche, Basel.  

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