Der Traum von der grossen Revolution

Sie demonstrieren in Madrid, Zürich und Rom. Begonnen hat «Occupy» aber in New York. Ein Besuch im Zentrum des Widerstands.

Ein bisschen Fasnacht, ein bisschen Weltrevolution: Occupy Wall Street (Bild: Allison Joyce, Reuters)

Sie demonstrieren in Madrid, Zürich und Rom. Begonnen hat «Occupy» aber in New York. Ein Besuch im Zentrum des Widerstands.

New York ist nervös. New York ist immer nervös, in diesen Tagen aber ist die Stadt noch etwas nervöser. Vor ­allem downtown im Finanzdistrikt, wo seit September die erst belächelte ­Occupy-Wall-Street-Bewegung mit ihren Aktionen Druck macht.

Zentrum der Bewegung ist der nur drei Blocks von der Wall Street entfernte Zuccotti-Park: Hier haben die Demonstranten ihre Zelte aufgeschlagen. Hier ist ihr Hauptquartier, wo es gratis Essen gibt, eine Bücherei, eine Pressestelle, eine Zeitung und sogar eine Kinderkrippe. Hier werden Flugblätter verteilt, wird mit Schildern gegen die Banken protestiert und lautstark Musik gemacht. Der Zuccotti-Park ist Ausgangs- und Endpunkt der Demos, die zur Wall Street führen. Bunt geht es hier zu und chaotisch – das Ganze ist auch ein alternatives Happening, es hat etwas von Fasnacht, es ist dramatisch und verrückt wie manches in dieser Stadt. Aber man sollte den Ernst dieser Bewegung nicht unterschätzen – denn die Wut, dass einer in drei Stunden an der Wall Street gleich viel verdient wie ein anderer in drei Jahren, diese Wut ist riesig.

Auffallend viele junge Leute sind mit dabei – das ist kein Wunder. Viele Junge haben trotz guter Ausbildung, trotz Universitätsabschluss keinen Job. Die amerikanische Wirtschaft setzt auf Billigstarbeiter, etwa aus Lateinamerika, und höhlt so die Mittelschicht aus. Die meisten haben Schulden, sei es ­wegen der exorbitanten Studiengebühren, der Immobilienkrise oder einfach wegen des unerhört teuren Alltags. Viele haben nichts zu verlieren, sind verzweifelt und richten ihren Zorn gegen das eine Prozent, das 99 Prozent des Vermögens hortet, wie man sagt.Und was meinen die Vertreter dieses ­einen Prozents? «Das sind Idioten», sagt ein Banker, der gerade aus ­einem Finanzinstitut kommt: «Leute, die nichts auf die Reihe kriegen.» «Sie ­haben Angst, weil sie nicht verstehen, was wir tun», sagt eine Börsenhänd­lerin. «I don’t speak English», sagt ein Trader in bestem Englisch – und ­wendet sich rasch ab.Mittlerweile sind auch die Gewerkschaften auf den Zug aufgesprungen, und die Bewegung wird immer farbiger. Es ist eine Bewegung ohne Kopf, ohne Gesicht, ohne Führung – und das bewusst. Das romantisch-anarchistische Instrument der Vollversammlung, an der jeder sprechen kann, soll zu einem Konsens über das weitere Vorgehen führen – aber wie soll das mit Tausenden funktionieren? Klar ist, dass die Leute für eine Umverteilung sind – aber wie wollen sie die erreichen? Klar ist, dass etwas faul ist mit dem System – aber welche Alternativen gibt es? Die Antworten sind noch diffus. Arbeitsgruppen versuchen, die eigene Position deutlicher zu fassen.

Viele Sympathisanten

Bemerkenswert ist, dass die Bewegung ausdrücklich Bezug auf die arabischen Revolutionen nimmt – «Protest for American Revolution» steht prominent auf der Homepage der New Yorker ­Occupy-Bewegung. Facebook, Twitter und Blogs sind wie in Ägypten und ­Tunesien Mittel, um die Sympathi­santen rasch zu mobilisieren und über neuste Entwicklungen vor Ort zu in­formieren. Das ­erleichtert auch die Verteilung von Spenden – wenn plötzlich wieder neues Essen, neue Kleider oder Decken da sind. Gespendet wird reichlich, auch Geld.

Neben den elektronischen Medien spielt «The Occupied Wall Street Journal» eine wichtige Rolle – ein schmales Blatt mit einer Auflage von 25 000 Exemplaren, das ab dieser Woche als nationale Zeitung mit einer Auflage von einer Viertelmillion erscheinen soll. Diese Zeitung, die unter schwierigen Bedingungen in einem kleinen Büro im West Village produziert wird, versteht sich als Dokument des Aufstands. Sie versucht, die unterschiedlichen Anliegen der Bewegung gegen innen und aussen verständlich zu machen. «New York Times»-Autorin Naomi Klein hat einen Artikel beigesteuert – und das, obwohl ihre Zeitung die Bewegung lange weitgehend totgeschwiegen hat.Viele New Yorker, die mit Demonstrationen sonst nichts am Hut haben, sympathisieren mit den Occupy-Aktivisten. Sie sehen in der Bewegung eine dritte Kraft, die neue Ideen in die festgefahrene Politik bringt. Bridget Cooke zum Beispiel, eine pensionierte Lehrerin, wünscht sich, dass der Protest nach Washington getragen wird. Denn sowohl Präsident Barack Obama wie auch die Republikaner, die so vieles blockieren, haben an Kredit und an Glaubwürdigkeit verloren. Obamas Strahlkraft hat stark gelitten unter den zahlreichen Kompromissen, die er eingehen musste, und auch die Republikaner scheinen unfähig, das Land weiterzubringen. Lieber beschäftigen sie sich mit dem ständigen Wahlkampf.

Eine neue Touristenattraktion

Dafür haben die Republikaner schon länger eine eigene Bewegung am äusseren Rand – die Tea Party. Die Unzufriedenheit und die Radikalität verbinden sie mit der Occupy-Bewegung, auch wenn die Anhänger der Tea Party das nicht gerne hören. Böse Zungen behaupten gar, die Ziele beider Gruppierungen seien letztlich dieselben. Eine These, die sich aber kaum belegen lässt – zu weit liegen die Vorstellungen der zwei Lager auseinander. Vereint sind sie nur in der Wut.

Zurück nach downtown Manhattan. Die massiert auftretende Polizei ist nervös – vor der Börse wird schon mal ein Journalist umgestossen oder mit Schlagstöcken traktiert. Pläne, den Zuccotti-Park zu räumen, wurden aus Angst vor einer Eskalation fallen gelassen. Womöglich spekulieren Bürgermeister Michael Bloomberg und die Polizei auf den Winter, darauf, dass die klirrende Kälte die Protestler aus dem Park vertreiben wird. Bloomberg sind die Demonstrationen ein Dorn im Auge, seiner Meinung nach schaden sie dem Tourismus in New York. Allerdings sieht man an kaum einem anderen Ort Manhattans mehr Touristen, die mit gezückten Kamerahandys das bunte Treiben einfangen – und Teil der Geschichte sein wollen. Schon versuchen die ersten Touristenbusse, ihre Routen den Demos anzupassen. Ein Ende des Aufstands ist nicht abzusehen, dafür sind die Proteste zu heftig. Manchmal fehlt wenig, und das Ganze eskaliert. Eine Glasscheibe, die aus dem zwanzigsten Stockwerk eines Wolkenkratzers am Broadway neben den Demonstranten zu Boden kracht, lässt vorübergehend Panik ausbrechen. Dass die Emotionen gerade in dieser Gegend so hoch kochen, ist kein Zufall – der hemmungslose Kapitalismus hat sich seine Gegner selber geschaffen. Er hat die Menschen vergessen. Jetzt kommen sie zurück.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28/10/11

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