Der Tsunami im Schweizer Wasserglas

Eine an sich banale Geschichte um einen verweigerten Handschlag hat eine unverhältnismässige Debatte ausgelöst. Befinden wir uns tatsächlich in einem neuen Kulturkampf?

Die Händedruck-Affäre wurde in der medialen Debatte bis zum Letzten ausgequetscht.

Nach fast zwei Wochen heftiger Händedruck-Debatte ist fast alles gesagt – und Zeit für einen Rückblick, bevor uns die Frage zu langweilen beginnt. In dieser Debatte, die uns unverhältnismässig beschäftigt hat, lassen sich zwei Lager ausmachen: Die ganz grosse Mehrheit ist der Meinung, dass man den beiden speziellen muslimischen Schülern nicht gestatten soll, das Händeschütteln mit der Lehrerin zu verweigern. Das geschah zum Beispiel mit bis in die Formulierungen bemerkenswert identischen Stellungnahmen des Chefredaktors der «Basler Zeitung» und des ehemaligen SPS-Präsidenten im gleichen Blatt.
Auf der anderen Seite ein paar wenige und etwas einsame Experten wie Jürg Lauener oder Reinhard Schulze, der eine ein erfahrener und umsichtiger Therwiler Schulleiter, der andere ein hochangesehener Islamwissenschaftler der Universität Bern. Bei dieser Verteilung kann sich die Mehrheit bestätigt sehen, dass, wie es in einem Leserbrief heisst, «Säkularismus und Wissenschaft» die Schweiz auf Abwege gebracht habe («Solothurner Zeitung» vom 8. April).

Schulzes über «10 vor 10» verbreitete Einschätzung verdient es trotzdem, nochmals in Erinnerung gerufen zu werden: «Wir haben es hier mit einer lebensweltlichen Islaminterpretation zu tun, wo in einer puritanischen Art und Weise der Islam als eine Ordnung gesehen wird, wie sich Menschen ganz allgemein verhalten. Das hat nichts mit Politik oder Durchsetzung von Geltungsansprüchen zu tun.» (Lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch Schulzes Buch «Der Koran und die Genealogie des Islams».)

Selber radikal, empören sich die Kritiker über Radikalismus; selber diffamierend, beklagen sie, dass sie wegen ihrer islamkritischen Haltung diffamiert würden.

Man hätte sich diesen informierten und besonnenen Mann am neutralen Expertenpult der SRF-«Arena» vom 1. April («Angst vor dem Islam») gewünscht und nicht den Sektenspezialisten Hugo Stamm, der, beinahe mit Schaum vor dem Mund, die muslimischen Diskussionsteilnehmer in die Fanatismus-Ecke zu drängen versuchte und, wie das oft eintritt, selbst Züge dessen annahm, was er bekämpfen möchte.

Stamm war keine Ausnahme. In auffallend vielen Äusserungen zeigte sich Ähnlichkeit zwischen Kritikern und vorgeknüpftem Objekt ihrer Kritik. Selber radikal, empören sie sich über Radikalismus; selber diffamierend, beklagen sie sich, dass sie wegen ihrer islamkritischen Haltung diffamiert würden: eine Debatte zwischen Tätern und Tätern und zugleich Opfern und Opfern – hüben wie drüben.

Faschismus oder Mittelalter?

Und einmal mehr wird Kritisiertes selber in «mittelalterlicher» Weise als mittelalterlich abqualifiziert: So meinte eine Leserbriefschreiberin, die offensichtlich keine Ahnung von diesem Zeitalter hat, vor einer «Rückkehr des Mittelalters» warnen zu müssen («Zürcher Unterländer» vom 9. April). Und im Basler Blocher-Blatt wurde der kleine Therwiler Fall zum Anlass genommen, den Islam wieder einmal in der Nähe des vom Ägypter Hamed Abdel-Samad schon vor zwei Jahren erhobenen, aber grundfalschen Faschismusvorwurfes zu situieren.

Die letztlich harmlose Handshake-Verweigerung hat wieder einmal diffuse Bedrohungsgefühle freigesetzt und Gelegenheit geboten, eine gefährliche Kluft zwischen «uns» und dem «Anderen» auszumachen. Der in diesem Fall nur schwache Gegensatz wurde verschärfend zu einer Wegbereitung für Ehrenmorde, Genitalverstümmelung und Terrorismus ausgeweitet. Als im vergangenen Herbst ein aus Marokko stammender Utrechter Fussballer (Nacer Barazite) einer Journalistin die Hand nicht geben wollte, erhielt auch er prompt die Aufforderung, «sich vom IS rekrutieren zu lassen».

Politisch endet das, wie zu erwarten, in SVP-Vorstössen.

Politisch endet das, wie zu erwarten, in SVP-Vorstössen, die in der Presse bezeichnenderweise mit «Breitseite gegen den Islam» angezeigt werden. Die Breitseite ist möglicherweise auch nur ein Pfupf. Dank der Händeschüttel-Affäre will sich nun die basellandschaftliche SVP, die bisher nicht durch Engagement in Sachen Gleichstellung der Geschlechter aufgefallen ist, plötzlich mit einer entsprechenden Motion im Landrat für die «Gleichstellung von Lehrerinnen und Lehrern» starkmachen.

Ausgehend von der SRF-«Arena» frass sich die Händedruck-Hysterie dank der massiven Brandbeschleunigung der «Schweiz am Sonntag» und mitgetragen vom medialen Begleitfeuer der AZ-Medien, des «Tagi» und – unvermeidlicherweise – auch der «Basler Zeitung», durch die schweizerische Gesellschaft hin zur nächsten «Arena» vom 8. April mit dem Thema «Staat und Religion». Erstaunlich stoisch und darum Anerkennung verdienend die NZZ, die es aushielt, eine ganze Woche dazu zu schweigen – und dem Medienpopulismus zu widerstehen.

Nicht die beiden Therwiler Buben sind das Problem, sondern die Skandalgelüste der Medien-Kundschaft.

Aber was war die Rolle der anderen Medien? Waren sie eher Spiegel oder Motor dieser völlig unverhältnismässigen Aufwallung? Sie waren beides, aber sicher vor allem Motor, indem sie ein Thema hochfuhren, bei dem sie sicher sein konnten, bei ihrer Kundschaft gut anzukommen. Die Skandalgelüste dieser Kundschaft sind das Problem, nicht die beiden Therwiler Buben. Die empörte Masse kann man aber nicht einmal mit dem Hinweis beruhigen, die Weigerung sei bloss pubertärer Opposition entsprungen. Denn beide Jünglinge werden als sehr höflich und zuvorkommend beurteilt.

Respekt könnte man auch mit anderen Gesten zum Ausdruck bringen

Eigentlich ist den meisten bewusst, dass der Handschlag nur eine äussere Geste ist, in vielen Fällen eine inhaltsleere Banalität, zuweilen aber auch Ausdruck von Respekt. Respekt könnte man allerdings auch mit anderen Gesten zum Ausdruck bringen, mit Hand aufs Herz (natürlich das eigene), mit einem Kopfnicken oder einem Salutieren. Es fällt auf, dass die auch von Nichtmuslimen praktizierte Vermeidung der Körperberührung automatisch als Respektlosigkeit angesehen wird, obwohl sie auch im Gegenteil begründet sein kann.

Der Händedruck ist etwas, bei dem offensichtlich alle eine einfache Meinung haben und mitreden können. Obwohl es im Kern der Debatte gar nicht darum geht, könnte man doch einen Moment darüber nachdenken, was ein solches Kollektivritual in der Schule eigentlich soll. Wesentlich wichtiger sind jedenfalls Biologieunterricht, Religionskunde und Schwimmstunden.

Es ist eine für uns selbstverständliche Praxis, wenn man einen ganzen Morgen miteinander verbracht hat. Wenn aber das Lehrpersonal im Stundentakt wechselt? Was auf Sek.-Stufe I offenbar zur Selbstverständlichkeit gemacht wird (denn das war nicht immer so), entfällt auf der Stufe Sek. II. Es wird, was doch ebenfalls erstaunen könnte, nun nicht mehr erbracht und nicht mehr eingefordert. Jetzt gehört es plötzlich nicht mehr zur zwingend einzuhaltenden «schweizerischen Kultur» (Simonetta Sommaruga). Warum funktionieren KV-Kurse und Universitäts-Seminarien ohne diese «Respektsbezeugung»?

Solche Debatten sind aber auch Chancen für dialektisches Denken und zweite Einsichten nach ersten Stellungnahmen.

Solche Debatten setzen fixe Positionen frei, die wie Kanonen ausgefahren werden, damit «Breitseiten» abgefeuert werden können. Solche Debatten sind aber auch Chancen für dialektisches Denken und zweite Einsichten nach ersten Stellungnahmen.

So könnte man nach der imperativ gemeinten und nicht nur deskriptiv verstandenen Meinung, Händeschütteln gehöre zu unserer Kultur, in einer zweiten Phase – nach etwas Reflexion – zum Schluss kommen, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht darauf angewiesen sei, in diesem Punkt beinahe totalitär Gleichschaltung einzufordern. In diesem Sinne folgte in den Basler «Onlinereports» aufs erste Hurra übers breite Einfordern «geltender Sitten» die wohltuende Kolumnistinnen-Reaktion der Basler CVP-Präsidentin Andrea Strahm, einer Mutter mit Schulkinder-Erfahrung: «Gefragt ist Gelassenheit».

Es ist zu hoffen, dass die angerufene Erziehungsdirektion nun ebenfalls Entwarnung geben wird.

Besonnene Romands

Der Tsunami im helvetischen Wasserglas war und ist eine fast ausschliesslich deutschschweizerische Sache. Es tut aber gut, das gleiche Thema, soweit es über den «Röstigraben» schwappte, auch in der Presse der Romandie anzuschauen. Die wenigen Reaktionen deuten darauf hin, dass man da die Frage viel ruhiger angeht und sich, wie eine Leserbriefschreiberin, eher über die «modes tyranniques» des häufigen Händeschüttelns aufhält («24 heures», 1. April).

Nochmals zu unserer Bundesrätin Sommaruga: Sie war da, meines Erachtens, in eine typische Medienfalle getappt, hat sich etwas zu schnell geäussert. Sie hätte ja erklären können, dass Schulpolitik nicht Bundessache sei. Aber sie war, da sie permanent Gegensteuer zur übertriebenen Panikmacherei in Flüchtlingsfragen geben muss, vielleicht froh, auch einmal etwas Kritisches zu Immigration und Integration sagen zu können. Andererseits kann man sich gut vorstellen, dass sie, insbesondere wenn sie nach Brüssel fliegt und dort von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker umarmt wird, vielleicht doch froh wäre, wenn dieser ein wenig «muslimische» Distanz zu Frauen pflegen würde.

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Reinhard Schulze: «Der Koran und die Genealogie des Islam». Schwabe Verlag, Basel 2015, 680 Seiten.

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