Der Vergewaltiger in der Gewalt des Rechtsstaats

Ein todgeweihter Sexualstraftäter bleibt nach über 20 Jahren Haft weiter eingesperrt. Um jedes Restrisiko zu vermeiden, ignorieren die Vollzugsbehörden auch Gerichtsbeschlüsse.

Gefahr für die Gesellschaft: Marcel Habegger (Name geändert) bleibt in Sicherheitshaft – obwohl er schwerstkrank ist. (Bild: zVg)

Ein todgeweihter Sexualstraftäter bleibt nach über 20 Jahren Haft weiter eingesperrt. Um jedes Restrisiko zu vermeiden, ignorieren die Vollzugsbehörden auch Gerichtsbeschlüsse.

Als Jürg Luginbühl aus dem Hof des Gerichts für Strafsachen auf die Strasse tritt, perlt der Schweiss an seiner Stirn. Der Anwalt wischt sich mit dem Anzugärmel über das Gesicht, er lächelt, so wie Menschen lächeln, denen es die Sprache verschlagen hat.

Seine Anwaltskollegen hatten ihn davor gewarnt, nach Basel zu kommen, wo kaum einmal ein Zürcher Strafverteidiger vor Gericht auftritt. Vielleicht hätte er auf sie hören sollen. Er habe in diesem Verfahren Dinge erlebt, die er in 28 Jahren als Strafverteidiger noch nicht angetroffen habe, sagt Luginbühl, Spezialist für harte Fälle, wie den «Babyquäler» René Osterwalder.

Am Tag danach reicht er seinen Kommentar zum Urteil nach: «Richter und Behörden funktionieren in solchen Fällen nurmehr als Erfüllungsgehilfen einer diffusen gesellschaftlichen Befindlichkeit, die nach absoluter Sicherheit schreit. Ehemalige Täter werden dabei zu Opfern, die bis an ihr Lebensende eingemauert bleiben. Strukturelle staatliche Gewalt tritt an die Stelle der oft Jahrzehnte zurückliegenden physischen Gewalt.»

Luginbühl überlegt kurz, dann sagt er: «Wer so tickt, sollte ehrlicherweise laut über die Todesstrafe nachdenken.»

Verurteilt, hinter Gittern zu sterben

Sein Klient, der Sexualstraftäter Marcel Habegger*, wird am Telefon davon erfahren, dass das Basler Strafgericht eine Verlängerung der Sicherheitshaft und der stationären Massnahme von fünf Jahren angeordnet hat. Es ist die gesetzlich maximale Dauer bis zur nächsten Überprüfung in der «kleinen Verwahrung».

Habegger hat nicht die Todesstrafe erhalten, aber die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass er im Gefängnis sterben wird.

An der Verhandlung konnte er nicht teilnehmen, der Anstaltsarzt hielt die Belastung nicht für zumutbar. Habegger leidet an der Lungenkrankheit COPD, im Volksmund Raucherlunge genannt. Die Ärzte haben ihm eine Lebenserwartung von wenigen Jahren beschieden bei stetiger Verschlechterung seines Zustands.

Treppen kann er nicht gehen, sein Bewegungsradius liegt bei 20, 30 Metern, er ist auf permanente Sauerstoff- und Morphiumversorgung angewiesen. Habegger hat nicht die Todesstrafe erhalten, aber die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass er hinter Gefängnismauern sterben wird.

Schläuche in der Nase

Frühjahr 2014, ein halbes Jahr vor dem entscheidenden Gerichtstermin. Besuchszelle der Bewachungsstation im Berner Inselspital. Ein massiger Polizist mit ausrasiertem Nacken öffnet die Tür und schiebt Habegger im Rollstuhl in den kahlen Raum. Eine dicke Glasscheibe trennt das Zimmer in der Mitte, an der Wand ist ein Alarmknopf installiert, auf dem Holzbord vor der Scheibe ein Regler für die Lautstärke der Gegensprechanlage. Aus Habeggers Nase verlaufen zwei dünne Silikonschläuche zu einer Sauerstoffflasche an der Rückseite seines Rollstuhls.

Habegger hat schütteres graues Haar, seine Haut wirkt brüchig und vergilbt wie die Tapete eines alten Hauses, in dem viel geraucht wurde. Seine grossen, schwarzen Augen treten ungewöhnlich stark aus dem Gesicht hervor. Er sei durch die Krankheit abgemagert, sagt er in einem schwer verortbaren Dialekt, auch geistig gehe es ihm nicht gut: «Was sie mit mir gemacht haben, ist psychische Folter.»

Vergewaltigung im Velokeller

Als Folter bewerteten die Gerichte auch, was Habegger seinen Opfern angetan hat. Mitte der 1980er Jahre vergewaltigte Habegger innerhalb weniger Monate drei Frauen. Die erste war seine damalige Ex-Freundin. Kennengelernt hatte er sie über ein Zeitungsinserat, das er aus dem Gefängnis heraus geschaltet hatte.

Habegger sass wegen kleinerer Delikte in Regensdorf ein. Den weihnachtlichen Hafturlaub verbrachten sie zusammen, sie besuchte ihn regelmässig im Gefängnis. Als Habegger Angst bekam, sie könnte die Beziehung beenden, begann er, Drohungen auszustossen. Nach seiner Entlassung suchte er sie auf und vergewaltigte sie mehrfach mit vorgehaltenem Messer.

Kurz darauf vergeht er sich an einer Drogensüchtigen, der er Kokain anbietet und sie unter diesem Vorwand in einen Velokeller lockt. Ein paar Monate später klopft er bei einer Frau an die Tür, die er wiederum über ein Inserat kennengelernt hatte; er dringt in die Wohnung ein, verletzt die Frau mit einem Messer an der Hand und vergewaltigt sie. Dann nimmt ihn die Polizei fest.

«Explosiver Herd»

1987 verurteilt ihn das Basler Strafgericht zu acht Jahren Haft, und wandelt die Strafe in eine Verwahrung um. Habegger wird mit einem «explosiven Herd» verglichen, «der seit langer Zeit kocht und sich permanent neu und zusätzlich mit giftigem Material anfüllt.»

1991 wird Habegger auf Bewährung entlassen. Bereits ein halbes Jahr später explodiert der Herd erneut. Habegger versucht die achtjährige Tochter einer Bekannten zu vergewaltigen, als diese nicht zuhause ist. Vor Gericht bestreitet er die Absicht, spricht von einem Missverständnis.

Doch die gefundenen Spuren und die Schilderungen des Kindes lassen keine Zweifel. Die Richter verurteilen ihn zu zwei Jahren Gefängnis und ordnen wiederum die Verwahrung an.

20 Jahre Haft am Stück

Habegger wird weggesperrt. Multiple Dauerkriminalität nennen sie vor Gericht seine Verhaltensweise. Der heute 63-jährige hat den grössten Teil seines Lebens in Gefangenschaft verbracht. Von früher Jugend an eckt er an, landet in Erziehungsheimen. Mit 16 Jahren folgt die erste Einweisung in eine geschlossene Anstalt, daran schliessen kleinere Gefängnisstrafen an.

Zwischen den Gefängnisaufenthalten arbeitet er als Gehilfe in einer Küche, eine Zeit lang begleitet er einen bekannten Schweizer Sachbuchautor, den er hinter Gittern kennengelernt hatte, auf Vortragsreisen. Kokain, Alkohol, sexuelle Eskapaden, Habegger wandelt im Rausch durch seine jungen Jahre.

Probleme, Partnerinnen zu finden, hat er nie, auch heute, als schwerkranker 63-Jähriger in Verwahrung führt er eine Fernbeziehung zu einer Lehrerin in Basel, wo der gebürtige Ostschweizer lange lebte. Ein Dutzend psychiatrischer Gutachten wurden bis zum heutigen Tag über ihn erstellt.

Als Kind verprügelt

Die Sachverständigen stellen eine unreife Sexualität fest und eine «diffuse geschlechtliche Identität». Beziehungen zu Männern wie zu Frauen würden einem sadomasochistischen Muster folgen, wobei sich Habegger stets in der Rolle des Opfers sehe. «Er nimmt seine eigenen sadistischen Anteile nicht wahr und projiziert sie auf sein Gegenüber», schreiben die Gutachter. Seine sexuellen Aggressionen würden sich je nach Konstellation gegen Frauen oder Kinder richten. Besonders, wenn Alkohol oder Drogen im Spiel sind, seien heftige, unkontrollierbare Reaktionen zu erwarten.

Seit 20 Jahren ist Habegger nun ohne Unterbruch oder Haftlockerung eingesperrt.

Sein Vater sagt über ihn, er habe seine Freundinnen «bis aufs Blut ausgenutzt». Vor Gericht wird auch klar: Der Vater hat Habegger als Kind regelmässig verprügelt.

Es ist diese lange Liste an Gewaltakten gegen Schwächere, die die Behörden zögern liessen, Habegger zu entlassen, obwohl er seine Strafe längst verbüsst hat. Seit 20 Jahren ist er nun ohne Unterbruch oder Haftlockerung eingesperrt. Unzählige Therapien haben zwar zu einer Besserung geführt, ganz wegtherapieren liess sich seine Persönlichkeitsstörung nie. Auch die lange Haft hat sich auf seine Psyche und die Chancen, wieder in die Gesellschaft zurückfinden zu können ausgewirkt. Man könnte sagen: Habegger muss eingesperrt bleiben, weil er solange eingesperrt ist.

Ein Gerichtsbeschluss bleibt Makulatur

Am 12. Dezember 2012 öffnet sich Habegger eine Tür. Das Basler Strafgericht unter dem Vorsitz des Gerichtspräsidenten Marc Oser (SVP) verfügt, dass er nur noch ein Jahr in Sicherheitshaft zu bleiben hat. Das Jahr soll dazu genutzt werden, den Dauersträfling auf das Leben in Freiheit vorzubereiten.

Stufenweise solle die Haft gelockert werden und in diesem Jahr der Wechsel in den offenen Vollzug erfolgen. In drei bis fünf Jahren, so die Prognose des Gutachters, sei Habegger soweit, dass man ihn vollständig entlassen könne.

Dazu soll die Therapie umgestellt werden: Sie würde nicht mehr auf die «Umstrukturierung seiner Persönlichkeit» abzielen. Sie solle, wie es im Gerichtsbeschluss heisst, «geistig Abnorme befähigen, mit ihrer geistigen Abnormität sozialverträglich umzugehen.» Es wirkt, als wolle man ein Zootier auf die Wildnis vorbereiten.

Verschleppte Verfügung

Habegger ist euphorisch, doch dann passiert: nichts. Das für die Umsetzung zuständige Amt für Justizvollzug Basel-Stadt sistiert den Gerichtsbeschluss still. Erst nach Montaten erlassen die Beamten auf Druck von Anwalt Luginbühl eine anfechtbare Verfügung. Erst dann kann er dagegen Beschwerde einlegen.

Nicht alles ist für Laien nachvollziehbar im Schweizer Rechtssystem. Das Gericht kann einen Menschen zwingen, ins Gefängnis zu gehen, doch es kann den Staatsapparat nicht dazu bringen, diesen Menschen auch wieder rauszulassen. Jedenfalls nicht unmittelbar.

Denn die Umsetzung des Urteils ist Aufgabe der Verwaltung. Auch für die Behandlung der Rechtsverweigerungsbeschwerde ist kein Gericht, sondern erstinstanzlich das Justiz- und Sicherheitsdepartement zuständig, wovon das Amt für Justizvollzug Teil ist. Entsprechend langsam wird im Fall Habegger die Beschwerde behandelt.

Zusammenbruch im Thorberg

Das Amt versäumt es auch, Habegger an einen Ort zu verlegen, wo seine Krankheit behandelt werden kann. Dreimal ist er in Thorberg zusammengebrochen, dreimal notfallmässig ins Inselspital eingeliefert worden. Als er das letzte Mal das Bewusstsein verliert, wird es gerade Nacht in Thorberg. Im Zellentrakt summt das Neonlicht. Die Wärter haben die Gefangenen eingeschlossen in die Enge ihrer Zelle und ihrer Gedankenwelt.

Längst hätte der Häftling nicht mehr in Thorberg sein dürfen, sondern in einem pflegerischen Spezialsetting,

Habegger ist alleine in seiner Zelle. Sein Brustkorb schlägt auf und ab, sein Lunge stampft wie eine Pumpe, die nicht mehr nachkommt. Jetzt sterbe ich, schoss ihm in den Kopf. Dann wird alles schwarz um ihn, erst am Morgen findet ihn die Wache.

Längst hätte er nicht mehr in Thorberg sein dürfen, sondern in einem Spezialsetting, das ihm nebst der medizinischen Behandlung auch die zur Massnahme gehörende Therapie ermöglicht. Monatelang mahnen Anstaltsleitung und die Berner Verwaltung, die Basler Vollzugsbehörde müsse dringend handeln und eine neue Unterbringung suchen.

Das Amt bleibt untätig. In den Gerichtsakten findet sich eine Aussage von Amtsleiter Dominik Lehner, wonach es für Habegger, einen schwerkranken, alternden Verwahrten in der Schweiz keine geeignete Institution gebe. Mehrmals blockiert Lehner Interventionen von Anwalt Luginbühl, oder anderen Involvierter mit diesem Argument.

Ein Brief aus Bern sorgt für Unruhe in Basel

Während Habegger diesen Frühling im Inselspital liegt, läuft ein intensiver Schriftwechsel im Hintergrund. Bern macht Druck auf Basel. Im Februar schreibt Martin Kraemer, Amtsvorsteher des Berner Amts für Freiheitsentzug und Betreuung an seinen Basler Kollegen Lehner: «Angesichts der multiplen malignen Diagnosen des polymorbiden Insassen steht eine Rückkehr ausser Frage.» Die Anstalten Thorberg könnten für einen derartigen Vollzugsfall nicht als geeignete Vollzugseinrichtung in Betracht gezogen werden.

Kraemer weiss, wie heikel das Gebaren der Basler ist, die jede Handlungsverantwortung von sich weisen. Er schreibt: «Ich verzichte darauf, die Protokollstelle und Interpretation zur Kompetenz- und Zuständigkeitszuweisung für die Prozessverantwortung gegenüber dem Insassen bzw. seinem Rechtsvertreter zu offenbaren, um nicht noch zusätzlichen Wirbel auf Nebenkriegsschauplätzen (Medien, Regierungen, Parlamente) heraufzubeschwören.»

Aufwendige tägliche Betreuung

Das Schreiben sorgt für Unruhe in Basel. Plötzlich wird, nachdem dies jahrelang als unmöglich erachtet wurde, doch noch eine Lösung gefunden. Habegger wird nach viermonatigem Aufenthalt im Inselspital in das Zuger Gefängnis Bostadel eingewiesen. Dazu wird eigens für ihn ein aufwendiges Sondersetting mit täglicher Betreuung eingerichtet.

Am Gerichtstermin Ende September ist das der letzte Baustein, der dem Gericht ermöglicht, die Massnahme zu verlängern. Das Amt für Justizvollzug forderte, nachdem es die Umsetzung des alten Urteils erfolgreich blockiert hatte, fünf Jahre in Haft anzuhängen, später eventuell erneut die Verwahrung auszusprechen.

Das Gericht findet das Gutachten «keine Meisterleistung». Doch es reicht ihm, um die Sicherheitshaft auszudehnen.

Mit einem neuen Gutachten wird das alte für nichtig erklärt. Habegger sei trotz fortschreitendem Krankheit weiterhin als gemeingefährlich zu erachten. Obwohl er physisch stark eingeschränkt sei und sexuell nicht mehr in der Lage dazu ist, könne man sich Formen vorstellen, wie er Gewalt gegenüber Kinder ausüben könnte.

Dass das Rückfallrisiko mit zunehmendem Alter deutlich kleiner wird, verneint der neue Psychiater, den Einfluss der Krankheit erachtet er als minim. Der Gutachter arbeitete in den Augen von Anwalt Luginbühl hauptsächlich mit Hypothesen, wichtige Studien habe er ignoriert.

Das Gutachten ist, wie Richter Oser einräumt, «keine Meisterleistung». Doch es reicht dem Gericht, um die Sicherheitshaft auszudehnen. Man wolle Habegger die Zeit geben, die er brauche, um weitere Therapierfolge zu erzielen und sich besser vorzubereiten, auf das Leben ausserhalb von Stacheldraht und dicken Mauern. Dies sei in den Jahren seit dem letzten Urteil nicht passiert. Dass das Amt für Justizvollzug nicht dafür gesorgt hatte, dass sei wohl so, «doch darauf haben wir keinen Einfluss.»

Sicherheit geht über Gerechtigkeit

Strafverteidiger Jürg Luginbühl ist baff. Der Fall sei exemplarisch für den «Sicherheitswahn» im Schweizer Rechtssystem, für die Verschiebungen, die passiert sind, und der Freiburger Rechtsphilosoph Marcel Niggli am Wandel der Begriffe ersichtlich macht: Die Justiz will nicht mehr Gerechtigkeit herstellen, sondern Sicherheit. Sie beurteilt nicht mehr Tatsachen, sondern Risiken, nicht mehr die Vergangenheit, sondern die Zukunft. Sie verhängt keine Strafen, sondern ordnet Massnahmen an. Verhandelt wird nicht mehr das Individuum, im Fokus der Aufmerksamkeit der Justiz steht die Gesellschaft.

Im repressiven Strafrecht war eine Tat irgendwann verbüsst, eine Strafe abgesessen. Im präventiven Strafrecht unserer Zeit lassen sich immer Restrisiken finden.

Dass Luginbühl in Berufung geht, ist unwahrscheinlich. Er will den Fall abgegeben, nachdem ihm das Gericht das Honorar um fast die Hälfte gekürzt hat. «Damit kann ich kaum die Bürokosten decken.»

Der Traum vom Altersheim

Also wird Marcel Habegger ein neuer Anwalt zugeteilt werden, er wird sich einarbeiten müssen, hunderte Seiten Akten lesen, er wird sich mit den Basler Behörden herumschlagen, wird Beschwerden und Rekurse schreiben. Bis bei Habegger in fünf Jahren vielleicht keine Restrisiken mehr erkannt werden, er entlassen wird und seinem Wunsch gemäss in einem Altersheim langsam stirbt. Wenn er dann nicht bereits tot ist.


* Marcel Habegger ist ein Pseudonym. Er wäre bereit gewesen, sich mit Name und Bild präsentieren zu lassen, aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verzichten wir aber darauf.

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