Die Biografie über Karl Alois Deiss zeichnet den tragischen Lebensweg eines Ausgestossenen nach. Gleichzeitig zeigt das Buch die Hilflosigkeit der Schweizer Gesellschaft gegenüber Mitmenschen im sozialen Abseits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Fremdenlegionär, Trinker, Verwahrter: Karl Alois Deiss.
In der Basler Irrenanstalt Friedmatt spricht und schreibt Karl Alois Deiss konsequent Französisch. Er behauptet, er sei ein Offizier Napoleons. Das glaubt er allerdings selbst nicht. Deiss war nicht auf diese Art verrückt.
Überhaupt war er seltener in einer Irrenanstalt als im Zuchthaus. Insgesamt 15 Jahre seines erwachsenen Lebens verbrachte er zwischen 1916 und 1960 in Gefängnissen und Arbeitslagern, meist wegen «liederlichem Lebenswandel» oder Trunkenheit. Immer wieder tauchte er in Basel auf, wo er manchmal einen Schlafplatz für etwas Haushaltsarbeit fand, manchmal von der Polizei aufgegriffen wurde. Der Alkohol war sein ständiger Begleiter.
Karl Alois Deiss war das, was man einen «Wanderarbeitslosen» nennt, Angehöriger einer sozialen Randgruppe der Schweiz aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Er fand nie eine passende Arbeit und blieb sozial isoliert – war aber ein intelligenter und musisch begabter Mensch.
Die Wanderarbeitslosen sind bisher durch das Raster der Geschichtsforschung gefallen.
Sein tragisches Schicksal stellt der Hobbyhistoriker Gerhard Trottmann aus Mumpf, wo Deiss Bürger war, in einer Biografie dar – und zeigt zugleich die Hilflosigkeit der Schweizer Gesellschaft jener Jahrzehnte, die mit einem wie Deiss nicht umzugehen wusste. Er habe sich immer als «der Verführte und Verfolgte» empfunden, urteilte die Basler Irrenanstalt Friedmatt. Trottmann sagt: «Er gehörte zu den Menschen, die von keinem sozialen Netz mehr aufgefangen wurden.»
«Über Schicksale von Verdingkindern, Heimkindern, ausserehelich Geborenen, Behinderten und Jenischen gibt es diverse Abhandlungen, die deren Verhältnisse und Umstände ausleuchten», sagt Trottmann. Die Wanderarbeitslosen jedoch seien bisher durch das Raster der Geschichtsforschung gefallen: «Vermutlich weil sie immer Individuen und nie Teil einer Gruppe, die gemeinsam litt, waren.»
Deiss war tatsächlich einer dieser Einzelgänger: Von seiner Familie im Oberfricktal verstossen, suchte er sein Glück in der Fremdenlegion, wo er vermutlich auch seine Französischkenntnisse erwarb. Deiss wurde angeschossen, trug schwere Verbrennungen davon und liess sich Haut transplantieren. Zwei Jahre bevor er Anspruch auf eine Rente gehabt hätte, wurde er entlassen.
Sein Bruder Anton ist Staatsanwalt in Basel; wie die restliche Familie will er mit Karl Alois nichts zu tun haben.
In den Jahren von 1916 bis 1960 schreibt er rund 20 Bettelbriefe pro Jahr an den Gemeinderat von Mumpf, der von Gesetzes wegen für seinen Bürger verantwortlich ist. Durch diese zahlreichen Briefe, viele in Gedichtform verfasst, stiess Trottmann auf Deiss’ Schicksal. Der Gemeinderat habe ihn als «Vaganten, Landstreicher, Flottanten, Gesindel und Asozialen» bezeichnet, ihm aber bisweilen Fahrgeld für eine Bewerbung geschickt.
Einmal kam Deiss sogar in ein Arbeitslager im Wallis. Doch alle Bemühungen der Behörden, Deiss zur Arbeit zu erziehen, blieben fruchtlos. Bereits 1917 erpresst er lieber einen reichen Berner mit dessen Homosexualität, bis dieser sein Vermögen über sein Ansehen stellt und er Deiss bei der Polizei anzeigt.
Am 19. Juli 1933 wird Karl Deiss erstmals für kurze Zeit wegen übermässigem Alkoholkonsum in die Irrenanstalt Friedmatt eingeliefert. Er wähnt sich als Opfer einer Intrige und fühlt sich von den anderen Insassen bedroht. Sein Bruder Anton ist Staatsanwalt in Basel; wie die restliche Familie will er mit Karl Alois aber nichts mehr zu tun haben.
Der Anstaltsarzt gibt ihm ein leeres Blatt. Deiss liest davon einen Marschbefehl ab.
1939 ist Deiss ein weiteres Mal in der Friedmatt; es ist der Aufenthalt, bei dem er konsequent nur französisch spricht und sich als der 240 Jahre alte André Lyautey ausgibt. «Der Anstaltsarzt gibt ihm ein leeres Blatt», schreibt Trottmann: «Deiss liest davon einen Marschbefehl ab!»
Er schreibt sogar einen Brief an den «Gesundheits- und Hygieneminister» in Paris und beschwert sich, dass er in der Stadt «Baal» zu Unrecht eingesperrt sei. Am nächsten Tag erklärt er sich selbst zum Präsidentschaftskandidaten in Frankreich.
Schliesslich verrät Deiss sich jedoch, als er stellvertretend für seinen Bettnachbarn eine Rechenaufgabe richtig löst, die jenem im Basler Dialekt gestellt wurde. Er gibt zu, er wolle einfach kein Deutsch mehr reden, weil er sich von seinem Bruder im Stich gelassen und von den Schweizer Behörden gegängelt fühle. In Frankreich habe er keine Konflikte erlebt.
Gerhard Trottmann verfasste die Biografie des Wanderarbeitslosen Karl Alois Deiss. (Bild: Boris Burkhardt)
Trottmann ist deshalb überzeugt, dass Deiss mit der richtigen sozialen und ärztlichen Unterstützung vielleicht ein produktiver Mann der Feder hätte werden können: Das zeigt tatsächlich auch die Korrespondenz, die er während seiner Aufenthalte mit den jeweiligen Direktoren der Gefängnisse und Irrenanstalten führt.
In Lenzburg verfasst er eine zehnseitige Abhandlung über seine Erfindung des «kombinierten dreirädrigen Ruder-, Land- und Wasser-Veloboots», von dem er sich eine erfolgreiche Produktion in einer Mumpfer Fabrik erwartet. Als er das fünfte Mal in Lenzburg einsitzt, schreibt er ein Theaterstück, in dem er selbst die tragische Hauptfigur spielt, die von den Wärtern in den Tod getrieben wird.
Tatsächlich hat Deiss immer die Angst vor dem Sterben begleitet, wie Trottmann recherchierte: In Lenzburg schrieb er eine genaue Anleitung für seine Beerdigung samt Grabspruch und Trauerrede.
Sprung von der Brücke
Mindestens zweimal versuchte er mehr oder weniger überzeugend, sich in Basel von der Mittleren Brücke zu stürzen. Das erste Mal, vor der Einlieferung in die Friedmatt 1933, springt er tatsächlich, macht aber im Wasser selbst schreiend auf sich aufmerksam, bis er gerettet wird.
Beim zweiten Mal, 1952, hat er sich bereits seiner Kleider entledigt und steht auf der Brüstung, als ihn ein Polizist packt. Deiss sagt aus, er habe nach Strassburg schwimmen wollen: Wäre er unterwegs ertrunken, «hätte es auch nichts geschadet». Es folgt sein dritter Aufenthalt in der Basler Irrenanstalt.
Erst gegen Ende seines Lebens macht er ernst und nimmt in einem Hungerstreik elf Kilo ab. Bei seiner vierten und letzten Einlieferung in die Friedmatt 1956 stellt der Gerichtsarzt bereits beginnende Demenz fest.
1958 wohnt er bei einem Malermeister Lachenmeier im Klingentalgraben, der ihm die Schlafstelle gegen 30 Franken pro Monat gewährt. 1959 schliesslich wird bei Deiss im Bürgerspital ein Magentumor entdeckt. 1960 stirbt er 74-jährig, mit 37 Kilo Körpergewicht, wie er selbst schreibt, an Magenkrebs.
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Das Buch «Im Irrgarten des Lebens» ist unter der ISBN 978-3-033-05979-5 ab Ende Januar im Buchhandel erhältlich oder vergünstigt direkt bei Autor Gerhard Trottmann (Tel. 062 873 22 02 oder gerhard.trottmann@bluewin.ch).