Der Wille zur Utopie machte Europa stark

Das 70-Jahr-Gedenken zum Ende des Zweiten Weltkriegs lädt zur Rückschau ein. Die Gemeinschaft der EG/EU und ihr Wille, etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen, darf dabei nicht vergessen werden.

(GERMANY OUT) Spiel ohne Grenzen"- Juli 1970 (Photo by ullstein bild/ullstein bild via Getty Images) (Bild: ullstein bild)

Das 70-Jahr-Gedenken zum Ende des Zweiten Weltkriegs lädt zur Rückschau ein. Die Gemeinschaft der EG/EU und ihr Wille, etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen, darf dabei nicht vergessen werden.

Der 8. Mai 1945, der sich jetzt schon zum 70. Mal jährt, gibt Gelegenheit, an zwei wichtige Vorgänge zu erinnern: an das Ende des Zweiten Weltkriegs und an den Anfang des europäischen Vergemeinschaftungsprozesses. Der erste Erinnerungspunkt ist etwas eindeutiger als der zweite. Doch auch der erste Vorgang muss geklärt werden, damit wir uns bewusst werden, woran wir uns eigentlich erinnern.

Der Krieg ist nicht wie ein Gewitter gekommen und dann wieder zu Ende gegangen, nicht wie ein Naturphänomen, das nach einer gewissen Zeit sozusagen von selbst aufhört. Dieses Ende musste erkämpft werden; erkämpft auch von Kräften, die nicht verantwortlich dafür waren, dass der Krieg ausgebrochen war. Der Kampf hatte einen doppelten Zweck, einen sehr direkten und einen sehr indirekten.

Aufbau einer europäischen Gemeinschaft

Das primäre Ziel war die Beseitigung der in Deutschland, Italien und Japan (und bei ihren Verbündeten) herrschenden Unrechtsregimes. Das sekundäre Ziel war die Schaffung einer neuen internationalen Staatenordnung, die sich Zielsetzungen, wie sie in der Atlantik-Charta von 1941 festgehalten waren, stärker verpflichtet fühlt.

Diese Charta darf man sich vergegenwärtigen, auch wenn keine runde Jahreszahl dazu ansteht: Verzicht auf territoriale Expansion, gleichberechtigter Zugang zum Welthandel und zu Rohstoffen, Verzicht auf Gewaltanwendung; Selbstbestimmungsrecht und engste wirtschaftliche Zusammenarbeit aller Nationen mit dem Ziel der Herbeiführung besserer Arbeitsbedingungen, eines wirtschaftlichen Ausgleichs und des Schutzes der Arbeitenden; Sicherheit für die Völker vor Tyrannei, Freiheit der Meere, Entwaffnung der Nationen, um ein System dauerhafter Sicherheit zu gewährleisten. In diesem Geiste wurde im Juni 1945 die UNO gegründet, woran wir uns demnächst ebenfalls erinnern können.

1945 war die Europäische Gemeinschaft noch nicht in Sichtweite. Zunächst dominierte – verständlicherweise – das Bestreben, die kaputten Nationalgehäuse wiederherzustellen. Damit in Westeuropa der schrittweise Aufbau einer Europäischen Gemeinschaft stattfinden konnte, brauchte es als weitere wichtige Voraussetzung die Bedrohung aus dem Osten. Die EG/EU ist nicht wie ein Phönix aus der Asche des Zweiten Weltkriegs gestiegen, sie war vor allem das Produkt der Westlagerbildung in den folgenden Jahren des Kalten Kriegs.

Vom 8. Mai 1945 bis zur Schuman-Rede vom 9. Mai 1950, die nachträglich zum Geburtstag der Europäischen Gemeinschaft gehalten wurde, war ein weiter Weg. Zwar hörten im Mai 1945 die Gemetzel an den Fronten und Luftbombardements des Hinterlands auf, die Gestapo-Zellen öffneten sich und die Konzentrationslager wurden befreit. Sterben in den letzten Tagen des Kriegs erschien besonders sinnlos, weil man sich sagen konnte, dass es mit einem etwas früheren Kriegsende hätte vermieden werden können.

Der Krieg ging nach 1945 noch fünf Jahre weiter – mit Zerstörungen, Hunger, Vergewaltigungen und Vertreibungen.

Der 1970, ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende geborene britische Publizist Keith Lowe erinnert uns zu Recht daran, dass eine Art von Krieg nach dem «ceasefire» vom Mai 1945 noch beinahe fünf Jahre weiterging: mit Abrechnung, Zerstörung, Morden, Hunger und Furcht, Vergewaltigungen und Vertreibung. Aussagekräftiger als der Titel ist (wie so oft) der Untertitel seines 2012 publizierten und seit 2014 auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Buches: «Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950».

Aus dem Panorama des Grauens und des Chaos nur ein Detail: Im Sommer 1945 gab es allein in Berlin 53’000 verlassene Kinder. Die neue Ordnung, zu der man ruhig auch den schwachen, 1949 gegründeten Europarat zählen darf, hat mit der Abtragung dieser Zustände begonnen.

Auch wenn es wenig edelmütig klingt: Nicht Versöhnung zwischen ehemaligen Kriegsgegnern, sondern Bereitschaft zur gemeinsamen Verteidigung der westlichen Freiheit lag dem Vergemeinschaftungsprozess zugrunde. Die Versöhnung kam dann hintennach. Die heute gängige Parole, dass die EG/EU ein Friedensprojekt sei, muss um die Einsicht erweiterte werden, dass sie vor allem ein politisches Verteidigungsprojekt war und die nationalen Gemeinschaften darum etwas relativiert wurden. Dies setzte jedoch voraus, dass man eine motivierende positive Idee von der übergeordneten Gemeinschaft und den Willen dazu hatte, etwas zu schaffen, was es bisher nicht gab.

Historisches Gedenken möchte eine vergessliche Gegenwart zu den wahren und wesentlichen Ursprüngen zurückführen. Darum wird das 70-Jahr-Gedenken gerne dazu benutzt, den inzwischen herangewachsenen Generationen in Erinnerung zu rufen, in welchem Zustand sich Europa 1945 befunden hatte und wie gross die selbstzerstörerischen Kräfte im nationalistisch funktionierenden Europa waren.

Halb volles und halb leeres Glas

Diese Art des Gedenkens in Ehren: Wichtiger erscheint mir, dass unsere Rückblicke die Zukunftsorientiertheit, den damaligen Willen zur Utopie in den Blick bekommen und sie diese zu unserer wegleitenden Besinnung machen.

Zurzeit scheint die Hoffnung auf Europa vor allem ausserhalb von Europa zu liegen: bei Ukrainern, die den Anschluss an den Westen suchen; und bei den vielen Flüchtlingen, die in Europa ankommen wollen. Positive Erwartungen hegen auch weiterhin die jüngeren, seit 2004 beigetretenen EU-Mitglieder.

Wie ist die vorherrschende Stimmung im alten Europa? Nicht gut, und dafür kann man mit Blick auf Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldungen ja auch Verständnis haben. Interessanterweise wird als Abhilfe gegen Europaverdrossenheit nicht so sehr die Belebung einer Idee und schon gar nicht etwa Mut zur Utopie empfohlen, sondern vielmehr eine gute Erzählung über sich selber.

Diese Erzählung muss sich natürlich an dem orientieren, was war. Aber man hat die erzählerische Freiheit, zu erzählen, was wichtig ist. Die Erzählung darf ruhig aufzählen, was bisher erreicht wurde. Dabei kommt man schnell zum bekannten Bild des halb vollen und halb leeren Glases. Das aber ist nur ein statischer Befund und trägt der Tatsache nicht Rechnung, dass dieses Glas einmal ganz leer war und dass es 1945 nicht einmal ein Glas gab.

Die grosse Europa-Erzählung darf sich nicht darauf beschränken, dass 1945 der Krieg vorbei war und wir deswegen dem entstandenen Gebilde Respekt schulden.

Die grosse Europa-Erzählung darf sich jedenfalls nicht darauf beschränken, dass 1945 der innereuropäisch mit militärischen Mitteln ausgetragene Krieg definitiv der Vergangenheit angehörte und wir schon deshalb dem inzwischen entstandenen Gebilde – gewissermassen als Blankocheck – Respekt schulden. Wir brauchen eine Erzählung, die zeigt, was mit welchen Anstrengungen von dieser Utopie realisiert wurde. Dies könnte dann den für die andere Hälfte des Glases benötigten Willen zu weiterer Utopie fördern.

Der holländische Architekt Rem Koolhaas, in verschiedenen Gremien europapolitisch engagiert, hat ein paar gute Anregungen für dieses Programm. Neben der Belebung der Bereitschaft zur Utopie müsse man, ohne deswegen in Untätigkeit zu verfallen, sich Zeit lassen. «Ich finde, wir Europäer brauchen mehr Geduld. Das ist wie bei einer neuen Parkanlage. In der sieht anfangs  auch alles noch ein wenig kahl und unfertig aus. Es nützt aber nichts, sich darüber zu beschweren. Man muss warten können, bis sich die Pflanzen entwickelt haben. Und dass sich in Europa etwas entwickelt – und zwar in rasendem Tempo –, wird wohl niemand bezweifeln.»

Das kann man so sagen, man muss es aber auch belegen. Einen einleuchtenden Beleg gibt die folgende Feststellung: «Dabei ist es grossartig, das es dem (Europäischen) Parlament gelingt, die gewaltigen Gegensätze in Europa verhandelbar zu machen. Aber wir sind verwöhnt, wir wollen immer, dass alles perfekt von Anfang an ist» (Die Zeit vom 12.1.2014). Da anknüpfend, darf man Koolhaas auch anzweifeln, wenn er sagt, dass niemand die Fortschritte anzweifeln wird.

Bekanntlich zweifeln aber viele. Die von Rem Koolhaas nicht zum 70-Jahr-Gedenken des Kriegsendes geäusserten Überzeugungen ermuntern uns jedoch, im Moment des Rückblicks auch nach vorne zu schauen – dies mit dem Willen zu weiteren Realisierungen und mit Geduld.

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