Obwohl jugendliche Sans-Papiers für die Dauer einer Berufslehre eine befristete Aufenthaltsbewilligung beantragen können, wird von dieser Möglichkeit kaum Gebrauch gemacht: Die Anforderungen an die Jugendlichen sind zu hoch.
«Viele Schweizer haben das absurde Gefühl, die Sans-Papiers würden sie mutwillig ausnützen», sagt die Menschenrechtlerin Anni Lanz, die sich seit bald 30 Jahren für Flüchtlinge in der Schweiz einsetzt.
Dabei sieht das Leben vieler Sans-Papiers ähnlich aus wie das von Personen mit Schweizer Pass oder Bleiberecht. Sans Papiers arbeiten, haben oft eine eigene Wohnung, und die Kinder besuchen die reguläre Schule. Doch am Ende der Schulzeit steht für viele ein grosses Fragezeichen.
Bis vor knapp zwei Jahren war der einzige Weg, als Sans-Papiers in der Schweiz eine Ausbildung zu absolvieren, die Härtefallregelung für die ganze Familie. In deren Rahmen können Familien, die schon lange in der Schweiz leben und besonders gut integriert sind, Bleiberecht beantragen. Den meisten Jugendlichen blieb also nach der Schule lange Zeit nur der Schritt in die Schwarzarbeit.
Die neue Regelung erfüllt ihren Zweck nicht
Im Februar 2013 wurde im Bundeshaus eine neue Regelung verabschiedet, die die Zukunftsaussichten jugendlicher Sans-Papiers von Grund auf verändern sollte: Aufgrund einer Motion des Genfer CVP-Politikers Luc Barthassat führte der Bundesrat einen neuen Artikel ein, der besagt, dass jugendliche Sans-Papiers unter bestimmten Bedingungen für die Dauer einer Berufslehre ein befristetes Aufenthaltsrecht beantragen können.
Diese Änderung hätte die Zukunftsaussichten für Sans-Papers tatsächlich grundlegend verändern können. Doch das Ganze hat einen Haken: Von der neuen Regelung machte bisher kaum jemand Gebrauch. Nur zwei Sans-Papiers erhielten bisher auf diesem Weg eine Bewilligung, einige weitere Gesuche sind noch in den Kantonen hängig.
Olivia Jost, Co-Leiterin der Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel, sagt: «Die Bedingungen, an welche die Regelung geknüpft ist, sind viel zu restriktiv!» So werden laut Verordnungstext nur Gesuche von Jugendlichen berücksichtig, die ihre Identität und diejenige ihrer Familie offenlegen, die Schule in der Schweiz während fünf Jahren ununterbrochen besucht haben, gut integriert sind und die Rechtsordnung respektieren. Und die innerhalb von 12 Monaten eine Lehrstelle gefunden haben, wo die normalen Lohn- und Arbeitsbedingungen eingehalten werden.
«Die Jugendlichen haben Angst um sich und ihre Familien»
Jost sagt: «Viele Jugendliche ziehen es gar nicht erst in Erwägung, ein solches Gesuch einzureichen.» Denn das Risiko, das damit verbunden ist, ihre Identität und diejenige ihrer Familien offenzulegen, ist oftmals zu gross. Zudem seien nur wenige Arbeitgeber dazu bereit, ihrerseits ein Risiko auf sich zu nehmen und einen Lehrling einzustellen, der die Lehre eventuell gar nicht abschliessen kann. Denn das Verfahren von der Gesuchseinreichung bis zum definitiven Bescheid kann bis zu eineinhalb Jahre dauern.
Die Nationale Plattform zu den Sans-Papiers fordert, dass für eine befristete Bewilligung zu Ausbildungszwecken nicht mehr so viele Auflagen erfüllt werden müssen.
Jost präzisiert: «Die betroffenen Jugendlichen sollten nicht von Anfang an gezwungen werden, ihre Identität offenzulegen. Ausserdem zeugt die Tatsache, dass sie eine Lehrstelle gefunden haben, bereits von einer guten Integration in der Schweiz, weitere Belege, etwa der fünfjährige Schulbesuch, sollten daher hinfällig sein. Zudem sollten Familienangehörige für die Dauer ihrer Ausbildung eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Schliesslich sollten die betroffenen Jugendlichen eine Bescheinigung für die Lehrstellensuche erhalten, und die Gesuche sollten innerhalb von einem Monat beantwortet werden.»
Die Anforderungen an die Jugendlichen seien «völlig übertrieben»
Was von den Jugendlichen verlangt werde, ist laut Jost völlig übertrieben: «Man muss heute anhand von externen Referenzen, guten Schulzeugnissen und ausserschulischen Aktivitäten belegen, dass es sich wirklich um aussergewöhnliche Jugendliche handelt. Dabei sollten ganz gewöhnliche Jugendliche die Chance auf eine Lehrstelle haben, ein Lehrvertrag sollte also reichen.»
Auch die Menschenrechtlerin Anni Lanz, Sekretärin der Nationalen Plattform zu den Sans-Papiers, macht aus ihrer Enttäuschung über die restriktive Ausgestaltung der Regelung keinen Hehl. «Wir haben uns von dieser Änderung mehr versprochen», sagt die bald 70-Jährige, «zumal es die Frucht einer jahrelangen Kampagne war.»
An die Anfänge jener Kampagne erinnert sie sich gut, sie wurde von Pierre-Alain Niklaus angeregt, der in Basel die erste Anlaufstelle für Sans-Papiers in der Deutschschweiz führte. «Unter dem Slogan ‹Kein Kind ist illegal› setzten wir uns für die jungen Sans-Papiers ein», erinnert sich Lanz. Bald habe sich die Lehren-Thematik als geeigneter politischer Vorstoss herauskristallisiert.
Zusammenarbeit mit der Politik komplizierter als früher
2008 reichte CVP-Politiker Luc Barthassat seine Motion zu den Sans-Papiers-Lehren ein, vier Jahre später kam er durch das Bundesparlament. «Es war haarscharf, wegen einer Stimme Unterschied wurde die Motion im Ständerat angenommen. Mehrere bürgerliche Politiker setzten sich für sie ein.» Aufgrund der ernüchternden Erfolgsbilanz müssten diese Erfolge nun relativiert werden, sagt Lanz.
Die Zusammenarbeit mit der Politik habe sich im letzten Jahrzehnt erschwert, stellt Lanz fest. Heute seien viel weniger Parlamentarier als früher dazu bereit, sich «an der Sans-Papiers-Thematik die Finger zu verbrennen»: «Um die Jahrtausendwende gab es viel mehr Vertreterinnen und Vertreter der Mitte-Parteien, die sich für Fragen der Sans-Papiers und Flüchtlinge gewinnen liessen.» Damals, so empfindet es Anni Lanz, habe politisches Kalkül wohl noch weniger gezählt als die eigene Meinung.
Doch vielleicht wird ja auch jetzt wieder der eine oder andere Politiker hellhörig und setzt sich für die Anliegen der jugendlichen Sans-Papiers ein. Das sei nicht reiner «Goodwill», wird Lanz nicht müde zu betonen, denn die Lehrbetriebe und schlussendlich die Wirtschaft seien auf jugendliche Sans-Papiers als Arbeitskräfte angewiesen.
«Wir können wirklich nur hoffen», sagt Lanz, «dass wir endlich begreifen, wie sehr wir von diesen Menschen abhängig sind.»