Angela Merkel führt in Europa die 20-Stunden-Woche ein. Für Unqualifizierte gibt es immerweniger Jobs – und der Konsum bricht ein.
Deutschlands Ökonomen ticken nicht sauber. Sie verwechseln Juristerei und Volkswirtschaft. Aus der richtigen Beobachtung, dass Arbeitsverträge von den Arbeitgebern unterschrieben werden, ziehen sie den falschen Schluss, dass die Nachfrage nach Arbeit von den Arbeitgebern kommt. Der Sachverständigenrat der sogenannten fünf «Wirtschaftsweisen» kann aufgrund dieser Überlegung sogar einen «markträumenden Lohn» berechnen, also einen Lohn, der genau so tief ist, dass die Arbeitgeber sämtliche angebotene Arbeit aufkaufen.
Die Geburt von Hartz IV
Auf dieser unsoliden Grundlage führt Deutschland seit über 20 Jahren eine Politik der «Lohnzurückhaltung». Grundregel: So lange es Arbeitslosigkeit gibt, müssen die Löhne langsamer steigen als die Produktivität. Weil aber die Arbeitslosigkeit weiter stieg, legte die Regierung Schröder mit der Agenda 2010 noch einen Zacken zu. Aus der richtigen Beobachtung, dass Arbeitslose im Schnitt weniger qualifiziert sind als die Erwerbstätigen, zog sie den falschen Schluss, dass Deutschland einen «Niedriglohnsektor» brauche. Die Unqualifizierten sollten gezwungen werden, Jobs anzunehmen, die ihrer «Produktivität» entsprechen. Zu diesem Zwecke senkte man das Arbeitslosengeld auf die Höhe der Sozialhilfe – Hartz IV war geboren.
Doch ein Blick auf die aktuellen Hartz-IV-Ansätze zeigt, dass man auf diese Weise niemals Arbeit schaffen kann. So sind etwa für «Beherbergungs- und Gaststättenleistungen» pro Monat und erwachsene Person genau 10.33 Euro eingeplant – 35 Cents pro Tag. Das reicht für einmal wöchentlich Suppenküche und einmal im Monat McDonald’s. Für Bekleidung und Schuhe dürfen die Hartz-IV-Empfänger pro Monat 34.13 Euro ausgeben. Da muss man auch im Secondhandshop wählerisch sein. Aus für die Modeboutiquen und Kaufhäuser, denn da können immer weniger Leute einkaufen. Eine Automobilindustrie und die Bundesbahn kann sich Deutschland auch abschminken. Die täglich 34 Cents für Verkehrsmittel reichen gerade mal für den Ersatz der Bremsklötze am gemeinsamen Familienvelo.
Ein 2-köpfiger Hartz-IV- beziehungsweise Niedriglohn-Haushalt hat wöchentlich maximal 350 Euro zur Verfügung. Mehr wird es auch beim jetzt geplanten Mindestlohn nicht. Eine durchschnittliche deutsche Arbeitskraft stellt pro Stunde Güter und Dienstleistungen im Wert von 45 Euro her, 35 davon entfallen auf den Privatbedarf. Angenommen, ganz Deutschland würde auf eine Hartz-IV-Diät gesetzt, würde eine 10-Stunden-Woche ausreichen, um diesen Bedarf zu decken. Und trotz tiefen Löhnen hätte kein Arbeitgeber Grund, seine Leute länger arbeiten und entsprechend mehr produzieren zu lassen. Sie könnten das Zeug doch nicht verkaufen.
Exporte steigen und steigen
Bei einer 10-Stunden-Woche ist Deutschland zwar noch nicht angelangt. Erstens arbeitet «erst» ein gutes Fünftel aller Deutschen im Niedriglohnsektor. Tendenz stark steigend. Tiefe Einkommen für viele bedeuten zweitens hohe Einkommen und Luxuskonsum für wenige. Drittens kann Deutschland dank billigen Arbeitskräften mehr exportieren.
Dennoch arbeitet Deutschland immer weniger. Teilt man die 2010 geleisteten Arbeitsstunden durch die Summe aller Arbeitswilligen (Beschäftigte und Arbeitslose) und durch 47 Wochen, so kommt man auf eine 27-Stunden-Woche. Zieht man die Arbeit für den Exportüberschuss ab, bleiben noch 25 Wochenstunden. Mit anderen Worten: Den gesunden Deutschen im erwerbsfähigen Alter haben im Schnitt 25 Wochenstunden Arbeit gereicht, um den Bedarf des ganzen Landes zu decken. 1970 lag die so errechnete Arbeitszeit noch bei 40 Wochenstunden.
Mit seiner Lohnpolitik hat Deutschland bisher vor allem den Deutschen geschadet. Die Markteinkommen der ärmeren Hälfte der Deutschen sind heute 14 Prozent tiefer als vor zehn Jahren. Das sind fast zwei Monatseinkommen weniger. Doch jetzt wird Deutschlands Sparwahn für alle gefährlich: Mit seinen laufenden Überschüssen von rund 150 Milliarden Euro jährlich hat Deutschland seinen Handelspartnern nicht nur etwa 3 Millionen Jobs geklaut, sondern hat sie auch zu hoffnungslos überschuldeten Debitoren gemacht.
Spätestens jetzt hätte Schröders Nachfolgerin Angela Merkel merken müssen, dass das Arbeitsmarktmodell nichts taugt und ganz Europa an den Rand des Abgrunds bringt. Doch Merkel zieht aus der richtigen Beobachtung, dass Deutschlands Euro-Partner wenigstens punkto Staatsschulden noch schlechter abschneiden als Deutschland, den falschen Schluss, dass ihr Land das Modell für alle sein müsse.
Die Folgen sind längst bekannt: Griechenland und Portugal haben sich längst in eine tiefe Rezession gespart. Italien, Spanien und auch Frankreich mussten ebenfalls drastische Sparprogramme einleiten. Sie alle reden davon, dass sie wieder «wettbewerbsfähig» werden und zu diesem Zwecke Staatsausgaben abbauen, Löhne und die Arbeitsmärkte flexibilisieren müssen. Der Massstab dieser «Wettbewerbsfähigkeit» ist Deutschland. Wer mit Deutschland mithalten will, muss den Gürtel noch enger schnallen als Deutschland selbst.
Die Folge davon ist eine Abwärtsspirale. Europas führende Sparländer Deutschland und die Niederlande haben heute schon die mit Abstand geringsten Arbeitszeiten der ganzen Welt. Beide sind – bezogen auf den eigenen Konsum – praktisch bei einer 25-Stunden-Woche angelangt. Schaut man genauer hin, sieht es noch schlechter aus. Vieles von dem, was heute noch statistisch als Arbeitsstunden gezählt wird, ist reine Scheinbeschäftigung oder Arbeitstherapie auf Staatskosten.
Einzigartige Durststrecke
Das zeigt sich etwa darin, dass die Arbeitsproduktivität in Deutschland zwischen 2006 und Mitte 2011 praktisch unverändert geblieben ist. Eine solche Durststrecke gab es in der ganzen Nachkriegsperiode noch nie. In den USA ist die Produktivität im selben Zeitraum um 6 Prozent gestiegen – allerdings auf Kosten eines Rückgangs der Beschäftigung um rund 4 Prozent und das bei steigender Bevölkerungszahl.
Faktisch geht Europa also stramm auf eine 20-Stunden-Woche zu. Praktisch handelt es sich um eine 45-Stunden-Woche für die «Leistungsträger» sowie Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung für die grosse Masse. Wie eine Untersuchung der OECD zeigt, verteilen sich auch die bezahlten Arbeitsstunden immer einseitiger: Bei insgesamt abnehmender Arbeitszeit pro Kopf arbeiten die «Qualifizierten» (zu einem hohen Lohn) tendenziell mehr und der grosse Rest der «Unqualifizierten» entsprechend weniger.
Weniger Arbeit für die Unqualifizierten – genau diesen Trend könnte Angela Merkel zum Freund Europas machen. Sie müsste den offensichtlich wenig qualifizierten deutschen «Wirtschaftsweisen» die Arbeit wegnehmen und sich von echten Volkswirtschaftern beraten lassen. Von solchen, die wissen, dass die Jobs letztlich von der Kaufkraft der Konsumenten kommen und nicht vom Sparen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25/11/11