Der Basler Stadtentwickler Thomas Kessler hält die aktuelle Migrationsdebatte für komplett verdreht. Sie verkenne die Realität. Die SVP-Initiative würde zudem zu einer chinesischen Familienpolitik führen.
Herr Kessler, bereitet Ihnen als Stadtentwickler die starke Zuwanderung der letzten Jahre Sorgen?
Ganz im Gegenteil. Gemessen an der Geburtenzahl, welche wir für den Erhalt unserer Bevölkerung brauchen, ist die Schweiz seit 1970 defizitär. 1,2 Millionen Kinder sind nicht auf die Welt gekommen, die wir gebraucht hätten, um die Bevölkerungszahl ohne Zuwanderung zu halten. Wir wachsen nur dank der Zuwanderung und der steigenden Lebenserwartung. Allerdings ist das Wachstum moderat, um 1 Prozent jährlich. Maximalausschläge mit 3 Prozent wurden während den 1960er-Jahren verzeichnet – unter einem Kontingentsystem. Dass Kontingente begrenzend wirken sollen, ist also ein Ammenmärchen.
Sie schliessen daraus, dass die Steuerung der Zuwanderung über Höchstzahlen nicht den gewünschten Effekt haben würde?
Es ist ein Irrglaube zu meinen, damit würde die Einwanderung zurückgehen. Denn der Bundesrat müsste ja die Bedürfnisse der Wirtschaft bei der Festlegung der Kontingente berücksichtigen. Kontingente bedeuten nur mehr Bürokratie und keine Steuerung. Es würde ein Apparat aufgeblasen, der auch noch die Familienpolitik mitdefinieren würde.
Wieso sollte das die Familienpolitik beeinflussen?
Die SVP-Initiative ist derart schlampig formuliert, dass sie bei wortgetreuer Auslegung – und darauf pocht die SVP ja ständig – nicht nur die Zahl der Einwanderer regeln würde, sondern überhaupt jährlich die Grösse der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz. Der Initiativtext umfasst alle Ausländerkategorien vom Diplomaten über die Flüchtlinge bis zu den Grenzgängern. Jede zweite Heirat in den Städten ist binational, also müsste der Staat das Heiratsverhalten der Bevölkerung für die Kontingente berechnen. Und da neben der Einreise die Geburt die zweite Form der Ankunft von ausländischen Mitmenschen ist, müsste die Bürokratie auch die potenziellen Niederkünfte von Babys ohne Schweizer Pass mit-berechnen – ein völliger Unsinn.
«Die SVP-Initiative führt zu einem absurden Leerlauf.»
Eine abenteuerliche Auslegung der Initiative.
Nein, die Initiative ist schlicht nicht justiziabel und weltfremd. Sie greift in alle Wirtschafts- und Privatentscheide ein, sie fordert eine geradezu chinesische Familienpolitik. Doch der Bundesrat darf niemandem vorschreiben, wie viele Kinder er haben oder wen er heiraten will. Er darf auch den Flüchtlingen nicht verbieten, einen Asylantrag zu stellen. Der Bundesrat müsste jährlich für alle Kategorien spekulativ die Zahlen festlegen – ein absurder Leerlauf.
Die Schweiz hat kaum Steuerungsmechanismen bei der Zuwanderung im Bereich der Personenfreizügigkeit. Brauchen wir denn keine?
Die jetzigen funktionieren recht gut. Es ist eine Falschannahme zu glauben, wir hätten ein gravierendes Problem. Die Einwanderung ist nicht viel höher als vor der Personenfreizügigkeit; ohne Arbeitsplatz kommt kaum jemand. Die Motive zur Migration sind klar. Auch jene, die aus Griechenland oder Spanien kommen, sind Akademiker, weil sie wissen, mit ihren Qualifikationen erhalten sie hier eine Stelle. Das sind keine Hilfskräfte oder Analphabeten. Die bleiben lieber in ihrem Dorf. Dass jetzt die Verlumpten kommen, ist ein Märchen. Was sich geändert hat, ist die Zahl der Auswanderer, die abgenommen hat in den letzten Jahren, weil die Lebensqualität hier stimmt und die Perspektiven gut sind.
Das macht sich auch in Basel bemerkbar.
Es ist ein grosser Erfolg der Basler Integrations- und Stadtentwicklungspolitik, dass Fachleute, die mit kurzen Verträgen hierher kommen, diese verlängern. Die Vertragsdauer wird immer länger, da die Leute überzeugt sind von den Möglichkeiten für ihre Familien und Kinder. Diese Entwicklung ist nachhaltig und sinnvoll.
«Basel wurde für 250’000 Einwohner gebaut.»
Die Prognosen sagen auch Basel einen Zuwachs voraus, die Regierung baut eifrig Wohnungen. Wann wird es eng hier?
Basel wurde für 250’000 Einwohner gebaut. So viele hatten wir schon 1970. Damals gabs null Dichtestress. Heute hat es mehr Wohnungen, die Strassen reichen aus. Wir haben Platz, deshalb belastet die Zuwanderung auch die Umwelt nicht – im Gegenteil, da die Menschen in eine bestehende Infrastruktur ziehen.
Es muss also nicht zusätzlich gebaut werden?
Die Grund-Infrastruktur ist vorhanden. Vielleicht erreicht die Schweiz 9 bis 10 Millionen Einwohner, bevor es wieder runtergeht. Und diese Schweiz ist gebaut. Der Grund für die Verdrängung, die wir spüren, liegt im enormen Wohlstandsgewinn, den man direkt messen kann am Wohnraumbedarf pro Person. In Schweizer Städten ist jede zweite Wohnung inzwischen von einer einzigen Person bewohnt, auch in Basel. Das sind nicht nur 1-Zimmer-Wohnungen, sondern auch 3- und 4-Zimmer-Wohnungen. Doch das Phänomen Wohnraumzuwachs pro Person war eben vor der Personenfreizügigkeit stark und ist seither eher am Abflachen.
Gerade in Basel werden aber in den nächsten Jahren Milliarden in den Ausbau der Infrastruktur investiert, im Autobahn– und Bahnbereich.
Basel braucht ein Herzstück, um historische Linien aus dem 19. Jahrhundert zu verbinden, das ist sinnvoll. Aber das sind moderate Anpassungen. Man tut jetzt so, als wären das neue Dimensionen. Mitnichten. Gigantisch war die Entwicklung zwischen dem Abbruch der Stadtmauer 1870 und dem Ersten Weltkrieg. Da hat sich die Bevölkerung innert zwei Generationen vervielfacht. Die Situation heute ist moderat, berechen- und finanzierbar, wenn man es richtig macht.
«Der politische Diskurs hinkt 15 Jahre hinterher.»
Und doch wird allenthalben die zunehmende Dichte beklagt.
Die Hysterie wegen des Dichtestresses ist absurd. Die ganze Bevölkerung der Schweiz hat bis in die 1980er-Jahre viel dichter gelebt. Seither ist der Raumkonsum explodiert, Basel hatte noch nie so viele Wohnungen wie heute. Die Wohlstandssituation führte ab den 1970er-Jahren zur Devise Häuschen und Auto statt zweites Kind. Mit der aktuellen Migrationsdebatte hat das aber gar nichts zu tun. Der politische Diskurs hinkt 15 Jahre hinterher.
Wie muss sich die Schweiz dann auf das Wachstum der nächsten Jahre einstellen?
Ein gezielter Ausbau wie in der aktuellen Vorlage zur Finanzierung und zum Ausbau der Bahninfrastruktur (Fabi) ist sinnvoll. Das Fantasie-U-Bahn-Projekt Swissmetro anderseits ist totaler Quatsch. Die Schweiz ist eine grosse Metropole mit grosszügigem Grünraum zwischen den Zentren. Ziehen wir jetzt weitere Achsen durchs Land, gewinnen wir nichts, weil die Feinverteilung entscheidend ist. Vor allem aber ist es nicht nötig, die Mobilität weiter zu erhöhen, weil wir vermehrt online arbeiten und einkaufen. Wir haben immer mehr Wissensarbeiter, die elektronisch arbeiten. Der Mobilitätszwang nimmt ab.
«Man will zusammenkommen – deshalb steigen alle um 8 Uhr morgens in den Zug.»
Damit argumentiert aber der Staat bei seinen teuren Ausbauprojekten: Das Mobilitätsbedürfnis nehme zu.
Im Moment nimmt es noch zu. Aber nicht als Folge der zwingenden Bedürfnisse. Heute muss fast niemand mehr genau um 8 Uhr morgens im Büro sein. Die Gründe dafür, dass so viele Leute gleichzeitig morgens in den Zug steigen, sind kultureller und sozialer Art: Man will zusammenkommen und sich zeigen. Viele Arbeitnehmer leben auch alleine. Die freuen sich auf die erste Kaffeepause, der 7.30-Uhr-Stress ist dann das erste Thema in der Kaffeepause.
Meinen Sie das im Ernst?
Das ist erwiesen. Es erstaunt schon, dass sich das die Leute antun am Morgen.
Weil sie zu einer bestimmten Zeit im Büro sein müssen.
Nur eine Minderheit. Die SBB haben das im Raum Zürich untersucht, weil sie ja dort immer neue Wagen kaufen müssen nur für die Spitzenzeiten. Die SBB fahren zu zwei Dritteln leer herum. Heutzutage gibt es doch keinen Grund, das Meeting nicht um 10.30 Uhr abzuhalten. Man sitzt in einen leeren Zug, hat null Stress. Dem Arbeitgeber ist es nur recht, weil so die Stresskosten sinken. Antizyklen bringen mehr Erfolg.
«Wir leisten es uns, dass ein Fünftel der Kinder nie produktiv wird.»
Das Pendeln wird in der Schweiz aber sogar gefördert durch den Steuerabzug für Pendler.
Das ist eben falsch. Der stete Zuwachs auf Strasse und Schiene ist auf Fehlanreize und Quersubventionierung zurückzuführen. Heute ist die Mobilität total subventioniert, der Individualverkehr bezahlt die externen Kosten an Umweltbelastung nicht, der öffentliche Verkehr ist auch zur Hälfte subventioniert. Mein 1.-Klass-GA kostet 5500 Franken, Wert ist es effektiv das Doppelte.
Es geht der SVP ja nicht nur um den Dichtestress. Sie fordert auch, inländisches Potenzial besser zu nutzen, bevor man Fachkräfte aus dem Ausland holt.
In diesem Punkt hat sie recht. Wir leisten es uns, dass ein Fünftel der Kinder gar nie wirklich produktiv wird, dass viele hochqualifizierte Frauen zu Hause sind, und dass wir vielen Hochmotivierten, etwa im Asylbereich, das Arbeiten verbieten. Wir sitzen auf einem Potenzial von mehreren Hunderttausend Menschen, das wir nicht nutzen.
Was für den geforderten Inländervorrang spricht.
Die SVP will ja überhaupt keine Sozial- und Familienpolitik, die hilft, die bislang abgehängten Bürger zu erreichen. Man muss nur das Parteiprogramm anschauen: Früherkennung, umfassende Tagesstrukturen, die Integration von Benachteiligten, davon hält die Partei nichts. Sie betreibt mit der Initiative ein Ablenkungsmanöver und schadet so dem Land.
Was für Schäden richtet sie an?
Es ist die Realität in der Schweiz, dass wir das unterste Fünftel der Leute nicht rechtzeitig erreichen. Wenn wir dieses früh fördern, einbinden und unnötige Hürden und Arbeitsverbote streichen, kann sich das eigene Potenzial besser entfalten. Die Wirtschaft findet dann mehr Fachleute im eigenen Land.
Hinter der Frage, wie viel Zuwanderung die Schweiz verträgt, steckt auch eine andere: Verlieren wir Stück für Stück unsere Identität?
Die Schweiz definiert sich nicht kulturell, das ist unser grosses Glück. Die Schweizer werden die Schweiz auch mit 10 Millionen Einwohnern wiedererkennen. Wir haben unter dem Diktat der Parteipolemik ein ganz schräges Schweizbild in den letzten 20 Jahren erhalten, das nichts mit unserer langen Geschichte der Vielfalt zu tun hat. Die Schweiz hat die grösste Integrationserfahrung in Europa. In meiner Jugendzeit hat es eine Rolle gespielt, ob einer reformiert oder katholisch ist; in Basel blieben viele Ämter Katholiken lange verschlossen. Im Ersten Weltkrieg gab es in der Schweiz eine Zerreissprobe zwischen den Landesteilen. Wir haben die ganze Geschichte mit Anstand bewältigt. Unser Reichtum an sozialer Erfahrung mit der Vielfalt wird nun wegdiskutiert. Man hat eine monokulturelle Schweiz inszeniert, die es nicht gibt – und zum Glück nie geben wird.
Thomas Kessler
Seit vier Jahren leitet Thomas Kessler die Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung in der Basler Verwaltung. Zuvor war der gebürtige Freiburger lange Jahre Drogen-, danach Integrationsbeauftragter in Basel-Stadt. Für den Bund sitzt er etwa in der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und Jugendfragen. Auf internationaler Ebene erstellt Kessler für die UNO Nachhaltigkeitsanalysen, oft zu Tourismus-Projekten in tropischen Gefilden.Mit unverblümten, zuweilen forschen Aussagen sorgte er immer wieder für Kontroversen. Zuletzt, als er Asylbewerber aus Tunesien als «Abenteuermigranten» qualifizierte.
Diskutieren Sie mit, ob die Personenfreizügigkeit der Region Basel nützt oder schadet – in unserer aktuellen Wochendebatte.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 10.01.14