«Die AKP will die Kurdenfrage gar nicht lösen»

Ob des Korruptionsskandals in der Regierung von Recep Tayyip Erdogan rückt die Kurdenfrage einmal mehr in den Hintergrund. Dabei wären die Chancen auf eine Lösung des Konflikts besser denn je. Ein Interview mit dem kurdischen Schriftsteller Faik Bulut.

«Ich bleibe optimistisch»: Der kurdische Schriftsteller Faik Bulut bei seinem Besuch in Basel. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Ob des Korruptionsskandals in der Regierung von Recep Tayyip Erdogan rückt die Kurdenfrage einmal mehr in den Hintergrund. Dabei wären die Chancen auf eine Lösung des Konflikts besser denn je. Ein Interview mit dem kurdischen Schriftsteller Faik Bulut.

In einem israelischen Gefängnis lernte er Arabisch, Französisch, Englisch und Iwrit – ein Vorteil für seine spätere Tätigkeit. Als langjähriger Journalist und Autor von drei Dutzend Büchern ist Faik Bulut* heute ein gefragter Experte für den Nahen Osten, die Türkei, Nordafrika, die Kurden und die Islamisierung. Anfangs Dezember 2013 weilte Faik Bulut für ein paar Tage in Basel. Die TagesWoche hat ihn zur heutigen Situation – insbesondere der Kurden – in der Türkei und in Syrien befragt. 

Seit 2003 ist Recep Tayyip Erdogan Ministerpräsident der Türkei in der nunmehr dritten Amtsperiode. Seine islamistische Partei AKP gilt als gemässigt, treibt aber die Islamisierung voran. Dagegen regt sich insbesondere in den Städten Widerstand, der sich in Istanbul etwa rund um den Gezi-Park kristallisierte. Neue Unbill bereitet Erdogan der aktuelle Korruptionsskandal um sein Kabinett.

Erdogans Regierung verhandelt mit Abdullah Öcalan, dem 1999 inhaftierten Führer der PKK. Die kurdische Guerilla hatte 1984 den bewaffneten Kampf aufgenommen. Im Rahmen des sogenannten Friedensprozesses hat die PKK in diesem Jahr begonnen, ihre Kämpfer zurückzuziehen. Im türkischen Parlament werden die Kurden von der BDP vertreten.

In Syrien sind die zu Beginn friedlichen Proteste von anfangs 2011 gegen das Baath-Regime unter Präsident Baschar al-Asad zu einem Bürgerkrieg eskaliert. Im Januar wird in Genf die zweite Syrien-Konferenz stattfinden mit dem Ziel, den Krieg zu beenden. Die Kurden hielten sich zunächst fern von den Konflikten – ein kurdischer Aufstand war erst 2004 niedergeschlagen worden – begannen jedoch ihre Gebiete zu verteidigen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die kurdische Partei PYD, die auch über bewaffnete Einheiten verfügt.

Der Friedensprozess mit Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und dem inhaftierten Vorsitzenden der kurdischen Guerilla PKK, Abdullah Öcalan, ist ins Stocken geraten. Warum?

Die Regierungspartei AKP will die Kurdenfrage im Grunde genommen gar nicht lösen, obwohl sie aufgrund ihrer Position mit einer Mehrheit im Parlament stark genug dafür wäre. Vielleicht kann sie die Lage nach ihrer langjährigen Alleinherrschaft auch nicht mehr realistisch einschätzen. Sie hat nicht einmal einen Plan. Ihre «Lösung» ist allenfalls ein Palliativum, das ihre Position stärkt, aber den Kurden nichts bringt und die Missstände nicht wirklich behebt. Ich bleibe aber trotzdem optimistisch. Dieser Prozess ist in Gang gekommen und wird beendet werden müssen. Die AKP-Regierung muss zu einer Lösung gezwungen werden. 

Wer soll sie dazu zwingen und wie?

Die Unterstützung von aussen ist sehr wichtig, die Rolle der USA zentral. Die AKP-Regierung weiss, dass sie unter internationaler Beobachtung steht und gibt vor, Schritte zu unternehmen. Die EU misst dem Prozess grosse Bedeutung zu und war zu Beginn voll des Lobs. Sie forderte die türkische Regierung jedoch nicht dazu auf, ihrerseits zur Entspannung beizutragen, als die PKK mit dem Rückzug ihrer Kämpfer begonnen hatte. Ein anderes Beispiel: Bis heute bezeichnet die türkische Regierung ihre kurdischen Verhandlungspartner als Terroristen. Die EU stellt dies nicht in Frage, im Gegenteil: Die PKK steht auch in Europa auf der Terroristenliste. Würde die Organisation von dieser Liste gestrichen, müsste die türkische Regierung den Prozess endlich ernst nehmen. Europa und die USA sollten ihren Einfluss geltend machen. Und in der Türkei sollen die demokratischen Organisationen den Prozess mit friedlichen Mitteln weiterführen.

Organisationen wie die Gezi-Park-Bewegung in Istanbul?

Die AKP stellt keine demokratische Regierung und ist auch keine demokratische Partei. Derzeit gibt es heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Partei. Erdogan versucht mit allen Mitteln, alternative Strömungen auszumerzen. Die Partei wird immer despotischer. Gegen diese allgemeine Entwicklung wendet sich die Gezi-Park-Bewegung. Das wirkt sich auch positiv auf die Kurdenfrage aus. Wenn die Gezi-Park-Bewegung einen Schritt weitergeht, könnte sie eine demokratische Lösung herbeiführen oder die AKP zu einer Öffnung zwingen, aber nur wenn auch die kurdische Frage gelöst wird. Die beiden Prozesse hängen zusammen. 

Besteht die Gefahr einer Spaltung zwischen Kurden und Türken in der Gezi-Park-Bewegung?

Das ist sehr unwahrscheinlich. Das Bild des Kurden mit einer BDP-Fahne, der einen Mann mit einer nationalistischen Fahne vor der Polizei in Sicherheit brachte, wurde zum Symbol der Gezi-Park-Bewegung und ihrer Vielfalt.

Ebenfalls wichtig für die Situation der Kurden ist der Bürgerkrieg in Syrien, der immer weiter eskaliert.

Der Konflikt in Syrien begann zunächst mit einer friedlichen Revolte, die innerhalb einiger Monate zu einer sunnitischen Revolution wurde. Ich war fünfmal in Syrien nach dem Beginn des Aufstands. Zuerst stand an den Mauern «friedliche Revolution», später «sunnitische Revolution». In den Städten Homs und Hama wohnten Menschen der verschiedenen Religionen unbehelligt nebeneinander. Jetzt leben die Sunniten, Aleviten und Christen in getrennten Quartieren. 

Die Westmächte, allen voran die USA verfolgen ihre eigene Strategie. Sie wollen die Religionsgruppen gegeneinander ausspielen: die Schiiten, die im Iran und Irak in der Mehrheit sind und im Libanon die Hizbollah stellen, die Aleviten in Syrien sowie die Sunniten, die in Saudiarabien, Katar, in Ägypten bis zum Sturz Mursis und in der Türkei vorherrschen. Die USA, Grossbritannien und Frankreich führen einen Stellvertreterkrieg. Es kam zum bewaffneten Kampf, als sie begannen die Aufständischen logistisch und mit leichten Waffen zu unterstützen. Die drei Länder trainieren Militärs in Jordanien, in der Türkei und im Libanon, die sie für die Unterstützung der Opposition in Syrien bezahlen. Die Fundamentalisten schickten ihrerseits rund 100’000 Kämpfer – andere Quellen nennen noch höhere Zahlen – aus 80 Ländern nach Syrien, ebenfalls zur Unterstützung der Opposition. Die drei Westmächte wollten den Krieg unter ihre Kontrolle bringen mit gemässigten Islamisten an der Macht. Aber jetzt haben die Fundamentalisten die Oberhand. Trotz der Intervention der USA werden diese weiterhin von den Regierungen etwa der Türkei, Saudiarabiens, Jordaniens und Katar unterstützt. Nun könnte eine Situation entstehen wie in Afghanistan mit unkontrollierbaren Taliban. Deswegen mussten die USA und die andern Westmächte auf den Vorschlag Russlands eingehen und eine Konferenz befürworten. 

Und die Kurden in Syrien?

(Bulut verschränkt seine Hände.) Die Kurdenfrage in der Türkei ist nicht von jener in Syrien zu trennen. Die syrischen Kurden stammen ursprünglich aus der Türkei, aus der sie einst vertrieben wurden. Die PYD, die grosse kurdische Organisation in Syrien, hat ein ähnliches Konzept wie die BDP und die PKK. Dennoch ist die PYD nicht Teil der PKK, wie immer wieder behauptet wird. Sie anerkennt aber Abdullah Öcalan als ideologischen Führer.

Wie verhält sich die türkische Regierung zur PYD? 

Sie unterstützt islamistische Kämpfer der al-Nusra, die der al-Kaida nahe steht, sowie die al-Tawhid-Brigade der Muslimbruderschaft und andere, die in Syrien gegen die PYD vorgehen. Gleichzeitig verkündet die türkische Regierung lautstark, wie wichtig ihr der Friedensprozess mit den Kurden sei. Würden die Kurden in Syrien besiegt, so dagegen ihre eigentliche Hoffnung, könnten diese auch im eigenen Land bezwungen werden. Die AKP-Regierung will die PYD ausschalten, weil sie weiss, dass sie eine Art Testlabor für die Kurden in der Türkei ist. In der PYD sind nicht nur Kurden vereint, sondern auch christliche Gruppen und andere. In Latakia, im Nordwesten Syriens an der Grenze zur Türkei, hat die PYD zum Beispiel eine antifundamentalistische Plattform gegründet, die auch von den Aleviten unterstützt wird. 

Hat die türkische Regierung überhaupt eine Chance, die PYD mit ihrem Stellvertreterkrieg auszuschalten?

Ich denke nicht, auch wenn man in der Politik nie «nie» sagen sollte. Allerdings befürchte ich, dass der Kampf vielleicht andauern und noch viele Opfer fordern wird. Das würde auch den Friedensprozess in der Türkei verlangsamen.

Gibt es eine Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Syrienkonflikts?

Ich hoffe, dass die nächste Genfer Konferenz im Januar 2014 zu einer Kehrtwende führen wird, wenn sich die positiven Kräfte durchsetzen und eine Lösung für die Regierung, für die Opposition und die Kurden finden, die von allen akzeptiert wird. In einer zweiten Phase käme es zu einer Normalisierung. Allerdings wird der blutige Krieg mit den Fundamentalisten, die ja nicht an der Konferenz teilnehmen, zunächst parallel dazu andauern. Sie werden die Teilnehmer angreifen. Aber bei einem positiven Ergebnis der Konferenz werden sie schliesslich verlieren. Ist diese Konferenz jedoch nicht erfolgreich, wird weiter Chaos herrschen und Syrien wird auseinanderbrechen. Jeder wird mit Waffen gegen jeden kämpfen. 

Gilt das auch für die Kurden?

Die Kurden sind vielleicht weniger gefährdet, weil sie sich auf diesen Fall vorbereitet und am allgemeinen Kampf bisher nicht teilgenommen haben. Sie sind in ihrem Gebiet geblieben und haben sich nur verteidigt. Wenn das Chaos ausbricht, besteht trotzdem die Gefahr, dass auch sie hineingezogen werden, vielleicht eher kleinere Gruppierungen und nicht unbedingt die PYD – sofern diese drei wichtige Grundsätze einhält: Erstens sollen grosse Kampfhandlungen zwischen Kurden vermieden werden, zweitens muss die PYD die erwähnten türkischen Interventionen unterbinden entweder durch Verhandlungen oder durch bewaffneten Widerstand und drittens soll sie mit der neuen Regierung gewisse Bedingungen aushandeln, wie zum Beispiel das Recht auf die eigene Muttersprache sowie eine kurdische Vertretung in der Regierung.

Wer kann die neue Regierung stellen?

Nach der nächsten Genfer Konferenz könnte eine neue Regierung gebildet werden. Vielleicht wird es erneut eine Regierung der Baath-Partei sein – mit oder ohne den jetzigen Präsidenten Baschar al-Asad. Jedenfalls wird regieren, wer Damaskus in der Hand hat.

*Faik Bulut wurde 1950 in Kars im Nordosten der Türkei. Schon früh begann der Kurde, sich für Politik zu interessieren. Seine Muttersprache war verboten. Wenn er in der Schule Kurdisch redete, wurde er geschlagen. 1969 schloss sich Faik Bulut in Ankara der Studentenbewegung an. Nach dem Militärputsch von 1971 verliess er die Türkei, um die palästinensische Solidaritätsbewegung zu unterstützen. 1973 wurde er bei einem Angriff der israelischen Armee auf ein Palästinenserlager im Norden Libanons verletzt und festgenommen, nach Israel gebracht und zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung kehrte er in die Türkei zurück und arbeitete später als Journalist für lokale und nationale Zeitungen.

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