Die Angst vor Flüchtlingen wächst, die Asylzahlen sinken

Die Zahl der Flüchtlinge bereitet Schweizerinnen und Schweizern Sorgen, SVP-Politiker sprechen von «Asylschlamassel». Dabei nimmt die Schweiz im Verhältnis zu Resteuropa seit drei Jahren weniger Asylsuchende auf.

(Bild: Stefan Bohrer)

Die Zahl der Flüchtlinge bereitet Schweizerinnen und Schweizern Sorgen, SVP-Politiker sprechen von «Asylschlamassel». Dabei nimmt die Schweiz im Verhältnis zu Resteuropa seit drei Jahren weniger Asylsuchende auf.

Michael* sitzt an einem Plastiktisch im Café des Seelsorgedienstes beim Asylzentrum Bässlergut, verschränkt die Arme und blickt uns finster an. Er trägt Armeehosen, eine schwarze Lederjacke und Flip-Flops an den Füssen.

Michael spricht kein Deutsch und kein Englisch. Sein Kumpan, der mit uns am Tisch sitzt, übersetzt für uns ins Englische. Wir fragen Michael, ob er erzählen möchte, wie er in die Schweiz kam. Michael winkt ab. Sein Freund ermuntert ihn. Wir trinken zusammen Kaffee, die Stimmung lockert sich. Schliesslich beginnt Michael dann doch seine Geschichte zu erzählen. Während er spricht, gestikuliert er mit dem Finger in der Luft und legt Pausen ein.

In Eritrea sei er im Gefängnis gesessen, abgehauen und über den Sudan, Libyen und Italien in die Schweiz eingereist – eine Odyssee, die sich über zwei Jahre erstreckt habe. Es ist die Geschichte, die beinahe alle Eritreer erzählen, die in die Schweiz flüchten.

Wir können seine Geschichte nicht überprüfen, das Einzige, was wir mit Bestimmtheit wissen, ist: Michael suchte wie viele seiner Landsleute ein sicheres Leben – wirtschaftlich und sozial. In seinem Heimatland wird Michael verfolgt, in der Schweiz ist er unerwünscht.

Seit Jahren schimpfen Rechtsbürgerliche, Eritreer seien keine «echten Flüchtlinge», sie würden in ihrer Heimat nicht verfolgt, kämen nur des Geldes wegen und hätten deshalb in der Schweiz nichts zu suchen. Humanitäre Tradition Ja, «Wirtschaftsflüchtlinge» Nein – so lautet das Mantra von SVP und Co.

Immer dann, wenn die Zahl der Asylgesuche steigt, wächst der Unmut gegen unerwünschte Flüchtlinge. Aktuelles Beispiel: Im Mai stellten 807 Personen aus Eritrea einen Asylantrag in der Schweiz, SVP-Präsident Toni Brunner sprach kurz darauf von einem «Asylschlamassel», die SVP-nahe «Weltwoche» schrieb eine Titelgeschichte über «falsche Flüchtlinge» – die rechte Hälfte der Volksseele kochte.

Bereits im Juli 2014, als die Asylgesuche aus Eritrea ein Rekordhoch erreichten, stand das Thema wochenlang in den Schlagzeilen. Zeitweise kamen über 1000 Eritreer pro Monat, dann sank die Zahl wieder unter 200 im Monat, die Gemüter beruhigten sich.

Seit 2005 anerkennt die Schweiz Kriegsdienstverweigerer aus Eritrea als Flüchtlinge, die Zahl der Asylgesuche steigt seither kontinuierlich, von jährlich knapp 200 vor 2005 auf über 7000 im Jahr 2014.

Die Frage, ob Eritreer nun «echte Flüchtlinge» seien, beschäftigt Bundesbern seit Langem. Eine Einigung ist nicht in Sicht. Journalisten und Menschenrechtsbeobachter können sich kein Bild vor Ort machen, der totalitäre Machthaber Isayas Afewerki lässt in der Regel keine westlichen Beobachter einreisen.

Im Februar durfte ein Team des «Schweizer Fernsehens» nach Eritrea einreisen – mit einer Sonderbewilligung, Rundschau-Beitrag vom 11.3.2015:

 

Der eritreische Flüchtling Michael spricht von Folter, die er im Gefängnis erlitten habe, Einzelheiten will er jedoch keine erzählen. Ein aktueller Bericht der Vereinten Nationen bestätigt: Grobe Menschenrechtsverletzungen wie Folter sind in Eritrea «weit verbreitet». Eines steht fest: Die Anerkennung von eritreischen Kriegsdienstverweigerern erfolgt nicht leichtfertig, wie dies einige Asylkritiker behaupten.

Auch die grundsätzliche Behauptung, dass seit einigen Jahren nur «Wirtschaftsflüchtlinge» in die Schweiz kommen, ist falsch. Das lässt sich aus den Zahlen herauslesen, die das Staatssekretariat für Migration (SEM) veröffentlicht. 

Seit Jahren steigt die Anerkennungsquote der Asylbewerber, das heisst: Von den Personen, die hier ankommen, erhalten immer mehr Asyl, ergo kommen immer mehr Flüchtlinge in die Schweiz, die an Leib und Leben bedroht sind. «Unser Asylsystem steht jetzt überwiegend im Dienste derjenigen, für die es gedacht ist», sagt Léa Wertheimer, Sprecherin des SEM, angesichts der steigenden Schutzquote.

Hamid* ist einer derjenigen, die aus einem Kriegsgebiet in die Schweiz kamen. Er ist mit seiner Frau und seinem Sohn aus Mossul im Irak geflohen. Laut eigenen Angaben wurde er als Kurde vom Islamischen Staat verfolgt. Wir treffen ihn nahe des Empfangs- und Verfahrenszentrums (EVZ) am Bässlergut. Er spaziert mit seiner Familie durch den Wald, geniesst den Sommertag, das Leben fernab von Kalaschnikows und Kriegswirren.

Im EVZ teilen er und seine Familie das Zimmer mit zehn anderen Bewohnern. Das sei nicht immer einfach, sagt Hamid. Er hoffe deshalb, dass ihr Asylantrag rasch erledigt wird und sie bald verlegt werden.

Hamid und seine Familie sind kein Einzelfall. Es flüchten derzeit so viele Menschen aus Kriegsgebieten wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Laut Schätzungen des Uno-Flüchtlingshilfswerkes (UNHCR) befinden sich weltweit über 51 Millionen Menschen auf der Flucht. Die wenigsten davon kommen nach Europa (1,2 Prozent), die allerwenigsten in die Schweiz (etwa 0,05 Prozent).

Trotzdem ist die Asylpolitik für Schweizerinnen und Schweizer eines der dringendsten Probleme, das ermittelte kürzlich das Institut gfs.bern in einer Umfrage.

 

Die Angst vor den Flüchtlingen bleibt, denn sie ist diffus. Die Zahlen sind hingegen eindeutig. Im Moment befinden sich 47’000 Menschen im Asylprozess in der Schweiz, das ist etwa jede 170. Person in der Schweiz. In Basel-Stadt leben 700 Asylbewerber im EVZ, das ist etwa jede 270. Person in Basel.

Seit 2003 bewegt sich die Zahl der neuen Asylgesuche um 20’000 Personen, in diesem Jahr erwartet das SEM 29’000 Flüchtlinge – ein Anstieg, verglichen mit den Vorjahren. Jedoch kein dramatischer.

In anderen europäischen Ländern steigt die Zahl der Flüchtlinge stärker als in der Schweiz. Der Anteil der Schweiz an den Gesamtzahlen nimmt sogar ab. 2012 betrug der Anteil der Schweiz an allen Asylgesuchen in Europa 8,2 Prozent, bis 2014 ist er auf 3,8 Prozent geschrumpft. Mit anderen Worten: Während insgesamt viel mehr Menschen auf der Flucht sind, nimmt die Schweiz nur ein paar mehr Menschen auf.

 

Was die Flüchtlingszahlen pro Kopf angeht, ist die Schweiz immer noch unter den ersten vier Ländern in Europa. Das heisst: Die Schweiz nimmt gemessen an ihrer Bevölkerung vergleichsweise viele Flüchtlinge auf. Doch in anderen Ländern steigt das Verhältnis von Flüchtlingen zur Gesamtbevölkerung, in der Schweiz stagniert es.

Mohammed sitzt bei uns am Tisch im Seelsorge-Café. Er stammt aus Palästina und ist seit sieben Tagen im EVZ in Basel. Er zupft seinen Bart zurecht, faltet die Hände ineinander und spricht mit leiser Stimme: «In Palästina gibt es für mich grosse Probleme.» In der Schweiz sei er in Sicherheit, kein Krieg, keine Bomben.

Über Details spricht Mohammed nicht, möglich, dass er seine Kriegserlebnisse ausblendet. Bei den Anhörungen beim SEM muss er über die wunden Punkte sprechen, nur dann hat er eine Chance auf Asylgewährung.

 

Warum hauptsächlich junge Männer in Europa Asyl beantragen, zeigte der «Guardian» kürzlich am Beispiel eines syrischen Flüchtlings. Frauen und Kinder nehmen seltener die Flüchtlingspassage übers Mittelmeer auf sich, es sind meist Männer, die die Überfahrt wagen und ihre Familienangehörigen in die Schweiz holen, sofern ihr Asylantrag angenommen wird. In den Asylzahlen zeigt sich dieser Effekt deutlich: 2014 stammten etwa 30 Prozent aller Asylanträge von Frauen, die meisten Anträge stellten Männer im Alter von 25 bis 39.

Das spiegelt sich auch im Seelsorge-Café beim Bässlergut wider. An den Tischen sitzen meist Männer untereinander, nur vereinzelt treffen wir Frauen und Kinder. Als Michael mit seiner Geschichte fertig ist, gehen wir mit ihm zum angrenzenden Wald, um ihn zu fotografieren. Mit uns kommen weitere Flüchtlinge, die den Fototermin als willkommene Abwechslung zum eintönigen Alltag in der Asylunterkunft erleben.

Michael stellt sich vor die Kamera, als hätte er in seinem Leben nichts anderes gemacht. Posieren, stillhalten, in die Kamera schauen. Dann gehen wir mit ihm zurück zum Asylzentrum. Das Café hat mittlerweile geschlossen, Michael und seine Kollegen stellen sich vor den Zaun und beobachten die vorbeifahrenden Autos – Alltag für die 400 Asylsuchenden, die im EVZ wohnen. In einer halben Stunde kehren sie ins Zentrum zurück, dann gibt es Mittagessen.

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* Namen geändert 

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