Wir sollen uns nicht fürchten, sagen die himmlischen Weihnachtsbotschafter. Manche Politiker hingegen wollen, dass wir Angst haben – damit sie uns ernst nehmen können. Ein Spiel, das zur kollektiven Selbstlähmung führt.
Ängste der Bevölkerung ernst nehmen – das ist eines der häufigsten Statements, die man von Politikern zu hören bekommt, wenn es um Rauswerf- und Abschottungsprojekte irgendwelcher Art geht. Die meisten, die das sagen, haben selber nicht diese Ängste. Aber sie möchten, dass es diese Ängste gibt.
Sie wollen sie gerne herbeischwatzen, um sie zu bewirtschaften und bestimmte Gesellschaftsmodelle aufbauen zu können. Dann gibt es die braven Bürgerlichen bis hinein in das Lager der Linken, die nicht als diejenigen dastehen wollen, die Ängste nicht ernst nehmen. Auch sie betreiben Anerkennung von Angst als Form der Bürger- und Basisanerkennung.
Angst, Furcht und Sorge
Bald kommt die Zeit (im Kommerz hat sie zwar längst begonnen), da Engel vom Weihnachtshimmel herabsteigen und den Menschenkindern zurufen, sie sollen keine Angst haben. Sie sagen allerdings nicht Angst. Sie sagen Furcht – beziehungsweise «fürchtet euch nicht». Und man kann darin einen wesentlichen Unterschied sehen. Furcht ist das Produkt von reflektierter Einschätzung der Verhältnisse. Angst dagegen ist kopflos, ganz Bauchgefühl.
Es gibt noch eine dritte Irritations-Kategorie: Das ist die Sorge. Sie wird bei uns sehr ernst genommen. Wer will schon sorg(en)los sein? Eine Grossbank vermittelt uns von Zeit zu Zeit sogar ein Sorgenbarometer. Das ist wie soziales Fiebermessen.
Uns geht es viel besser als dem Rest Europas. Beruhigt das?
Ende 2013 hätte man aber aufatmen können. Die beruhigende Botschaft lautete: «Die Verunsicherung ist endgültig verschwunden.» Endgültig, das ist stets etwas zu früh. Ein Teil der Botschaft lautete zudem: Uns geht es viel besser als dem Rest Europas. Beruhigt das? Oder steigert das nicht vielmehr die Unruhe beziehungsweise die Angst, dass man selbst «Europa» werden könnte, statt auf der Glücksinsel in prekärer Sicherheit zu leben?
Nun könnte man ja grosszügig sein und jedem seine Angst, Furcht oder Sorge nach seinem Belieben lassen. Jeder soll auf seine Art unglücklich sein dürfen. Im politischen Geschäft der direkten Demokratie kann es aber schnell so weit kommen, dass uns andere ihre Angst über den Kopf stülpen. Dazu haben wir bereits eine Erfahrung, ein erstes Datum im Kalender der Schweizer Geschichte, den «9. Februar». Und dazu steht nun mit dem «30. November» ein nächstes Datum bevor.
Angst vor der Angst
Ecopop will Angst für sich selber und – völlig bizarr – Angst auch um die Welt (Klima und Drittweltgeburten) geltend machen und will nun, dass wir diese Angst über den Abstimmungszettel mittragen. Kalauernd kann man sagen: Diese Angst könnte uns Angst machen.
Der grosse amerikanischen Präsident Franklin D. Roosevelt hat schon 1933 in seiner Antrittsrede erklärt: «The only thing we have to fear is fear itself.» Zu Deutsch: Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.
Diese Angst, die gewiss, rein wirtschaftlich gedacht, dem Sägen am Ast gleichkommt, auf dem man sitzt, speist sich aus zwei Wurzeln. Die eine will – erstaunlich bedenkenlos – den erreichten Wohlstand gegen andere verteidigen (was wir mit der fatalen Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative bereits getan haben). Die andere entspringt dumpfen Bedenken, dass dieser Wohlstand doch gefährdet sein könnte. Das ist ein in den Sozialwissenschaften bekanntes Phänomen und heisst Sicherheitsparadox: Wenn bei wachsendem Ausmass von Sicherheit gleichzeitig die Empfindlichkeit für mögliche Unsicherheit zunimmt.
Berufung auf Angst kann beinahe unhinterfragbare Echtheit und moralische Berechtigung beanspruchen.
Wer das Angstargument vorbringt, greift nach einem Zusatzargument und gibt damit indirekt zu, dass im Kernbereich keine stichhaltigen Argumente zur Verfügung stehen. Und er oder sie greift nach einem autoritären Argument. Was schon scharfsinnige Analytiker wie der Kommunikationstheoretiker Niklas Luhmann auf den Punkt gebracht haben, haben auch Durchschnittsdenker so erkannt: Berufung auf Angst kann beinahe unhinterfragbare Echtheit und moralische Berechtigung beanspruchen. Angst beruft sich aber darauf, dass es Bedrohung gibt.
Es gibt aber keine automatisch problemgerechte Übertragung von sogenannter Realität auf Angst. Nicht alles Bedrohliche beunruhigt, und nicht alles, was beunruhigt, ist bedrohlich. Man gestatte wieder einmal einen kurzen Exkurs in die schweizerischen Kriegsjahre 1939–1945.
Nicht jede Angst ist legitim
Fragwürdiges Verhalten wie Willfährigkeit gegenüber Nazi-Zumutungen oder Flüchtlingsabwehr wird gerne damit gerechtfertigt, dass man Angst hatte und Angst haben musste. Dem kann man entgegenhalten, dass nicht alle damals in der gleichen Situation lebenden Menschen die gleichen Haltungen einnahmen und es durchaus solche gab, die nicht mit Willfährigkeit und Abwehr reagierten. Die wesentliche Einsicht dazu: Es gibt Handlungsspielräume, und das macht den Menschen und seine Verantwortung aus. Angst ist nicht eine stets legitime Reaktion auf objektive Gegebenheiten.
Angst kann bekanntlich auch gut sein, ein instinktives Warnsignal. Solche Angst kommt im Guten wie im weniger Guten mit dem Zivilisationsfortschritt auch abhanden, wird durch Gedankenlosigkeit oder gar Anspruchshaltungen ersetzt (zum Beispiel von Fussgängern im Strassenverkehr). Mit Psychologen kann man aber auch darauf hinweisen, dass Angst die normale Kapazität der Problemverarbeitung (Funktionen der Innenwelt) einschränkt und destruktive Kräfte freisetzt.
Psychologen halten Angst nicht für lähmend, sondern für eine Verhaltensbereitschaft.
Die Psychologie neigt alles in allem aber eher dazu, Angst entgegen der Volksmeinung als etwas grundsätzlich Positives zu bewerten. Angst lähme nicht, sie stelle eine Verhaltensbereitschaft dar. Angst sei eine normale Grundbefindlichkeit der conditio humana.
Man kann natürlich bemerken, dass alles eine Frage des Ausmasses sei. Es gibt ein Zuviel, es gibt übermässige beziehungsweise unangemessene Reaktionen. Man spricht dann von Phobien und Pathologien, was dann zum Gegenteil von Handlungsaktivierung im Sinne des «Yes, we can» führt, nämlich zur Lähmung, zur Depression.
Unsere Schweiz ist allerdings, was die Politaktivitäten betrifft, alles andere als lahm. Sie ist eher hyperaktiv, was dann aber zu einer kollektiven Selbstlähmung führt. Was tun gegen eigene Angst, soweit vorhanden, was gegen die angebliche oder tatsächliche Angst der anderen?
Tapfere Melodien
Im finsteren Wald kann man zum Beispiel pfeifen. Wie die Geschichte zeigt, haben Menschen, einzeln oder im Chor, immer wieder Lieder gesungen, um ihre Angst zu überwinden. Das Beresina-Lied, angeblich 1812 von Schweizer Söldnern auf dem Rückmarsch aus Moskau angestimmt, ist ein bekanntes Beispiel:
Mutig, mutig, liebe Brüder,
Gebt das bange Sorgen auf;
Morgen steigt die Sonne wieder
Freundlich an dem Himmel auf.
Dieses Lied oder vielmehr seine Zuversicht steht allen zur Verfügung. Nicht nur einem Christoph B., der schon versucht hat, aus diesem Lied eine weitere Landeshymne zu machen, 200 Jahre später und im gleichen Jahr zum 20-Jahre-Jubiläum des fatalen EWR-Neins von 1992.
Wir sollten dafür sorgen, dass sich in unserer Gesellschaft nicht etwas etabliert und vertieft, was man Angstkultur nennt. Wir sollten uns ohne Angst so zusammentun, wie sich die auf nationale Angst ausgerichteten Gegenspieler organisieren.
Angst kann auch von kollektiven Verhaltensmustern (Mentalitäten) geprägt sein. In der deutschen Literatur ist davon die Rede, dass Deutsche besonders angstanfällig seien, darum das deutsche Wort Angst sogar in andere Sprachen, ins Englische und Französische, übertragen werde: the German Angst.
The Swiss Angst
Über deutsche Ängste, die auch die Ängste fast aller westeuropäischer Gesellschaften sind, hat der bekannte Soziologe Heinz Bude sogar mit mehr Verständnis, als hier zum Ausdruck gebracht worden ist, ein lesenswertes Buch geschrieben: «Gesellschaft der Angst» (2014).
Man könnte aber sehr wohl auch von der typischen Swiss Angst reden. In der deutschen Schweiz ist, wie Umfragen zeigen, die Angst beispielsweise vor Kriminalität dreimal höher als in der französischen Schweiz, obwohl die Sicherheitslage kaum anders ist.
Entgegen der Meinung von Christoph B. sollten wir auch diesbezüglich froh sein, dass es die Suisse Romande gibt. Schon 2011 kam von dieser Seite, verfasst von François Cherix und Roger Nordmann, eine lesenswerte und auch in die Sprache von Goethe und Grass übersetzte Schrift über die Angstgenossenschaft heraus: «La Suisse ou la peur». Auch diese lesenswert.