«Die Atomforschung bekommt eine religiöse Dimension»

Der Basler Dokumentarfilmer Edgar Hagen machte sich auf die Suche nach Endlagern für radioaktiven Abfall. Sein Film «Die Reise zum sichersten Ort der Erde» läuft zurzeit in den Kinos. Wir trafen ihn zum Interview.

«Ich suchte einen Ausweg aus meiner eigenen Ohnmacht.» Während fünf Jahren reiste Edgar Hagen auf der Suche nach Endlagerstandorten rund um die Welt. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Der Basler Dokumentarfilmer Edgar Hagen machte sich auf die Suche nach Endlagern für radioaktiven Abfall. Sein Film «Die Reise zum sichersten Ort der Erde» läuft zurzeit in den Kinos. Wir trafen ihn zum Interview.

Es ist eine der grossen Fragen dieses Jahrhunderts: Wohin mit den derzeit 350 000 Tonnen hochradio­aktiver Abfälle? Während in China Dutzende neuer Atomkraftwerke ans Netz gehen, ist die Frage der Endlagerung noch immer ungelöst. Der Filme­macher Edgar Hagen dokumentierte fünf Jahre lang die weltweite Suche nach atomaren Endlagern.

Im Mittelpunkt des Films steht der schottische Atomphysiker und End­lager­­experte Charles McCombie, ein überzeugter Befürworter der Kernenergie und während 20 Jahren wissenschaftlicher Direktor der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra). Im Gegensatz zu seinem Optimismus erzählt der Film von einer Chronologie des Scheiterns und von vielen leeren Versprechungen.

Wenn ein Atomkraftskeptiker ­einen Film macht über die Endlagerung von Atommüll – steht da das Ergebnis nicht von Beginn weg fest?

Ich bin nicht grundsätzlich gegen Endlager. Ich habe mir nur Fragen dazu gestellt. Ein Antrieb war die Frage, wie kann man mit diesem Thema umgehen und darüber sprechen. Es ist eine Thematik, die mich ohnmächtig gemacht hat. Aus dieser Ohnmacht wollte ich einen Ausweg finden. Es ist eine Realität, die eine Dimension von Wahnsinn hat. Wie kann man eine Energie nutzen, mit der man derart in eine Sackgasse ­hineingerät? Das begann mich zu interessieren.

Worin zeigt sich denn diese Ohnmacht?

Nehmen wir das Beispiel der Informationsveranstaltung in Bözen, die auch im Film vorkommt. Da sitzen die Betroffenen den Vertretern der Nagra und des Bundesamtes für Energie gegenüber. Sie werden informiert, dürfen auch Fragen stellen, aber nur zu ganz bestimmten Punkten. Zum Beispiel, wo der Eingang zum Endlager stehen und wie er aussehen soll. Dieses Vorgehen gibt vor, das Problem sei schon gelöst. Was sollen die Leute dazu sagen? Das war für mich die grosse Herausforderung: Wie kann man über das Thema Endlagerung so sprechen, dass ein öffentlicher Diskurs darüber möglich wird? Das geht nur, wenn alle Fragen auf den Tisch kommen.

Wie kann man über das Thema Endlagerung so sprechen, dass ein öffentlicher Diskurs darüber möglich wird?

Was macht es so schwierig, ­darüber zu diskutieren?

Wir sprechen hier von Sicherheitsversprechungen für Hunderttau­sende von Jahren. Wenn ich der Wissenschaft bei so grossen Fragen glauben muss, was sie sagt, dann wird es schwierig. Es muss uns als Gesellschaft gelingen, in eine Situation der Kompetenz zu gelangen. Die Politik, die Bevölkerung, wir können nicht nur als Gläubige mit solchen Fragen umgehen. Es reicht nicht, wenn man mir sagt, man habe das Pro­blem im Griff.

Im Film beschreiben Sie eine Wissenschaft, die im Dienst der Atomenergie steht. 

Ich habe nur Fragen gestellt und hingeschaut. Natürlich stehen die Behörden unter Zwang. Sie müssen der Bevölkerung vermitteln, dass das Problem gelöst sei. Auch wenn das nur auf dem Papier so ist. Das ist das Beunruhigende für die Bevöl­kerung: dass uns ein Wissenschaftler etwas beweisen muss. Das bekommt eine religiöse Dimension. Die Wissenschafter könnten sagen, wir forschen daran, mit offenem Er­gebnis. Aber gleichzeitig müssen die ­Behörden sagen, alles sei in Ordnung – weil davon die Betriebs­bewilligungen der Atomkraftwerke abhängen. Das ist nicht mehr eine freie Wissenschaft. Sie ist ganz klar interessengebunden. Und wenn der Staat das Verfahren führt, hängt die ganze Gesellschaft voll mit drin.

Haben Sie einen Ausweg gefunden aus Ihrer Ohnmacht?

Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist der Schritt aus der Ohnmacht. Mir wurde deutlich, wo die Probleme wirklich liegen. Die technische Hauptschwierigkeit ist der Untergrund. An allen Orten, wo wir gedreht haben, ist der Untergrund nur sehr unzulänglich erforscht. Man weiss vielerorts immer noch sehr wenig darüber, wie das Wasser fliesst. Dabei ist diese Frage entscheidend. Wenn der Atommüll mit dem Wasser in Berührung kommt, kommt es zu einer Verseuchung. Die Untersuchungen zum Grundwasser sind aber extrem schwierig. Und ­anhand von Bohrungen kann man nur sehr begrenzte Aussagen machen. Nach dem Film stellt sich mir die Frage: Wissen wir genug, um so weiterzumachen wie bisher? Ich kann diese Frage nicht beantworten. Aber ich denke, es ist wichtig, dass wir darüber sprechen.

Es ist Ihnen gelungen, zahlreiche Türen aufzustossen. Wie sind Sie vorgegangen?

Ich begann sehr schnell nach einer Figur zu suchen, welche die Geschichte trägt. Jemand, der an die Lösbarkeit der Endlagerfrage glaubt und auch in der Atomindustrie verwurzelt ist. Es war für mich keine Option, die Geschichte nur aus der Perspektive der Gegner zu erzählen. Nach einigem Recherchieren bin ich dann auf meine Hauptfigur gestos­sen: Charles McCombie ist Atom­physiker und weltweit auf der Suche nach Endlagerstandorten. Er war ein Glücksfall für den Film, er versuchte, mir so viele Türen aufzumachen, wie er konnte. In England, in China und auch in der Schweiz. Viele Versuche sind auch nicht geglückt. In Saudiarabien, wo derzeit acht Atomkraftwerke gebaut werden sollen, sind wir nicht reingekommen. Auch in den USA haben wir keine Drehbewilligungen in Atomeinrichtungen erhalten. 

Wie sind Sie auf McCombie gestossen?

Ich habe nach einer Person gesucht, die international auf der Suche ist, und bin rasch auf den Namen «McZombie» gestossen. Dem bin ich nachgegangen und habe erfahren, dass McCombie einer der führenden Wissenschaftler bei der Endlager­suche ist. Auf dem Papier versuchte ich dann, ob der Film mit dieser Figur funktionieren könnte. Dann kam ich an einen Punkt, wo ich merkte, dass ich ihn fragen musste, ob er dazu auch bereit wäre. Das war ein Moment, der mich wirklich nervös machte. Wir haben uns dann bei ihm zu Hause in Frick getroffen – und es war von Beginn weg klar, dass er dabei sein würde.

Ein Atomkraftkritiker begleitet einen vehementen Befürworter. Wie hat das funktioniert?

Dass Charles McCombie mitmachte, war nur möglich, weil er an eine ­Lösung glaubt. Er wollte zeigen, dass es nichts zu verheimlichen gibt. Er sagte immer wieder zu mir: «Wir können über alles sprechen.» Auch über die Probleme. Aus seiner Sicht war das alles im Dienste einer Lösung. Wir sind von völlig unterschiedlichen Voraussetzungen ausgegangen. Er ist ein klarer Befürworter der Atomindustrie und glaubt an eine Lösung. Ich trage eine Grundskepsis in mir. Und dennoch gibt es eine Schnittmenge zwischen uns. Denn an einem funktionierenden Endlager führt wohl kein Weg vorbei. Auch wenn wir in Zukunft auf Atomkraft verzichten sollten: Wir müssen eine Lösung für den Atommüll finden.

Ganz im Gegensatz zu McCombies Optimismus erzählt der Film eine Chronologie des ­Scheiterns.

Ich wollte kein Porträt über McCombie machen. Für mich verkörpert er aber die Haltung der Gesellschaft im Umgang mit der Endlagerfrage. Wir haben ein Problem, also lösen wir es. Er sagt nichts anderes als die End­lagerspezialisten in jedem anderen Land auch: Es ist machbar, es ist ­lösbar. Und wenn es hier nicht funktioniert, dann funktioniert es anderswo. Um diese Chronologie zu beschreiben, muss ich nicht Pessimist sein. Ich bin nur Geschichtenerzähler. Das Drama der ganzen ­Suche ist die Repetition. 1997 scheiterte in England bei Sellafield ein Projekt aus geologischen Gründen sensa­tionell. Als ich während den Dreharbeiten den Ort besuchte, waren sie gerade dabei, am selben Ort ein neues Projekt aufzubauen, das nun 2013 wiederum gescheitert ist. Und so geht es weiter, am gleichen Ort und anderswo.

Weshalb wiederholt sich das ­immer wieder?

Der Sachzwang ist der Motor des Ganzen. Es kann sein, dass man in der Zukunft über diese Versuche nur den Kopf schüttelt. Man weiss zurzeit immer noch sehr wenig über den Untergrund. Die Endlager­forschung führt uns erst vor Augen, was sich im Untergrund alles bewegt. Mein Eindruck der letzten fünf Jahre ist, dass wir einfach nicht genügend wissen. Wir müssen einen Schritt zurücktreten und grundsätzlich darüber nachdenken, wie es ­weitergehen soll. Es gibt auch Fachleute, die sagen, dass es eine schlechte Idee sei, den Atommüll in den ­Boden zu versenken. In Schweden denken unabhängige Wissenschaftler über tiefere Bohrlöcher nach.

Wir müssen einen Schritt zurücktreten und grundsätzlich darüber nachdenken, wie es weitergehen soll.

Dass man also statt 500 Meter 4000 Meter in die Tiefe geht. Das wird wahrscheinlich das nächste Problem mit sich bringen, wie die Tiefenbohrungen der Geothermie zeigen. Die ganze Endlagersuche basiert auf ­Annahmen aus den 1950er-Jahren, wo man von einem beständigen ­Untergrund ausgegangen ist. In der Zwischenzeit weiss man aber, dass die Erde in der Tiefe nicht einfach stillsteht. Dass da Wasser fliesst und sich Gestein verschiebt.

Unerwähnt bleibt im Film das Beispiel aus Finnland. Das dor­tige Tiefenlager wird immer ­wieder als Vorzeigebeispiel dargestellt. Weshalb haben Sie das Projekt ausgelassen?

Grundsätzlich ist das finnische Projekt eine Kopie des schwedischen. Die Schweden haben in den 1970er-Jahren als Erste in Europa mit der Forschung begonnen. Meiner Meinung nach ist das finnische Projekt eine reine Propagandageschichte. Das Ganze wird als bestehendes Endlager verkauft, dabei ist es vorerst nur ein Forschungsprojekt. Dieses Muster wollte ich nicht repetieren. Stand der Dinge ist: Die ­Finnen haben das Baugesuch erst nach Abschluss unserer Dreharbeiten eingereicht. Ob es in Finnland jemals ein Endlager geben wird, wird seit Anfang 2013 von unab­hängigen Expertengremien geprüft.

Was haben Sie über die End­lagersuche gelernt?

Es wird rund um die Welt nach Standorten gesucht. Und wenn es an einem Ort nicht funktioniert, dann wird eben der nächste geprüft. Dabei habe ich gesehen, dass es diesen Fluchtort nicht gibt. Es kommt überall ein neues Problem hinzu. Wenn wir es hier nicht schaffen, können wir nicht einfach an einen anderen Ort gehen. Überall wohnen Menschen, selbst in der Wüste, wie das Beispiel in der Wüste Gobi in China zeigt. Jeder Ort ist irgendwie bevölkert und ein Lebensraum. 

Worin sehen Sie Ihre Aufgabe nach Fertigstellung des Films?

Meine Filme sind dann geglückt, wenn sie kontrovers sind und die Kraft haben, Prozesse in Gang zu setzen. Für ein solches Anliegen muss ich natürlich auch eine gewisse Gesprächsbereitschaft zeigen. Der Film ist im besten Fall Teil eines ­gesellschaftlichen Prozesses, und ich freue mich darüber, wenn die Geschichte eine Eigendynamik erhält. Die Gesellschaft muss eine gewisse Kompetenz bei wichtigen Themen zurückgewinnen.

«Die Gesellschaft muss eine gewisse Kompetenz bei wichtigen Themen zurückgewinnen.»

 Das gilt auch für andere Bereiche, zum Beispiel beim Verständnis unseres Geldsystems. Wir kommen an den grossen Themen nicht vorbei. Wir müssen uns Wissen aneignen, statt nur Experten zu vertrauen. Wir müssen selber mehr Verantwortung übernehmen.

Wo befindet sich denn der «sicherste Ort der Erde» aus Ihrer Sicht?

Für mich ist er dort, wo man vom Prinzip Hoffnung abkommt. Er befindet sich dort, wo man einen Schritt zurücktritt und anfängt, das Problem gesamthaft zu überdenken. Man kommt nur da zu Ergebnissen, wo man den Blick öffnet. 

Glauben Sie, dass das Atomendlager­problem gelöst werden kann?

Nach der Arbeit an diesem Film ist mir eine schnelle Lösung definitiv aus dem Blickfeld entrückt. Zuerst müssen wohl alle Fragen schonungslos auf den Tisch kommen. Wie dann die Lösung aussehen wird, muss sich in einem völlig offenen, von den Sachzwängen der Industrie befreiten Verfahren erweisen. Es wird auch nicht nur eine Lösung, sondern viele Lösungen rund um die Welt geben müssen. Ich glaube, wir beginnen überhaupt erst langsam zu kapieren, um was für Dimensionen es sich hier handelt. Wenn wir das zulassen, sind wir einen kleinen Schritt weiter. Erst dann können wir bestimmen, was wirklich zu tun ist.

Mit «Die Reise zum sichersten Ort der Erde» hat Edgar Hagen seinen vierten langen Dokumentarfilm realisiert. Hagen ist 1958 in Basel geboren. Er studierte Philosophie und Germanistik an der Universität Basel und an der Freien Universität Berlin. Nach Arbeiten als Journalist und Theaterdramaturg ist er seit 1989 als unabhängiger Dokumentarfilmemacher und Autor tätig. Zuletzt lief in den Kinos sein Dokumentarfilm «Someone Beside You» über Menschen in ­psychischen Ausnahmesituationen. Die Grenzen unserer Vorstellungskraft sind in seinen Filmen wiederkehrendes Motiv.
Auf der Suche nach dem «sichersten Ort» der Erde reiste er während ­fünf Jahren rund um die Welt. Die Suche führt zu unterschiedlichsten Orten – durch dicht besiedelte Gebiete in der Schweiz, zu einer Nomadenfamilie in der chine­sischen Wüste Gobi, zu einem heiligen Berg in einem atomverseuchten Indianerreservat, zu Demonstranten im Wald von Gorleben in Deutschland.
Im Film wird der Zuschauer Zeuge der geheimen Ankunft eines Atommüllfrachters in Japan und von der schier unbegrenzten Zuversicht der Atomkraftbefürworter.«Ich suchte einen Weg aus meiner eigenen Ohnmacht.» Fünf Jahre lang reiste Edgar Hagen auf der Suche nach möglichen Atomendlagern rund um die Welt. «Die Reise zum sichersten Ort der Erde» läuft seit dem 31. Oktober 2013 in den Schweizer Kinos. Zum Kinoprogramm.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 01.11.13

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