Die Schweizer Schulharmonisierung ist eine Baselbieter Erfindung. Gleichwohl tobt im Landkanton ein erbitterter Streit über die Bildungspolitik. Wie konnte eine Erfolgsgeschichte zum Debakel werden? Ein Erklärungsversuch.
Der Furor ist unbändig, die Rhetorik reicht von scharf bis schrill. Im Kanton Baselland tobt kurz vor den Wahlen ein Richtungsstreit in der Bildungspolitik, bei dem Aussenstehenden nur eines empfohlen werden kann: sicheren Abstand halten.
Unbestritten ist allein, dass sich eine Gruppe namens «Starke Schule Baselland», bestehend aus Lehrern, konservativen linken und rechten Politikern, und die Bildungsdirektion unversöhnlich gegenüberstehen und um die Schulreform HarmoS ringen. Ein Projekt, das nicht nur beim städtischen Nachbar Basel-Stadt vollständig reibungsfrei abläuft. Aber im Baselbiet verlieren sie darüber den Kopf.
Zuletzt schlug sich die sozialdemokratische Regierungskandidatin Regula Nebiker auf die Seite der Widerständler und desavouierte bei dieser Gelegenheit ihren abtretenden Bildungsdirektor Urs Wüthrich. Einiges sei falsch gelaufen, gab sie der «Basler Zeitung» zu Protokoll, das Fuder sei überladen worden, Korrekturen dringend angezeigt: «Es ist Zeit für eine Verschnaufpause.»
Der Pionier stolpert
In ihrer Partei wird Nebikers Wortmeldung als nervöser Versuch aufgefasst, im Wahlkampf nicht den Anschluss an FDP-Frau Monica Gschwind zu verlieren, die sich mit gewagten Versprechen die Unterstützung der «Starken Schule» gesichert hat. Gschwind will das Rad zurückdrehen, will Reformen stoppen, die in den letzten Jahren entwickelt wurden. Etwa die Lehrerausbildung an der Fachhochschule oder die Einführung des neuen Lehrplans.
Sie tut das weniger aus bildungspolitischer Überzeugung heraus, ihr Antrieb ist profanerer Natur: Gschwind will sparen. Sie glaubt aber auch, damit den Nerv der Zeit getroffen zu haben.
Denn heute herrscht in der öffentlichen Meinung im Baselbiet der Konsens, dass die grosse Schulreform umfassend verunglückt sei. Noch vor gut zehn Jahren galt Baselland als Pionierkanton im Bildungswesen, der den Weg ebnete, auf den sich andere Kantone später begaben. Was, um Himmels willen, ist passiert?
Eltern erlitten Nervenzusammenbruch
2002 leitete eine Standesinitiative aus dem Baselbiet die Schulharmonisierung ein, die den Kantönligeist aus dem Schulwesen vertreiben sollte, weil jene Mobilität, die längst einen unverhandelbaren Kern der Schweizer Gesellschaft darstellt, an den Schulhäusern zum Stehen kam.
Bestes Beispiel sind die beiden Basel, die bislang komplett unterschiedliche Systeme kannten, die jeden Kantonswechsel für Eltern bis zum Nervenzusammenbruch komplizierten. Ab August 2015, das ist vor allem ein Verdienst des Baselbiets, kennen beide Kantone nicht nur dieselben Schulstufen, nämlich sechs Jahre Primar- und drei Jahre Sekundarschule – sie haben sogar dieselben Stundentafeln.
Reformmüde Lehrer
HarmoS, die integrative Schule, die nicht mehr ausschliesst, wer die Norm nicht erfüllt, ein einheitlicher Sprachunterricht, dieselben Bildungsziele, all dies unterstützte das Baselbieter Stimmvolk in zahlreichen Volksabstimmungen. 2006 vermeldete Baselland eine Mehrheit über 91 Prozent zum Bildungsartikel in der Schweizer Verfassung, der die Kantone zur Zusammenarbeit zwingt. Deutlicher kann ein Volkswille nicht formuliert sein. Wo das Volk nichts sagen durfte, stützten solide Mehrheiten im Landrat die Harmonisierung mit unzähligen Beschlüssen.
Doch irgendwann kippte das Ganze. Der Moment lässt sich rückblickend nicht genau bestimmen. Vielleicht war es weniger ein Moment als ein Momentum, das drehte, als verschiedene Rinnsale zu einem kraftvollen Strom zusammenfanden. Reformmüdigkeit und die Angst, nicht die nötigen Ressourcen zu erhalten, mobilisierte einen Teil der Lehrerschaft gegen HarmoS. Zudem führt die Umstellung zu einem massiven Stellenabbau auf der Sekundarstufe.
Als der Lehrplan 21, der die Basis des neuen Baselbieter Lehrplans darstellt, national in die Kritik geriet, spülte es auch im Baselbiet besorgte Lehrer in die Debatte, die wenig Lust verspürten, ihre in zahllosen Dienstjahren gefestigte Art des Unterrichtens infrage zu stellen. Ihre Kritik am neuen «Wischiwaschi»-Lehrplan liess sich kaum entkräften, weil das Hunderte Seiten starke Mammutwerk selbst für Fachleute im Detail nur schwer nachzuvollziehen ist. Im Kern erscheint der Lehrplan allerdings durchaus als plausibel. Die kommenden Generationen sollen nicht mit Fakten vollgestopft werden, sondern sich Techniken erarbeiten, Problemstellungen jeder Art anzugehen.
Wiedemann und der «Starken Schule» ist es im Verbund mit Rechtsnationalen gelungen, HarmoS als Selbstverwirklichungstrip Wüthrichs darzustellen.
Auf der politischen Bühne trat der grüne Landrat Jürg Wiedemann ins Rampenlicht. Der Mathematiklehrer steht im Zentrum der Gruppe Starke Schule Baselland. Wiedemanns politische Tätigkeit lässt sich weitgehend auf den Bildungsstreit eingrenzen, sie ist geprägt durch die Feindschaft zu Bildungsdirektor Urs Wüthrich. Im Verbund mit rechtsnationalen Kreisen, die mehr Zugriff auf die Klassenzimmer anstreben, ist es Wiedemann und der «Starken Schule» gelungen mit ungebremster Polemik das Projekt HarmoS als ideologiegetriebenen Selbstverwirklichungstrip Wüthrichs darzustellen. Der zunehmend entnervte Bildungsdirektor vermochte dem wenig entgegenzuhalten. Seine Direktion kommunizierte nicht mehr, sie schottete sich ab.
So erhalten in der Blase, in der sich der Baselbieter Landrat in dieser Legislatur bewegt, gefährliche Forderungen plötzlich Mehrheiten. Mittlerweile ist es vorstellbar, dass der Lehrplan, mit dem sich Tausende Kinder Lebens- und Berufstauglichkeit erarbeiten sollen, von parteipolitischen Spielchen im Parlament zerfleddert wird.
HarmoS wird kommen
Die vielleicht merkwürdigste, aber auch tröstende Pointe im Baselbieter Bildungsstreit: Auch nach den Wahlen und dem Abgang von Wüthrich wird HarmoS weitergehen, ein Ausstieg ist nicht mehr möglich, Anpassungen nur noch punktuell. Daran können auch eine Bildungsdirektorin Gschwind oder Nebiker nichts ändern. In den Schulen arbeitet man längst unbeirrt an der Umsetzung, weil man dort verstanden hat, dass ein stetes Vor und Zurück vor allem eines ist: verheerend für den Schulstandort Baselland.