Auch nach dem «Leave» der Briten muss weiter an Europa gebaut werden. Denn die gerne als Monster dargestellte EU ist in vielem noch immer viel zu schwach. Und Einzelstaaten vermögen nur wenig zu erreichen.
Vorweg das nötige Eingeständnis: Die vor zwei Wochen hier eingegangene Wette habe ich zusammen mit vielen anderen Auguren verloren. Nicht falsch war jedoch die Annahme, dass es etwa ein 50:50-Entscheid sein wird.
Und es bleibt die gravierende Tatsache, dass der Urnengang nicht nur numerisch, sondern real etwa die Hälfte der Abstimmenden als Verlierer zurücklässt: immerhin 16,1 Millionen. Bürgerinnen und Bürger beziehungsweise Menschen. Doch selbst eine NZZ redet bereits in der Schlagzeile gemäss SVP-Vokabular davon, dass sich «das Volk» der Briten gegen die EU entschieden habe.
Es fällt auf, dass sich die meisten Analysen vorwiegend bis ausschliesslich mit dem Brexit-Lager beschäftigt und mit den Gleichgesinnten auf dem Kontinent (Le Pen & Co.) und dabei noch und noch EU-feindliche Urteile rekapitulieren. Kurios allerdings die Aussage einer Frau, die für den Austritt gestimmt hat, dies schon 24 Stunden später bereut und nun für «Remain» stimmen würde. Wie ist so was möglich?
Den Brexit-Befürwortern wird durch ihren Sieg nicht erspart werden, was ihnen Sorge macht: infolge der Globalisierung ohne Jobs dazustehen.
Zum Lager der Verlierer bekommt man weit weniger zu hören; immerhin dass manche geweint hätten. Bei dieser Berichterstattung vergisst man leicht, dass gemäss Umfragen 330 von 500 Millionen Bürgern und Bürgerinnen der EU-Staaten mit der EU zufrieden sind. Die einseitige Fixierung der Medien auf die Anti-Europäer verursacht einen grösseren Reputationsschaden als das knapp zustande gekommene britische «Leave», denn diese Fixierung wird das Vertrauen in das Gemeinschaftsprojekt weiter reduzieren.
Wird das Mehrheitsvotum so konsequent umgesetzt, wie man das in der Schweiz von Abstimmungsergebnissen erwartet, dann muss uns jetzt die Minderheitshälfte und muss uns vor allem die um die Zukunft betrogene Jugend wirklich leid tun, denn für sie werden die Konsequenzen um vieles schmerzlicher sein, als sie für die Menschen des Brexit-Lagers gewesen wären, wenn sie verloren hätten.
Denn was ihnen verständlicherweise Sorgen macht, nämlich infolge von Modernisierung und Globalisierung ohne Jobs dazustehen, wird ihnen durch diesen Sieg leider nicht erspart bleiben.
Wie sollen Bürger, die über Jahre einer Negativeinschätzung ausgesetzt waren, der EU-Mitgliedschaft plötzlich etwas Positives abgewinnen?
Das Ja zum Brexit ist auch eine Quittung für das von Cameron über Jahre betriebene Brüssel-Bashing. Wie sollen Bürgerinnen und Bürger, die während Jahren einer derartigen Negativeinschätzung ausgesetzt gewesen sind, der EU-Mitgliedschaft plötzlich etwas Positives abgewinnen? Hier hat sich etwas wiederholt, was schon 1992 in der Schweiz passierte ist, als der Bundesrat, nachdem er jahrelang den Isolationismus gepriesen und gepredigt hatte, mit der EWR-Vorlage abrupt eine integrative Annäherung an die EU empfahl.
Wer was Gutes über die Brexit-Abstimmung sagen will, bemerkt, dass noch nie «so viel» über Europa gesprochen worden sei. Das mag sogar stimmen, ist aber ein rein quantitativer und kein qualitativer Befund. Der qualitative Befund lautet, dass noch nie so viel gelogen und diffamiert worden ist. Hinzu ist das eifrige Gerede der Uninformierten gekommen. Entgegen gängiger Annahmen hat die Debatte nicht mehr Klarheit, sondern mehr Verunklärung gebracht.
Dazu nur ein Beispiel: Selbst ein britisches Mitglied des Europäischen Parlaments konnte – von den Medien multipliziert – behaupten, die EU-Kommission sei eine «von niemandem» gewählte Institution, obwohl ihre Mitglieder von gewählten Regierungschefs vorgeschlagen und von gewählten EU-Parlamentariern bestätigt werden, was einer Legitimation entspricht, die nicht hinter derjenigen von nationalen Regierungspersonen zurückliegt.
Die EU kann nicht besser sein als ihre Mitglieder.
Ganz abgesehen davon, dass die Kommission gar nichts entscheiden kann, weil dies dem Club der nationalen Mitglieder vorbehalten bleibt. Was man von der UNO und anderen Institutionen der internationalen Politik sagen kann, gilt auch für die EU: Sie kann nicht besser sein als ihre Mitglieder.
«Brüssel» wird, wenn man es – natürlich zusammen mit dem «Technokratenapparat» – verteufeln will, weit stärker als eigener Akteur verstanden, als es dies ist. Die EU ist vor allem ein Potenzial – zum Guten wie zum Schlechten. Dabei könnten sich unterscheiden: die Richtung, die im Prinzip gut ist; und die Konkretisierungen, die teilweise nicht so gut sind.
Es ist an den Mitgliedern, dafür zu sorgen, dass Ungutes nicht verstärkt oder gar wieder zurückgenommen wird, wie 2008 mit der vielkritisierten Norm zur Gurkenkrümmung geschehen, die noch immer als Beispiel für die Regulierungswut der EU eingesetzt wird.
Die Europa-Architekten waren und sind keine übermütigen Himmelsstürmer.
Die EU ist eine Baustelle. Eigentlich sind das alle staatlich verfassten Gesellschaften oder sollten es wenigstens sein und sich nicht nur aufs sture Konservieren von Gegebenem beschränken. Auch das liebe Schweizerhaus ist nicht einfach fertig gebaut. Die EU ist aber in besonderem Mass eine Baustelle, weil ihre Systemausstattung (um das Wort der Staatenbildung zu vermeiden) vergleichsweise unter- und nicht überentwickelt ist. In gewissen Bereichen mag weniger Europa wünschbar sein (Stichwort: Gurkenkrümmung), in wichtigen Bereichen bräuchte es aber sicher mehr Europa. Die gerne als Monster dargestellte EU ist in vielem viel zu schwach.
Baustelle Europa: Da sind wir schnell beim Turm von Babel. Dieses Bild ist richtig und falsch zugleich. Falsch, weil die Europa-Architekten keine übermütigen Himmelsstürmer waren und sind. Man hat sich sehr viel Zeit gelassen und sich an einem Etappenmodell orientiert. Es zeigt sich aber, dass auf Teilintegration nicht beinahe zwangsläufig – über «Spill-over-Effekte» – weitere Teilintegrationen folgen. Diese müssen schon jeweils gewollt sein und gemacht werden.
Eine Babel-Geschichte scheint aber insofern doch vorzuliegen, als die auch hier während des Bauvorgangs eingetretene Sprachverwirrung da und dort zu einem Baustopp geführt hat und grössere Verständigungsschwierigkeiten sogar zur Aufgabe des Projektes zwingen könnten. Dann würden die Bauleute zwar nicht, wie die Urgeschichte sagt, sich über die ganze Erde, aber über den ganzen Kontinent zerstreuten und je an separaten Türmchen weiterbauen.
Einzelstaatler müssen, das ist auch in der Schweiz so, in einer benachbarten Staatengemeinschaft eine Bedrohung sehen.
Man kann die Babel-Metapher aber auch auf das destruktive Werk der vereinigten Nationalisten anwenden, die jetzt mit hemmungsloser Arroganz ihren Anti-Brüssel-Turm aufbauen wollen, der vor allem darin besteht, das über Jahre mühsam errichtete Gemeinschaftswerk zu zerstören und dabei im Namen der Nation nur die eigenen Gesellschaften spaltet.
Der Ukip-Chef Farage will sich nicht damit begnügen, das eigene Land von der «Sklaverei» befreit zu haben, er will nach dem 23. Juni auch die EU insgesamt aus der Welt schaffen und, was offenbar essenziell ist, ihr die Fahne wegnehmen. Das ist verständlich: Einzelstaatler müssen, das ist auch in der Schweiz so, in einer benachbarten Staatengemeinschaft eine Bedrohung sehen.
Den europäischen Nationalisten (auch den schweizerischen) sei gesagt, dass nationales Interesse und supranationale Gemeinschaftspolitik nicht unvereinbare Gegensätze bilden. Der britische Sozialwissenschaftler Alan Milward hat schon in den 1990er-Jahren (mit der Studie «The European Rescue of the Nation-State», London 1992) aufgezeigt, dass die supranationale Dimension den nationalen Akteuren die Möglichkeit gibt, mehr Gewicht zu haben, als sie im Alleingang ausserhalb der Gemeinschaft hätten.
Alleine kann man wenig erreichen.
Wie soll am «Brüsseler-Turm» weitergebaut werden? In schnellen Analysen werden Reformen gefordert, ohne zu sagen, worin sie bestehen sollen, oder es wird sogar gefordert, dass sich die EU «neu erfinden» müsse. Variable Geometrie und à la carte wird empfohlen. Das mag helfen und kennen wir längst aus anderen Politikfeldern. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass viele Politiken nicht trennscharf auseinanderzuhalten sind und letztlich über gemeinsame Politik aufeinander abgestimmt werden müssen.
In den kommenden Monaten wird sich zeigen, was der Entscheid vom 23. Juni für alle Beteiligten an Folgen haben wird. Die Umsetzung des Brexit wird Zeit, viel Zeit in Anspruch nehmen. Gleichzeitig wird die EU wie bisher in wichtigen Bereichen (Binnenmarkt, Beschäftigungspolitik, Schuldentilgung, zivile und militärische Sicherheitspolitik, Energieversorgung, Immigrationsmanagement etc. etc. etc.) weiterhin die nötige Gemeinsamkeit suchen müssen. Alleine kann man wenig erreichen.
Dazu braucht es statt permanenter Aufgeregtheit ernsthafte Gelassenheit, statt kurzfristige Effekthascherei einen langen Atem, eine gute Mischung von Nüchternheit und Hochgefühl. Ein weiteres Ziel könnte sein, wie am eben abgehaltenen Gipfel beschlossen, das Vertrauen in die EU zurückzugewinnen. Das aber kann man nicht einfach an sich tun, sondern nur indirekt – mit guten Ergebnissen in den genannten Politikbereichen.