«Die Bomben fallen aus dem Nichts» – drei Erlebnisberichte aus Aleppo

Seit Beginn der Offensive der Regierungstruppen sind die Menschen im Ostteil von Aleppo vollends isoliert. Während der Rest der Welt debattiert oder vor dem Schrecken die Augen verschliesst, kämpfen sie ums Überleben. Ein Arzt, ein Rettungshelfer und ein Familienvater erzählen vom Alltag im Bombenhagel.

Ismail Abdallah

Seit Beginn der Offensive der Regierungstruppen sind die Menschen im Ostteil von Aleppo vollends isoliert. Während der Rest der Welt debattiert oder vor dem Schrecken die Augen verschliesst, kämpfen sie ums Überleben. Ein Arzt, ein Rettungshelfer und ein Familienvater erzählen vom Alltag im Bombenhagel.

Seit dem Bruch des Waffenstillstandes Mitte September erlebt die syrische Metropole Aleppo die heftigsten Luftangriffe durch die syrische und die russische Luftwaffe seit Beginn des Krieges. Der Belagerungsring um die Stadt ist erneut geschlossen und die Wasserversorgung für Millionen Menschen ist gekappt.

Für Journalisten ist es derzeit nicht möglich, nach Syrien zu reisen. Ein Arzt, ein Rettungshelfer und ein Familienvater berichten deshalb über Skype und WhatsApp von der Lage in der Stadt.

Dr. Mohamed Alhalaby, 43, Arzt

Wir Ärzte arbeiten rund um die Uhr, seit das Regime und die Russen die Bombardierungen wieder aufgenommen haben. Wir haben keine Möglichkeit, längere Pausen zu machen, es kommen ständig neue Verwundete. Die Fälle gleichen sich. Ich denke an ein achtjähriges Mädchen, das ich behandelt habe. Sie heisst Lara. Die Rettungskräfte haben sie unter einem Leichnam geborgen, unter dem sie stundenlang gelegen hat. So sieht ein normaler Tag im Moment für mich aus.

Wir verlieren täglich Patienten, weil wir sie nicht angemessen behandeln können. Unser Gesundheitswesen war nicht schlecht vor dem Krieg. Die Kliniken in Aleppo waren modern ausgerüstet. Jetzt gibt es nur noch wenige Kliniken, die halbwegs funktionstüchtig sind. Sie können nur mit halber Kapazität arbeiten, weil auch sie beschädigt sind. 

«Ich bin einer von 40 Ärzten, die es im Moment noch im belagerten Teil von Aleppo gibt.»

Mohamed Alhalaby, Arzt

Wir arbeiten in Ruinen. Die Fenster haben kein Glas, Staub und Rauch ziehen durch die Gänge, wenn in der Nähe bombardiert wird. Es herrscht Chaos. Die Verwundeten liegen auf dem Boden mit ihren offenen Wunden, und wir waten durch das Blut. Der ganze Klinikbetrieb hängt von unseren Treibstoffvorräten ab. Nur dank der Generatoren laufen die Lampen während der Operationen. Wenn ich das Internet nutze wie jetzt, verbrauche ich etwas von unseren kostbaren Reserven. Wenn unsere Vorräte aufgebraucht sind, müssen wir die Kliniken schliessen. Aber was wäre dann? 

«Gottseidank haben wir einen eigenen Brunnen. Sauber ist das Wasser nicht. Aber wir müssen es unseren Patienten zu trinken geben und unsere Instrumente damit reinigen.»

Neben der unsicheren Stromversorgung ist das Wasser unsere Hauptsorge. Aus den Leitungen fliesst nichts mehr. Gottseidank haben wir einen eigenen Brunnen. Sauber ist das Wasser nicht. Aber wir müssen es unseren Patienten zu trinken geben und unsere Instrumente damit reinigen. Viele werden von dem Wasser krank. Wenn wir damit Wunden reinigen, werden häufig Erreger übertragen.

Viele Patienten leiden an Leishmaniose wegen des verschmutzten Wassers in der Stadt. Das ist eine von Mücken übertragene Krankheit, die das Fleisch auffrisst. Die Mücken vermehren sich, weil das Wasser aus den kaputten Rohren ausgelaufen ist und überall faulige Tümpel gebildet hat. 

Die grössten Probleme bereiten uns die Brandwunden. Seitdem so viele Brandbomben abgeworfen werden, haben wir immer mehr Patienten mit schweren Verbrennungen. Wir versuchen, die Wunden mit einer Salzlösung zu desinfizieren, aber es ist schwierig, sie steril zu halten. Unsere Vorräte an Schmerz- und Narkosemitteln sind begrenzt. Aber bisher musste ich noch nicht ohne Anästhesie operieren. 

«Wir können unsere Patienten nicht auf dem Tisch zurücklassen, um in den Keller zu gehen. Also behandeln wir ihre Wunden und hoffen, dass kein Volltreffer einschlägt.»

Wenn bombardiert wird, müssen wir die Arbeit unterbrechen. Wir wissen natürlich nicht, wann es passiert. Das ist ein Risiko bei Eingriffen. Seit dem Ende der Waffenruhe Mitte September ist es besonders schwierig geworden. Wir können unsere Patienten nicht auf dem Tisch zurücklassen, um in den Keller zu gehen. Also behandeln wir ihre Wunden und hoffen, dass kein Volltreffer einschlägt. 

Wir wissen auch, dass viele Menschen in Aleppo uns gar nicht mehr erreichen können, weil die Strassen zerstört sind. Es gibt einige Feldlazarette, aber dort können die Menschen nur mit beschämend primitiven Methoden behandelt werden. 

Unter den Trümmern liegen viele Leichen, die niemand bergen kann. Überall in der Stadt stinkt es nach Verwesung. Das ist auch ein medizinisches Problem, weil sich so Seuchen ausbreiten. Mich beunruhigt auch, dass immer mehr Patienten Zeichen von Unterernährung zeigen. Daran kann ich nichts ändern. Ich bin einer von 40 Ärzten, die es im Moment noch im belagerten Teil von Aleppo gibt.

Das Spital, in dem Mohamed Alhalaby arbeitet, wurde bei einem Bombardement Ende September schwer beschädigt. Dr. Alhalaby blieb unverletzt.  

Ismail Abdallah, Rettungshelfer und Mitglied der «Weisshelme»

Gestern hatte ich einen Einsatz in der Altstadt von Aleppo. Wir waren schon ganz in der Nähe, als eine weitere Fassbombe explodierte. Die Menschen waren gerade aus dem Schutzraum gekommen, als sie die zweite Bombe traf. Wir konnten nur noch Leichen bergen. Fünf Kinder, sieben Frauen, darunter eine Schwangere, und fünf Männer. Ich erinnere mich an ein Baby, dessen kleiner Körper in der Mitte durchtrennt war. So etwas sehe ich seit drei Jahren immer wieder, aber jetzt hört die Bombardierung nicht mehr auf. 

Ich stehe morgens auf und gehe zu unserem Einsatzzentrum. Es ist das einzige von ehemals vier Zentren, das noch steht. Dann schauen wir in den Himmel, ob wir Flugzeuge und Helikopter sehen. Wenn möglich, versuchen wir ihnen zu folgen, damit wir schon in der Nähe sind. Wenn dann die Bomben explodiert sind, graben wir nach den Verschütteten, bergen sie und bringen sie in das nächste Krankenhaus oder Feldlazarett. Je nachdem, was in der Nähe ist. 

Als wir anfingen, haben wir den Schutt mit blossen Händen weggeräumt. Inzwischen haben wir dank Spenden aus dem Ausland etwas Ausrüstung. Häufig folgt auf eine Bombardierung gleich eine weitere, aber schützen können wir uns davor nicht. So verlieren wir immer wieder Freiwillige. Im Moment gibt es 120 Männer und Frauen beim Civil Defence Service. Viele nennen uns Weisshelme, weil wir dank unseren weissen Helmen erkennbar sind für die Bevölkerung.

Wir freuen uns, dass wir mit dem alternativen Nobelpreis jetzt eine internationale Auszeichnung bekommen haben. Aber Auswirkungen auf unsere Arbeit hat es nicht. Die Helikopter und Flugzeuge des syrischen Regimes fliegen so tief, dass sie uns mit unseren Helmen sehen müssten, doch sie nehmen keine Rücksicht. Dennoch waren unsere Chancen grösser, Leben zu retten und selbst am Leben zu bleiben, solange uns nur das Regime bombardiert hat. Die russischen Bomber fliegen so hoch, dass wir sie vom Boden aus kaum erkennen können. Plötzlich fallen Bomben, und du weisst gar nicht, woher sie kommen. 

Die russischen Bomben, die jetzt über Aleppo abgeworfen werden, sind andere als die, die vor der Waffenruhe eingesetzt worden sind. Einige sind so gewaltig, dass sie metertiefe Krater in den Boden sprengen. Es fühlt sich wie ein Erdbeben an, wenn sie irgendwo in der Stadt einschlagen. Die Menschen sterben jetzt auch in den Kellern, in denen sie bei Luftangriffen Zuflucht suchen. Die neuen Bomben pulverisieren sie einfach. 

Viele unserer Fahrzeuge sind in den vergangenen Tagen zerstört worden, und es wird immer schwieriger, Opfer zu erreichen. Aber noch versuchen wir zu helfen, so gut es eben geht. Ich mache mir keine Gedanken mehr, was mit mir passiert. Ich wollte zu den Weisshelmen, weil wir Leben retten und nicht zerstören. Uns interessiert nicht, welche Religion ein Mensch hat oder was er politisch denkt. Wir holen ihn aus den Trümmern. Das ist meine Aufgabe, und ich werde sie erfüllen, solange es geht. 

Mohammed Abdallah*, 25, Vater von drei Kindern

Mein jüngster Sohn Laith ist vier Monate alt. Manchmal, wenn ich ihn im Arm halte, werde ich traurig. Vielleicht wird mein kleiner Sohn niemals etwas anderes sehen als die Ruinen in unserer Nachbarschaft. Keine Berge, kein Meer, nur die ganze Zerstörung um uns herum.

Ich habe noch zwei weitere Söhne. Cream ist zwei Jahre alt, Saleem ist vier. Auch sie kennen nichts anderes als Krieg. Meine Frau und ich haben sie in die Welt gesetzt. Jetzt versuchen wir, sie am Leben zu halten. Aber das wird immer schwieriger. Denn die Bomben fallen ohne Unterlass. Nachts schreien unsere Kinder so laut, dass sie die Detonationen von draussen übertönen. Wir können sie nicht beruhigen. 

«Wenn einer von uns nach draussen geht, um etwas zu kaufen, weiss der andere nicht, ob er zurückkommt.»

Unser ganzes Leben dreht sich darum, Essen zu organisieren. Wenn einer von uns nach draussen geht, um etwas zu kaufen, weiss der andere nicht, ob er zurückkommt. Meistens kommen meine Frau oder ich wütend vom Einkaufen zurück. Es gibt immer weniger Lebensmittel und die Preise sind astronomisch hoch. Obst haben unsere Kinder schon lange nicht mehr gegessen, auch kaum Gemüse. Ich pflanze auf einer kleinen Parzelle vor unserem Haus Auberginen und Petersilie an. Das sind unsere Grundnahrungsmittel.  

In unserem Viertel ist die Wasserversorgung schon lange unterbrochen. Wir holen Wasser aus einem Brunnen und versuchen es von Hand zu filtern. Es bleibt aber schmutzig. Ich bin davon krank geworden. Wir haben einen kleinen Stromgenerator. Aber wir müssen sehr sparsam damit umgehen. Wahrscheinlich haben wir bald keine Möglichkeit mehr, Treibstoff zu kaufen.

In unserer Gegend fallen viele Bomben. Wir sitzen oft stundenlang im Schutzraum und kaum sind wir draussen, geht es von vorne los. Am schlimmsten ist, dass die Raketen und Bomben, die jetzt von den Russen eingesetzt werden, wie aus dem Nichts fallen. Wir wissen nicht, wo wir hingehen sollen, wenn eines unserer Kinder verletzt sein sollte. Die Krankenhäuser sind weit entfernt und die Feldlazarette haben kaum Medizin. Wir denken aber selten darüber nach. Wir sind zu beschäftigt, etwas zum Essen aufzutreiben.


 


*Name geändert 

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