Die demokratische Infrastruktur zeigt Schwächen

Die Diskussion vor der Volksabstimmung über die Änderungen im Radio- und Fernsehgesetz war einseitig. Welche Konsequenzen aus dem knappen Ja zu ziehen sind, ist deshalb unklar – deutliche Hinweise auf Defizite unserer Demokratie.

Die aggressive Propaganda verfing: Umstrittene Abstimmungswerbung des Gewerbeverbands zur RTVG-Revision.

(Bild: Keystone)

Die Diskussion vor der Volksabstimmung über die Änderungen im Radio- und Fernsehgesetz war einseitig. Welche Konsequenzen aus dem knappen Ja zu ziehen sind, ist deshalb unklar – deutliche Hinweise auf Defizite unserer Demokratie.

Für den berühmten amerikanischen Philosophen John Dewey  (1859–1952) bestand das Wesen der Demokratie in der öffentlichen Diskussion, er erachtete die Diskussion sogar als die Gestaltungsform der Demokratie. Diese These stimmt noch viel mehr für die direkte Demokratie. Kommunikation ist gleichsam ihr Herz und ihre Seele. Schwächelt das Herz, droht die direkte Demokratie zu kollabieren.

Sowohl die Initiative als auch das Referendum lassen sich kommunikativ als spezifische Einladungen zur öffentlichen Diskussion und Deliberation (lat. «Beratschlagung», «Überlegung») verstehen. Eine Initiative ist immer eine Frage von wenigen an alle mit der Einladung, über eine bestimmte Idee und Reform nachzudenken, zu diskutieren, sich so mit dem Vorschlag vertraut zu machen, um ihn dann ablehnen oder unterstützen zu können. Ein Referendum dagegen entspringt immer dem meist kritisch verstandenen Wunsch nach mehr Nachfragen zu einer Sache, die im Parlament bereits beschlossen wurde. Ein Referendum bringt zum Ausdruck, dass eine wesentliche Anzahl der Bürgerinnen und Bürger von den Diskussionsergebnissen der parlamentarischen Gesetzesberatung nicht überzeugt sind und kritisch nachfragen beziehungsweise alle Bürgerinnen und Bürger veranlassen möchten, sich der Sache anzunehmen, sich kundig zu machen und selber zu entscheiden.

Diskurs in der Öffentlichkeit

Wann immer also eine Volksinitiative lanciert oder ein Referendum eingereicht wird, herrscht grosser Diskussionsbedarf. Es ist die Qualität dieses vielfältigen öffentlichen Diskussions- und Deliberationsprozesses, welche die Qualität des Abstimmungsergebnisses bestimmt. Ganz im Sinne der These des Basler Philosophen Hans Saner in einem berühmten Radiogespräch von 1989 mit Max Frisch, als er meinte, nicht die Mehrheitsregel sei das Problem der Demokratie, sondern die Art und Weise, wie sie zustande komme.

Wie intensiv wird diskutiert? Gehen die verschiedenen Akteure auf die Argumente ihrer Kontrahenten ein? Oder spielen sie einfach auf den Mann und versuchen, ihn zu diskreditieren statt dessen Argument zu widerlegen? Können diese wiederum replizieren, differenzieren, nachstossen? Berichten die Medien über die Debatten und bewerten sie die Diskurse? Analysieren sie die Interessen und Motivationen der verschiedenen Protagonisten und ihrer Art, die eigenen Anliegen zu vertreten? Sind die Möglichkeiten der verschiedenen Akteure, Aufmerksamkeit zu erzeugen und Gehör zu finden, ausgeglichen? Dominieren jene, die unmittelbare Interessen vertreten? Wie unterscheiden sich diese von jenen, die zumindest vorgeben, das Allgemeinwohl und nicht das eigene Geschäft zu priorisieren?

Bürgerinnen und Bürgern, die  mit solchen Debatten konfrontiert werden, beginnen, sich selber in ihnen zu verorten. Sie machen sich Diskurse zu eigen und geben sie weiter, nicht nur auf dem Stimmzettel, sondern auch in der Öffentlichkeit. So vermag sich die Gesellschaft zu verständigen; wir merken, wie viele denken, was sie umtreibt, welche Argumente die meisten überzeugen.

Keiner weiss, was die meisten Schweizerinnen und Schweizer – vor allem in der Deutschschweiz – jetzt wollen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie unzureichend der Meinungsbildungsprozess zur Revision des Radio- und TV-Gesetzes war. Gewiss haben spezifische Faktoren die Defizite dieses Prozesses noch verstärkt. So waren viele Verlagshäuser Partei in dieser Sache, und ihre Konzernblätter informierten einseitig und negativ, wie eine Studie des Zürcher Forschungsinstituts für Öffentlichkeit und Kommunikation belegen konnte. Die SRG war befangen und hielt sich vor allem in der deutschen Schweiz als Plattform der Debatte viel zu sehr zurück. Und schliesslich stritten zwei der Protagonisten gleichsam verdeckt, um nicht zu sagen gezinkt: Gewerbeverband und «Medienfreiheitliche» gaben zwar vor, es ginge ihnen ums Geld – und übertrieben dabei ordentlich: Tatsächlich wollen sie die SRG unterminieren und deren Fundamente zum Einsturz bringen.

Auf der Gegenseite unterschätzten vor allem die Deutschschweizer SRG-Fans den allgemeinen Unmut über das für viele unverträgliche TV-Angebot und die daraus folgende Lust, über öffentlich-rechtliche Ansprüche zu streiten, während es doch an sich nur um eine Systemänderung in der Erhebung der Gebühren ging. Die Konsequenz: viel Unmut, viel Aggressivität, viele Behauptungen, viele Monologe, viele Übertreibungen; wenig Dialog, wenig Verständigungsanstrengungen, wenig Überzeugungsarbeit, wenig Analyse, wenig Aufklärung und wenig Orientierung.

Das Ergebnis ist weit verbreiteter Ärger und Unbehagen. Zwar scheut kaum einer der Protagonisten davor zurück, so zu tun, als ob er wisse, dass die jeweilige Hälfte der Stimmenden genau seiner persönlichen Meinung ist. Im Grund genommen sind sich aber die meisten bewusst, dass keiner weiss, was die meisten Schweizerinnen und Schweizer – vor allem in der Deutschschweiz – jetzt wollen. Muss für das Radio und Fernsehen zu viel bezahlt werden? Stört tatsächlich die Haushaltspauschale, da es auch radio- und fernsehfreie Haushalte gibt? Oder sind die Unternehmensbeiträge unangemessen? Mangelte es tatsächlich an der Verfassungsgrundlage? Geben sich die SRG-Mitarbeitenden wirklich zu arrogant? Ist das Angebot von SRF in der Deutschschweiz wirklich zu seicht und zu flach? Bekommen die Tessiner zu viel aus dem SRG-Topf? Fragen über Fragen, welche auch akademische Vox-Analysen nicht werden klären können.

Mediale Ressourcen fehlen

Es gab schon Volksinitiativen, die nach der Abstimmung paradoxerweise intensiver, breiter und besser diskutiert wurden als vor der Abstimmung. Zu denken ist beispielsweise an die Ablehnung der Minarette im Spätherbst 2009, als die schweizerische Öffentlichkeit von den Niederungen der UBS und den Eskapaden Muammar al-Gaddafis zu besetzt schien, um auch noch Platz zu finden für eine angemessene Erörterung von Moscheen und Minaretten in der Schweiz. Oder an den 9. Februar 2014, da nach den Festtagen vier Wochen nicht ausreichten, um sich über die Folgen der extremen SVP-Masseneinwanderungs-Initiative klar zu werden. Nun haben wir ein Referendum, das nach der Abstimmung mehr zu reden geben wird als vorher.

Noch wichtiger als diese Debatten ist aber die Frage, welche Schlussfolgerungen wir aus der Erkenntnis ziehen, der 14. Juni 2015 habe die infrastrukturellen Defizite der schweizerischen Demokratie aufgedeckt: Es gibt schlicht die medialen Räume und Ressourcen nicht mehr, welche Voraussetzung sind für eine echte breite und differenzierte gesellschaftliche Diskussion und Deliberation. Und wenn der Markt derart die Voraussetzungen für eine fruchtbare Demokratie nicht mehr zur Verfügung stellen kann, muss eben die Gesellschaft selber für Ersatz sorgen. Das hiesse beispielsweise, dass aus dem von der Allgemeinheit gespeisten «Medientopf» all jene unterstützt werden, die Raum schaffen für diese Debatte – sei sie nun elektronisch oder papieren, per Post oder Verträger ins Haus geliefert.

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