Die Ein-Mann-Partei

Die SVP Basel wäre ohne ihren Grossrat Joël Thüring in Schwierigkeiten.

Politik ist für den Basler SVP-Grossrat Joël Thüring alles: «Ich habe Spass daran. Es gefällt mir, etwas zu bewegen und auf Missstände aufmerksam zu machen.» (Bild: Hans-Jörg Walter)

Die Politik ist Joël Thürings Lebenselixier und Basels SVP sein Zuhause. Die Partei wäre ohne ihren hyperaktiven Grossrat in ziemlichen Schwierigkeiten.

Die Kunst der Bescheidenheit beherrscht Joël Thüring gut. «Jeder ist ersetzbar», sagt der SVP-Grossrat. Man will ihm das Gesagte glauben, zu gut weiss er schliesslich, wie schnell man wieder stürzen kann.

Doch im Fall von Thüring ist das schwierig. Die Basler SVP ist abhängig geworden vom 29-Jährigen, an Thüring führt heute kein Weg mehr vorbei. Zwar ist Sebastian Frehner formal noch immer SVP-Präsident, doch die Geschicke der Partei leitet längst Thüring.

Ohne ihn geht in Zeiten, in denen sich Frehner mehr auf seine Karriere als Nationalrat konzentriert, nicht mehr viel: Keine Medienmitteilungen, keine aufsehenerregenden Vorstösse, keine Voten. So exemplarisch geschehen an der letzten Sitzung des Grossen Rats, als sich selbst ein kranker Joël Thüring noch ächzend ans Rednerpult schleppte, weil kein anderer seiner Kollegen wollte.

Voller Tatendrang

Seit seinem Wiedereinzug in den Gros­sen Rat im Februar 2013 hat sich der persönliche Mitarbeiter von Frehner zu einer der prägendsten Figuren im Basler Parlament entwickelt. Etliche Vorstösse und Interpellationen hat er schon eingereicht. Manchmal ist er schon fast hyperaktiv, was ihn angreifbar macht.

Beispielsweise, als er vergangene Woche eine Medienmitteilung und ­Interpellation zu einem Thema verfasste, nur Stunden, nachdem in der «Basler Zeitung» ein Artikel seines Parteifreundes Aaron Agnolazza darüber erschienen war. Es ging um einen Abschreiber von 14  Millionen Franken, den die IWB bei einem Solarprojekt in Spanien machen mussten. Schnell wurde der Vorwurf laut, dass Thüring die Inhalte der BaZ jeweils schon im Voraus kenne.

In seinem Büro in der Nähe des Spalentors ist Thüring bemüht, seine Rolle in der Partei herunterzuspielen. Er trägt ein weinrot gestreiftes Hemd, das zu seinen hellblauen Augen fast kitschig wirkt. Thüring sagt: «Ach, ich war trotz Krankheit im Grossen Rat, weil ich mein Amt pflichtbewusst wahrnehmen will. Die anderen wären auch ohne mich ausgekommen.»

Und man glaube nur, dass er so aktiv sei, weil sich in all den Jahren viele Ideen aufgestaut hätten und er diese nun mit Vorstössen abarbeite. «Ausserdem ist das E-Paper der BaZ frühmorgens online. Es ist erstaunlich, dass sich die Medien nun auf diesen Umstand konzentrieren und die eigentliche Geschichte nicht gross aufnehmen. Nur weil Aaron Agnolazza bei der BaZ arbeitet, heisst das noch lange nicht, dass dies Einfluss auf meine Politik hat – oder umgekehrt.»

Ein überschaubares Universum

Man könnte schnell meinen, Thüring habe kein Leben neben der Politik – und das ist auch so. Thüring ist ein Arbeitstier, sein Universum überschaubar. Leidenschaft kennt er nur in der Politik, sie ist sein Ein und Alles. «Ich habe Spass daran. Es gefällt mir, etwas zu bewegen und auf Missstände aufmerksam zu machen», sagt er.

Doch aus seiner Fixierung zu schliessen, er sei einsam, das will er nicht gelten lassen. «Ich bin nicht einsam, sondern lebe gerne alleine – und ich habe kein Problem damit. Ich sehe auch keinen Anlass, etwas daran zu ändern.» Thüring hat eben in der Basler SVP sein Nest gefunden. Viel Platz für anderes bleibt da nicht. Ausser für die regelmässigen Besuche bei seiner italienischen Grossmutter, wo er wöchentlich zum Essen vorbeischaut. Die 92-Jährige ist seine engste Bezugsperson.

Für die Politik interessierte sich Thüring, der in der Nähe des Felix-Platter-Spitals aufwuchs, bereits mit elf Jahren, als andere Kinder noch sorglos mit ihrem Gameboy spielten. Sorglos war Thürings Kindheit in dieser Zeit jedoch nicht mehr. Immer wieder musste er zuschauen, wie sich seine Eltern stritten.

Als er 14 Jahre alt war, liessen sie sich schliesslich scheiden. «Das war eine schwierige Phase für mich.» Eine, die ihn bis heute noch prägt. Vielleicht sei er deshalb gerne alleine und ertrage es nicht lange, mit jemandem Streit zu haben.

Er habe manchmal auch ein kleines Helfer-Syndrom, er mache sich viel Sorgen um die Probleme anderer Leute. Sagt er und rennt zum klingelnden Telefon. «Jaja, der Vorstoss wurde überwiesen», antwortet er einem Parteifreund. Thüring ist das Google der SVP. Viele rufen bei Unklarheiten ihn an, anstatt im Internet nachzuschlagen. Das geht meistens schneller.

Alles hat seine Ordnung

Für den Beitritt in die SVP entschied er sich mit 16 Jahren, weil sie bei der Ausländer- und Europapolitik seine Meinung vertritt. Nicht etwa aus Protest gegen seine Eltern, die damals eher dem linken Lager zuzuordnen waren (sein Vater ist mittlerweile SVP-Mitglied). Auch negative Erfahrungen mit Ausländern habe er keine gemacht. «Die SVP ist die Partei, die die Dinge beim Namen nennt», begründet er seinen Entscheid.

Den Leiter des Basler SVP-Sekretariats kann nichts so schnell aus der Ruhe bringen. Nicht einmal, wenn er auf der Strasse als «Sauhund» beschimpft und mit einer Bierdose beworfen wird. Oder wenn im Restaurant Leute hinter ­seinem Rücken über ihn lästern. Er ist eine Reizfigur – und das weiss er auch.

Thüring, der eine Lehre als Kaufmann absolvierte, sagt, was er denkt. Er hält nichts davon, sich zu verbiegen. Hin und wieder kann er aber auch aufbrausend sein. Und dann fliegen in seinem Büro auch schon mal Tassen herum. Denn er erträgt es nicht, «etwas nicht im Griff» zu haben. Alles muss seine Ordnung haben im Leben des 29-Jährigen.

Politik als Spiel

Das war nicht immer so. Joël Thüring weiss, wie es ist, sich am Abgrund zu bewegen. 2006 trat der Zögling der ehemaligen, in Missgunst geratenen SVP-Präsidentin Angelika Zanolari nach einem Griff in die Parteikasse von sämtlichen politischen Ämtern zurück. Damals war er Präsident der Jungen SVP, SVP-Fraktionspräsident im Grossen Rat und Vorstands­mitglied der lokalen und der nationalen SVP. So schnell wie er sich hoch­gearbeitet hatte, so schnell stieg er auch wieder ab.

Thüring lebte daraufhin ein Leben in der Isolation, abseits von der Po­litik, seinem Lebenselixier. Heute sagt er über diese Zeit: «Wenn man meint, dass man unersetzlich ist, wird einem relativ schnell der Spiegel vorgehalten. Der Vorfall zeigte auch, wie schnell man fallengelassen wird, wenn man kein Amt mehr hat. Damit kann ich aber umgehen – und heute erst recht.»

Joël Thüring hat seine Lehren daraus gezogen: seine politische Rolle trotz unermüdlicher Leidenschaft nicht zu ernst zu nehmen. Es geht ihm immer um die Sache, nicht um sich selber. Er ist sich bewusster denn je, dass vieles ein Spiel ist, und jedes Spiel ein Ende hat. «Politiker haben oft das Gefühl, dass die Leute sich für sie interessieren. Die grosse Mehrheit interessiert sich aber nicht für die Politik.»

Bern oder Regierung

Und schon wieder klingelt das Handy. Dieses Mal ist es Sebastian Frehner. Geduldig erklärt Thüring ihm, welche Stände- und Nationalräte am Nachmittag an einer Sitzung teilnehmen werden. «Martin Schmid ist der zweite Ständerat aus Graubünden … Und genau: Daniel Fässer kommt aus dem Appenzell …» Frehner hat in Thüring einen Mann für alles gefunden.

Interessant fände Thüring für die Zukunft, «wenn die Zeit dann reif dafür ist», ein Regierungsamt oder ein Mandat im Bundeshaus, wo er ­bereits heute für Frehner ein- und ausgeht. Dass er irgendwann SVP-Präsident werden und somit den Sitz von Frehner übernehmen könnte, ist für ihn momentan kein Thema. «Ich kann gut leben ohne das Parteipräsidium», sagt er und zitiert lachend einen Spruch des ehemaligen FBI-Chefs J. Edgar Hoover: «Es ist sowieso egal, wer unter mir Präsident ist.»

Joël Thüring meint das als Witz. Zumindest halbwahr ist seine Aus­sage aber dennoch.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 04.10.13

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