Die liberale Denkfabrik Avenir Suisse hat ein Weissbuch veröffentlicht. Darin erlaubt sie sich, wagt es und nimmt sich heraus, bis zum Jahr 2030 und dabei an die Beziehungen zur EU zu denken. Dabei erörtert sie verschiedene Szenarien darunter auch einen EU-Beitritt, den sie als durchaus möglich beurteilt.
Der EU-Beitritt ist bloss eine von sechs Varianten. Drei liegen auf der Seite geringer Integration und tragen die Titel «Selbstbestimmter Rückzug», «Club Schweiz» und «Globale Oase». Die anderen drei stehen in aufsteigender Linie für mehr Integration: «Tragfähige Partnerschaft», «Skandinavischer Weg» und «Europäische Normalität» (Vollbeitritt). Für weitere Differenzierung empfiehlt sich die Lektüre des Weissbuchs.
Aufgeregte Diskussion
Das Weissbuch der wirtschaftsnahen Denkfabrik ist Ende Mai erschienen und sogleich setzte eine auffallend aufgeregte Diskussion ein. Wie zu erwarten war, wird die Beitritts-Variante mehrheitlich ablehnend und nur von wenigen anerkennend erörtert. Nationalrat Eric Nussbaumer (SP/BL) lobte in der SRF-«Arena» die Auslegeordnung.
Andere fanden diese entweder überflüssig oder falsch. Überflüssig darum, weil bereits seit 25 Jahren diskutiert, viel zu viel diskutiert statt mit kleinen Schritten vorangemacht werde. Oder falsch, weil sie auch eine absolut chancenlose Variante in ihre Überlegungen einbeziehe.
«Nicht überflüssig», konterte Peter Grünenfelder, Chef von Avenir Suisse, weil sich die politische Debatte nicht auf die politischen Hinterzimmer beschränken dürfe. Dem ist allerdings nicht so: Die Debatte findet mindestens seit einem Vierteljahrhundert sehr offen auch in den Medien statt.
Die SVP erklärt, auch sie sei für die Bilateralen. Sie meint aber die wenig bedeutenden weitgehend technischen Abkommen.
In der jüngsten TV-Debatte bildeten sich, was nicht überraschte, drei Grundhaltungen heraus: Die eine will Abschottung, die andere den Vollbeitritt und die dritte befürwortet den goldenen Mittel- oder Königsweg der Bilateralen. Diese begrifflichen Zuordnungen müssen erläutert werden.
Abschottung
Die SVP will ihre Ablehnung von Bindungen an die EU nicht so etikettiert sehen, sie repliziert, dass sie im Gegenteil sehr weltoffen sei, dass sie Wirtschaftsbeziehungen mit allen begrüsse, auch mit der EU, aber nicht unter deren Diktat. Bezogen auf die europäische Integration nimmt die nationalkonservative Rechte aber durchaus eine Abschottungshaltung ein.
Bilaterale
Da muss klargestellt werden, welche Bilateralen man damit meint: die Gesamtheit der rund 120 über mehrere Jahrzehnte entstandenen Verträge oder die 7 in den 1990er-Jahren als Ersatz für den EWR ausgehandelten und im Mai 2000 in einer Volksabstimmung mit immerhin über 67 Prozent Zustimmung angenommenen Verträge.
Die SVP erklärt mit der für sie typischen Augenwischerei, auch sie sei für die Bilateralen. Sie meint aber die wenig bedeutenden weitgehend technischen Abkommen. Zu den wirtschaftspolitisch bedeutenden Verträgen, die bei einer Kündigung der Personenfreizügigkeit ebenfalls wegfallen würden, meint sie, dass diese entweder entbehrlich seien oder von der EU, weil auch für sie wichtig, nicht gekündigt würden.
Königsweg
Diese Superlösung war aus der Sicht der EU und vieler Schweizer (FDP und CVP inklusive) eine überbrückende Konzession an ein künftiges EU-Mitglied. Wenn sie jetzt zur Dauerlösung werden soll, muss sie mit einem Regelwerk der dynamischen Rechtsanpassung (sprich: mit einem Rahmenvertrag) ausgestattet werden. Doch auch da ist die SVP dagegen, weil sie zu viele Übernahmen befürchtet und die ausbleibende Erweiterung in anderen Sektoren (z.B. Elektrizität, Versicherungen) für unwichtig hält.
Autonomer Nachvollzug
Ein weiterer Schlüsselbegriff dieser Debatte. Von den Beitrittsbefürwortern wird er eingesetzt, um aufzuzeigen, wie widersinnig es sei, nicht dabei zu sein, wenn man doch viele Bestimmungen der EU ohnehin übernehme, bei deren Ausarbeitung man nicht mitwirken konnte.
Die Gegenseite hält dem entgegen, dass der Nachvollzug nur technische Regelungen beträfe, die zum Teil sogar von der Bundesverwaltung ohne Einbezug der politischen Behörden vorgenommen werden.
Bemerkenswert ist, dass dieser Nachvollzug kaum spürbar und quantitativ schwer erfassbar ist. Schätzungen gehen davon aus, dass über 50 Prozent der geltenden Bestimmungen fremdbestimmt sind.
Vor dem Hintergrund eines theoretisch möglichen EU-Beitritts erscheint das Rahmenabkommen als das geringere Übel.
Avenir Suisse will zum Nachdenken anregen und muss darum die Befreiung von Tabus fordern. Das ist eine Aufforderung an die Adresse derjenigen, die einen EU-Beitritt für immer und ewig ausschliessen. CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (BL) findet diese Art von Enttabuisierung nicht gut, weil es der SVP Gelegenheit gibt, das Beitritts-Gespenst zu reaktivieren. Indem man 2016 das Gesuch von 1992 um Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zurückgezogen habe, habe man eine Ruhe hergestellt, die mit dem Weissbuch wieder gestört werde.
Die Worte und Taten der SVP lassen aber überhaupt keine Beruhigung erkennen. Und ein Variantendenken könnte die Akzeptanz des von der bürgerlichen Mitte gewünschten Rahmenabkommens erhöhen. Vor dem Hintergrund eines mindestens theoretisch möglichen EU-Beitritts erscheint das ebenfalls kritisch beäugte Rahmenabkommen als das geringere Übel.
Abstimmungen sind Momententscheide
Nach einer gängigen Methode werden für die Zukunft propagierte Wege mit Hinweisen auf die Vergangenheit zusätzlich begründet: Die Bilateralen sind auch künftig gut, weil sie in der Vergangenheit gut waren – und in mindestens drei Volksabstimmungen gutgeheissen wurden. Das mag so sein, beseitigt aber nicht die problematische Tatsache, dass Volksabstimmungen im Prinzip immer nur Momententscheide von offener Gültigkeitsdauer sind.
Die Verewigung eines momentanen Abstimmungsausgangs, zum Beispiel eines Nein zum EWR oder eines Ja zu Schengen/Dublin, steht quer zur einfachen Erfahrungstatsache, dass sich die Welt wandelt. Das hat die Vergangenheit gezeigt, und das wird die Zukunft zeigen. Und das gilt für die Schweiz wie für die EU.
Das Wort von der Chancenlosigkeit kann auch schlicht ein Ausdruck des Nichtwollens sein.
In der Schweiz gab es Zeiten, da starke Kräfte einen EU-Beitritt wünschten. Heute mit bloss 13 bis 18 Prozent Zustimmung präsentiert sich die Lage tatsächlich völlig anders. Das kann sich aber wieder ändern. Und so wie die EU heute wegen Uneinigkeit schwächer erscheint, als sie in den 1990er erschienen ist, kann sie in einer späteren Phase wieder attraktiver erscheinen.
Wer bestimmte Lösungen als chancenlos einstuft, kann im Moment recht haben und für sich in Anspruch nehmen, Realist zu sein. Wenn er damit aber das Spektrum der möglichen Zukunftsvarianten apodiktisch verengen will, muss er sich von Leuten, die sich in der Geschichte ein wenig auskennen, den Hinweis darauf geben lassen, dass angebliche Chancenlosigkeit dank erbrachtem Gestaltungswillen durchaus schon zu Realisierungen geführt hat.
Das gilt beispielsweise für die Schaffung des Bundesstaats, die Einführung des Frauenstimmrechts, gewisse Versicherungsobligatorien, den UNO-Beitritt. Das Wort von der Chancenlosigkeit kann auch schlicht ein Ausdruck des Nichtwollens sein.
Zwischen Schützengraben und Neuland
Noch ein Wort zu der seit 25 Jahren geführten Diskussion. Der Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler*, der sich ein Leben lang mit dem Phänomen des sozialen Wandels beschäftigt hat, weist darauf hin, dass es zwei grundsätzlich unterschiedliche Debattentypen gibt:
Die Debatte, die aus unverrückbaren Positionen, gewissermassen aus Schützengräben geführt wird und ausser der Bekräftigung der gegensätzlichen Positionen nichts bringt. Und die Debatte, die sich sachte auf Neu- oder Niemandsland vorwagt. Dafür braucht es aber ein liberales Klima. Das kann und sollte man persönlich fördern. Dabei sind wir allerdings auf Grosswetterlagen angewiesen, die wir nicht selber hergestellt haben, aber, wenn gegeben, nutzen sollten.
Hinzu kommt, dass in der Debatte nicht vergessen werden sollte, dass es für die Gestaltung von Beziehungen – und noch mehr für eine verbindliche Regelung von Verhältnissen – auch eine Zustimmung der Gegenseite braucht. Das fällt vor allem den Nationalisten schwer. Sie meinen, dies wegschwatzen zu können, indem sie behaupten, dass die andere Seite aus Eigeninteresse schon die Lösungen der Schweiz übernehmen wird.
Prosperität sollte man nicht einzig wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftspolitisch denken.
Das Weissbuch bezeichnet die Prosperität des Landes als Leitgedanken seiner Überlegungen und meint damit naheliegenderweise die wirtschaftliche Prosperität. Das geht beinahe so weit zu suggerieren, dass letztlich alles Wirtschaft ist. Jedenfalls nicht nur der Shareholder-Value, sondern auch der private Wohlstand.
Dem Weissbuch ist zuzustimmen, wenn es im breit verteilten Wohlstand «das stärkste Fundament der Kohäsion unseres Lands» sieht. Das ist jedoch nur eine unerlässliche, aber noch keine ausreichende Voraussetzung. Prosperität sollte man nicht einzig wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftspolitisch denken. Über das Wirtschaftliche hinaus gibt es mehr oder weniger prosperierende (gedeihliche!) Gegebenheiten: etwa in den Grundschulverhältnissen, im Zusammenleben mit unterschiedlichen Kulturen, im Umgang mit natürlichen Ressourcen etc.
Avenir Suisse kann und will nicht politisch sein. Der Thinktank zeigt bloss Varianten auf und hütet sich dezidiert zu sagen, welches die besseren und die schlechteren sind und insbesondere wie man zu den besseren kommt und die schlechteren vermeidet. Politik – auch als giftig («toxisch») bezeichnet, sollen andere machen. Wer das ist? Damit können nur wir alle gemeint sein.
*Hansjörg Siegenthaler, Lernen als Gegenstand der Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften. Zürich 2018. 413 S.