Die EU will Libyen zum neuen Flüchtlingsdepot machen

Mit dem Ende der Winterstürme wagen wieder mehr Migranten die gefährliche Überfahrt von Libyen nach Italien. Die EU möchte ein Abkommen mit Tripolis, ähnlich jenem, das mit der Türkei geschlossen wurde. Um einen Ansprechpartner zu haben, unterstützt die EU eine von der UN vermittelte Einheitsregierung. Doch die steht erst auf dem Papier.

Italian Navy personnel, left, approach a rubber dinghy filled with migrants in the Sicily channel, Mediterranean Sea, Friday, March 18, 2016. The Italian navy rescued Friday 486 migrants in the Sicily channel, while they were trying to cross the Mediterranean sea to reach Italian coasts. Italian officials say good weather is the main factor behind a spike in migrant crossings from Libya, with mostly Italian ships picking up 3,100 migrants over the last three days. (Italian Navy via AP Photo)

(Bild: Italian Navy/AP Photo)

Mit dem Ende der Winterstürme wagen wieder mehr Migranten die gefährliche Überfahrt von Libyen nach Italien. Die EU möchte ein Abkommen mit Tripolis, ähnlich jenem, das mit der Türkei geschlossen wurde. Um einen Ansprechpartner zu haben, unterstützt die EU eine von der UN vermittelte Einheitsregierung. Doch die steht erst auf dem Papier.

Europäische Aussenminister geben sich in diesen Tagen in Tripolis die Klinke in die Hand. Sie bleiben nur wenige Stunden, die Sicherheitslage ist prekär. Alle haben ein Anliegen: Sie wollen zeigen, wie sehr sie die Regierung der Nationalen Einheit von Fayez Serraj unterstützen, die letzten Dezember nach zähen Vermittlungsbemühungen der UN gebildet wurde.

Mit dieser Regierung soll die Spaltung Libyens in zwei Machtblöcke im Osten und im Westen überwunden werden. Der Geschäftsmann Serraj ist Vorsitzender eines neunköpfigen Präsidialrates und Regierungschef. Allerdings erst auf dem Papier. Ende März ist er mit einer Vorhut aus Tunis auf dem Seeweg in einer Militärbasis gelandet und residiert seither dort. Geschützt wird er von Einheiten der Marine.

Hafters Getreue betrieben Verhinderungspolitik

Ein Dutzend Mal hat das international anerkannte Parlament in Tobruk bereits vergeblich versucht, der Serraj-Regierung das Vertrauen auszusprechen und die Verfassung entsprechend anzupassen. Doch eine kleine Minderheit von Loyalisten von General Hafter betreibt Verhinderungspolitik. Auch diese Woche haben sie «mit allen möglichen Mitteln» (so ein Anwesender) verhindert, dass genügend Abgeordnete in den Sitzungssaal gelangen konnten. Hafters Getreue wollen sicherstellen, dass der General seinen Posten als Armeechef auch in Zukunft behalten und seinen Kampf gegen Islamisten in Benghazi ungehindert weiterführen kann.



Der libysche Premier Fayez Serraj (rechts) schüttelt derzeit viele Hände von europäischen Aussenministern, hier die Hand von Philip Hammond aus Grossbritannien.

Der libysche Premier Fayez Serraj (rechts) schüttelt derzeit viele Hände von europäischen Aussenministern, hier die Hand von Philip Hammond aus Grossbritannien. (Bild: Libyan Government of National Accord/AP Photo)

Ohne den offiziellen Segen des Parlamentes hat die neue Regierung Probleme, die Kontrolle über das Land zu gewinnen – obwohl UN und EU sie bereits zur einzigen legitimen Vertretung erklärt haben. Die beiden bisherigen Administrationen in Tobruk und Tripolis mischen immer noch mit. In Tripolis sind nach wie vor Milizen der rivalisierenden Lager auf den Strassen.

Die EU hat ein Hilfspaket von 100 Millionen Euro beschlossen; wie die einzelnen Massnahmen umgesetzt werden sollen, bleibt aber unklar. Die Europäer machen Druck; lokale Medien sind sich auch sicher, dass trotz gegenteiliger Beteuerungen kleine Kontingente von Spezialeinheiten aus Italien, Frankreich und Grossbritannien bereits in Libyen sind. Die EU drängt auf eine funktionstüchtige Regierung, damit sie einen Ansprechpartner in der Flüchtlingskrise und im Kampf gegen die Terrormiliz IS hat. Diese hat sich in Zentrallibyen einen neuen Stützpunkt geschaffen.

Viele warten auf Überfahrt

Mit dem Ende der Winterstürme wagen auch wieder deutlich mehr Menschen in Libyen die Reise übers Mittelmeer. Meist afrikanische Migranten und neuerdings auch in Gummibooten, weil viele der schrottreifen Fischkutter inzwischen beschlagnahmt sind.

Die Ereignisse auf der Balkanroute haben das Geschehen auf dieser zentralen Mittelmeerroute etwas aus den Schlagzeilen gedrängt, zumal hier die Bewegungen hauptsächlich in den Sommermonaten stattfinden. An der Problematik hat sich aber nichts verändert. Wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) meldet, sind in diesem Jahr bis Mitte April 24’600 Flüchtlinge und 356 Tote gezählt worden; im Vorjahr waren es in der gleichen Zeit 26’200 und 1687 Tote.

Polizei und Milizen verlangen von aufgegriffenen Migranten, dass sie sich freikaufen. Sie werden von Kriminellen überfallen und ausgeraubt.

Wie viele Migranten in Libyen – der Grossteil aus Ländern der Sub-Sahara – auf die Überfahrt warten, ist umstritten. Die IOM hat 145’000 Flüchtlinge identifiziert, von denen vier Prozent in Haftzentren eingesperrt sind. Europäische Politiker haben viel höhere Zahlen genannt. Fast alle sind schon vor Monaten illegal aus Niger oder Algerien eingereist; dies über seit Jahren fest etablierte Routen für Menschen-Schmuggel.

Opfer brutaler Willkür

Unter Diktator Gaddhafi hatten Hunderttausende Schwarzafrikaner in Libyen gearbeitet. Auch heute suchen viele eine Beschäftigung im Ölstaat, entweder um sich dort niederzulassen oder Geld für die Überfahrt nach Europa zu verdienen. In den vergangen 18 Monaten, seit das Land zerfällt und Anarchie und Gesetzeslosigkeit herrschen, hat sich ihre Lage noch einmal drastisch verschlechtert.

Polizei und Milizen verlangen von aufgegriffenen Migranten, dass sie sich freikaufen. Der Tarif liegt in der Regel bei 1000 libyschen Dinar (etwa 730 Franken). Kriminelle überfallen und rauben Migranten aus. Arbeitgeber zahlen oft keine Löhne.

Weil es keine funktionierende staatliche Autorität gibt, sind die Migranten dieser brutalen Willkür völlig schutzlos ausgeliefert. Tausende sind deshalb effektiv gestrandet. Die IOM hat über Rückführungsprogramme Hunderte in Länder wie Burkina Faso, Äthiopien, Nigeria, Togo oder Mali ausgeflogen. In mehreren Haftzentren leistet die IOM Nothilfe.

Operation Sophia ausweiten

Mit einer Einheitsregierung will die EU die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage in die Wege leiten und zum Beispiel den Küstenschutz wirksam ausbauen. 22 EU-Länder unterhalten seit Juni 2015 die «Operation Sophia». Ihre Schiffe dürfen aber nur in den internationalen Gewässern vor der Küste Libyens operieren, weit weg von der Basis der Schlepperorganisationen. Beide der bisherigen rivalisierenden Regierungen haben sich strikt geweigert, dies zu ändern. Mit der Serraj-Regierung hofft die EU aber auf Bewegung in dieser Frage.

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