9/11 war eine Verschwörung, Karl der Grosse hat nie gelebt und Paul McCartney ist schon 1966 gestorben – warum Verschwörungstheorien faszinieren und wie wir ihnen begegnen sollten.
Von Verschwörungstheorien geht offensichtlich eine Faszination aus – positiv wie negativ. Dies belegt die Aufmerksamkeit, die dem Thema in jüngster Zeit zuteil wurde. Zum einen zeigt sich dabei ein Interesse an der Frage, was Verschwörungstheorien überhaupt sind. Zum anderen ist da der Wunsch nach einer Klärung, ob bestimmte Deutungen und ihre Vertreter der Welt der Verschwörungstheorien zuzurechnen sind.
Was Verschwörungstheorien sind, lässt sich leicht erklären. Ihre zentrale Eigenschaft besteht darin, dass sie angeben, bisher wenig erkannten Aktivitäten von Geheimmächten auf die Spur gekommen zu sein; eben den Verschwörern, die zum Schaden der Menschheit ihre dunklen Geschäfte betreiben. Als solche Mächte wurden im Laufe der Zeit angesehen:
- die Juden,
- die Jesuiten,
- die Freimaurer,
- die Tempelritter,
- Opus Dei,
- die hinteren Reihen des Vatikans.
In unseren Zeiten sind es noch immer: der jetzt mit einflussreichen Internet-Maschinen ausgestattete vormalige KGB und die schon seit Jahren alles bestimmende CIA, vielleicht auch in Kombination mit dem israelischen Mossad und dem angeblich viel zu wenig beachteten und immer wieder ins Spiel gebrachten Bilderberg-Club.
Die alljährlich stattfindenden Konferenzen der Bilderberger bringen einflussreiche Personen aus Wirtschaft, Politik, Militär, Medien, Hochschulen und etwas Hochadel zusammen und würden so die Geschicke der Welt steuern. Sie werden – wenig überraschend – auch für die Gründung der EU und die Schaffung des Euro verantwortlich gemacht.
Viel zu viel Aufmerksamkeit
Für die Medien sind Verschwörungsgeschichten in beiden Richtungen attraktiver Stoff. Einerseits versuchen sie, Verschwörungstheoretiker zu entlarven, andererseits beliefern sie ihr Publikum mit solchen Storys. Jüngstes Beispiel: Die «NZZ vom Ostersonntag» machte darauf aufmerksam, dass der Trump-Berater Steve Bannon mit konservativen Kardinälen – das Wort fällt – «konspiriere», um den populären Papst Franziskus zu stürzen. Andererseits betreiben die Medienleute mit ihren vielleicht auch ehrlich gemeinten Demontageversuchen unfreiwillige Promotionen dessen, dem sie entgegentreten wollen.
Verschwörungstheorien sind ein wohl eher schmales Randphänomen, das in den Genuss von viel zu viel Aufmerksamkeit kommt, vielleicht – für einen Moment und fast unvermeidlich – auch gerade jetzt mit diesen Zeilen. Google listet eine lange Reihe von angeblichen Verschwörungstheorien auf und nennt dabei zahlreiche sehr unterschiedliche «Alternativwahrheiten», die nicht die Qualität einer Theorie haben.
Ein schönes Beispiel ist die nicht nur unter Beatles-Fans kursierende «Paul is dead»-Annahme, wonach Paul McCartney 1966 verstorben und durch einen Doppelgänger ersetzt worden sei. Zur Theorie würde dies allerdings erst, wenn auch die Agenten für diese Irreführung identifiziert, deren Aktivität in eine Reihe anderer Aktionen gestellt und damit die systematische Einflussnahme auf das Weltgeschehen behauptet würde.
Das Erweckungserlebnis stellt einen Wert an sich dar, weil man jetzt zu denen gehört, welche die Dinge so sehen können, wie sie «wirklich» sind.
Wichtig am Verdacht auf Täuschung ist das schöne Gefühl, zu den wenigen Aufgeklärten zu gehören, die sich nicht hinters Licht führen lassen. Das Aufdeckungs- bzw. Erweckungserlebnis stellt einen Wert an sich dar, weil man jetzt zu denen gehört, welche die Dinge so sehen können, wie sie «wirklich» sind.
Manche Anhänger von angeblichen Verschwörungstheorien begnügen sich damit, in unverbindlicher Weise etablierte Einsichten und vermeintliche Gewissheiten als fragwürdig vorgeführt zu bekommen. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Gegenwahrheiten per se bloss von beschränktem Interesse sind und man sogar mehrere und unter Umständen sich widersprechende Erklärungsvarianten eher akzeptiert als die über offizielle Verlautbarungen vermittelten, zu schnell einleuchtenden Erklärungen: Hier haben wir sie, die Attraktivität und die Faszination Vermutung.
Wir müssen uns von den Verfechtern «alternativen Wissens» nicht dazu drängen lassen, uns mit ihren An- und Einsichten zu beschäftigen.
Dann ist da die zentrale Vermutung zu «9/11». Am Attentat vom 11. September 2001 auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York hängt ein wichtiger Teil des weiteren Verlaufs des Weltgeschehens. Also müsste es doch geklärt werden. Da darf es nicht gleichgültig sein, wer die Täter (vor allem die Hintermänner hinter den Ausführenden) waren. Bei dieser Frage, scheint es, sollte man schon eine gewisse Obsession entwickeln dürfen. Zur Bekräftigung werden noch und noch Indizien herbeigeschafft, trotzdem bleibt es bei Vermutungen.
Dürfen wir uns da Gleichgültigkeit leisten? Müssen wir uns nicht mit den mitunter ausführlichen Beweisführungen auseinandersetzen? Sowohl die Verkünder als auch die Anhänger der «alternativen Wahrheiten» erwarten, dass wir uns mit ihren An- und Einsichten beschäftigen. Dazu steht auch das Generalargument zur Verfügung, dass sich im Laufe der Geschichte schon viele als abwegig abgetane Auffassungen nachträglich als richtig erwiesen hätten.
Wir müssen uns von den Verfechtern «alternativen Wissens» nicht dazu drängen lassen, uns mit ihren An- und Einsichten zu beschäftigen. Es genügt und ist ergiebiger, wenn wir, die Nichtexperten und gewöhnlichen Erdenbürger, uns mit den sehr offensichtlichen Anschlusshandlungen und deren Folgen auseinandersetzen und zum Beispiel zur Irakinvasion von 2003 eine Meinung haben.
Misstrauen kann pathologische Züge annehmen – oder für sich in Anspruch nehmen, gesund zu sein.
Zu Verschwörungsvermutungen gehört indessen, dass sie mehr oder weniger leicht zur Meinung führen, dass da «etwas dran» sein könnte. Auch im Falle der dem russischen Geheimdienst zugeschriebenen Hackerangriffe und Internetmanipulationen im Vorfeld der letzten US-Präsidentenwahl. Sie begünstigen jedoch eine enorme Überschätzung des vermuteten Phänomens und lenken von anderen «Faktoren» ab, zum Beispiel von den anderen und offensichtlicheren Gründen, warum der groteske Donald Trump als Präsident der USA gewählt wurde.
Von Verschwörungstheorien wird gesagt, dass sie Menschen bedienen, die gerne an einfache Wahrheiten glaubten. Das mag teilweise so sein. Mindestens so sehr wird aber ein Publikum bedient, das komplizierte Wahrheiten wünscht. Ihnen ist die wirkliche Welt zu simpel, sie brauchen konstruierte Komplexität und allenfalls eine nicht selbstverständliche, beinahe überraschende Theorie. Damit kann höherer oder tieferer Sinn gewonnen werden.
Verschwörungsfantasien speisen sich aus dem wachsenden Misstrauen gegenüber etablierten Institutionen und Gewissheiten. Dieses Misstrauen kann pathologische Züge annehmen. Es kann für sich aber auch in Anspruch nehmen, gesundes Misstrauen zu sein. Auch in diesem Punkt besteht Uneindeutigkeit. Während die einen im Zweifel und Misstrauen gegen eine etablierte Meinung den «perfekten Humus» für Verschwörungstheorien sehen, betonen andere, Zweifeln gehöre zum Humus einer freiheitlichen und offenen Gesellschaft – und der Wissenschaft.
Das erfundene Mittelalter
Die Wissenschaft lassen wir besser aus dem Spiel, obwohl hochspekulative Deutungen mit ihren Belegsammlungen und dichten, Stringenz beanspruchenden Argumentationen sich gerne als wissenschaftlich präsentieren und sich ihre Autoren, sofern ihnen diese zur Verfügung steht, auch auf ihre akademische Ausbildung berufen.
So kommt es dann, dass auch eine quasi historische Verschwörungstheorie akademisch ummantelt wird. Es gibt nämlich die These, dass es das Mittelalter nie gegeben habe, genauer die Zeit zwischen 614 bis 911 eine Phantomzeit sei, also der berühmte Karl der Grosse nie oder zu einer anderen Zeit gelebt habe.
Diese These wird nicht wahrer, weil ihr Autor ein studierter Germanist, ein Dr. phil. Heribert Illig, ist. Überhaupt ist das «erfundene Mittelalter» nicht von Bedeutung für unsere Gegenwart, während die Suche nach den Hinterleuten der Attacken auf das Symbol des Weltkapitalismus doch relevanter erscheint.
Ist man nur auf bestätigende Indizien bedacht, lässt sich leicht finden, was man sucht.
Wissenschaft darf zwar, sie soll vielleicht sogar in der Ausgangsphase spekulative Überlegungen anstellen. Die anschliessenden Abklärungen sollten dann die getroffenen Hypothesen bestätigen – verifizieren. Wissenschaft ist keineswegs frei von kontradiktorischen Auseinandersetzungen um Methoden und Resultate. Sie lebt zu einem wichtigen Teil auch von unterschiedlichen Auffassungen. Aber sie hat solide handwerkliche Regeln als gemeinsamen Grund, die in erster Linie darin bestehen, dass die Untersuchung eines Gegenstands nicht zu einem wesentlichen Teil im Bereich der Vermutungen bleibt.
Ist man, von Vermutungen ausgehend, nur auf bestätigende Indizien bedacht, lässt sich unter Umständen leicht finden, was man sucht. Darum müssten auch falsifizierende Gegenproben angestellt werden, welche die eigenen Annahmen in Frage stellen. In dieser Beziehung haben es Bearbeiter allgemein anerkannter Forschungsfelder mit ihren vielleicht etwas langweilig erscheinenden und entsprechend weniger beachteten Untersuchungen leichter als die von einem grossen Laienpublikum stark beachteten Verkünder «unorthodoxer» Wahrheiten.
Lichtjahre vom Planeten der Wissenschaft entfernt
Diese beiden Communities, die traditionelle Wissenschaft und die Produzenten von nicht erhärtbaren Grossthesen, leben in zwei verschiedenen Welten und kommunizieren in ihren je eigenen Sphären. Aufschlussreich ist, wer sich mit wem in der diffusen Welt der Gegenwahrheiten austauscht. Da kommt sehr vieles zusammen, das Lichtjahre vom Planeten der Wissenschaft entfernt ist.
Während die klassische Wissenschaft weitgehend abgehoben vom grossen Publikum mit ihren Forschungsfragen ringt, ist es das Geschäft der Populärwissenschaft, dieses Publikum zu bedienen. Ob man das eine oder das andere tut, könnte auch von dem bestimmt sein, was wir Mentalität nennen.