Japan ist eine Hochgeschwindigkeitsgesellschaft, die sich trotz ihres Traditionalismus einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben und Turbokapitalismus verschrieben hat. Doch nicht jeder kann mit dem Tempo mithalten.
Die Sonne senkt sich langsam hinter den Hügeln der Osaka Bay, wo die Kreuzfahrtschiffe und Luxusyachten vor der imposanten Kulisse des Kobe Tower einlaufen. An der Sannomiya Station beginnt allmählich die Rushhour, über den Shopping-Malls leuchten bunte Reklametafeln mit Manga-Bildern auf. Kesse, gut gekleidete junge Frauen mit kurzen Röcken und Mundschutz überqueren den Zebrastreifen, als handle es sich um einen Laufsteg.
Kobe gilt als Modehauptstadt Japans, in Boutiquen werden extravagante Kleider und Accessoires feilgeboten. Das Modelabel «Suit Company» wirbt in einem Schaufenster für einen Damen-Hosenanzug für 19’000 Yen, umgerechnet 1900 Euro. Ein Luxus, den sich die urbane Lifestyle-Elite gerne leistet.
Das Geschoss zwischen den Häuserschluchten
Bei aller Extravaganz hat sich die Stadt aber auch eine gewisse Bodenständigkeit bewahrt. Nach dem verheerenden Erdbeben wurden manche mehrstöckige Gebäude nicht einfach abgerissen, sondern lediglich die obersten Stockwerke abmontiert. Die Statik hielt dem Beben stand, obwohl der Boden einem Pudding ähnelt. Unter Japan treffen vier tektonische Platten zusammen, die sich in ruckartigen Beben entladen. Es mutet wie eine Hybris an, die kühnsten Bauwerke auf diesem Teil der Erde zu errichten, wo die stärksten seismischen Aktivitäten auftreten und im Sommer zudem noch Taifune wirbeln.
Der Shinkansen-Bahnhof in Shin Kobe, Japan. (Bild: Adrian Lobe)
Von Shin Kobe nach Tokio verkehrt der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen, Japans Wunderwerk der Technik. Wie ein Geschoss – auf Englisch trägt der Shinkansen den Spitznamen «bullet train» – rast die aerodynamische, schlanke Zugkomposition mit Spitzengeschwindigkeiten von 300 Kilometer pro Stunde durch die Hochhausschluchten.
Fliegen auf Schienen
Der Schnellzug zeichnet sich vor allem durch seine Sauberkeit und Pünktlichkeit aus. Pro Tag handelt sich der Shinkansen lediglich 36 Sekunden Verspätung ein, alles ist eng getaktet. Eine Schaffnerin mit strengem Blick und Schiebermütze winkt den Zug hinter einem Absperrgitter heran. Für die Passagiere bleibt nur eine halbe Minute Zeit, ein- und auszusteigen. Japaner sind hochdiszipliniert, es gibt kein Gedränge und Geschiebe, jeder setzt sich prompt auf seinen zugewiesenen Platz.
Man sitzt wie in einer Flugkabine in zwei Dreierreihen, die Fenster sehen aus wie Flugzeugfenster. Der Chefingenieur der japanischen Bahn, Hideo Shima, wollte das Design des Zuges so gestalten, dass man sich wie in einem Flugzeug fühle. Fast geräuschlos beschleunigt der Bullet Train auf 200, dann 300 Stundenkilometer. Dicht bebaute Wohnblöcke rasen vorbei, Baseball-Felder und Bürotürme. Japan ist eine Hochgeschwindigkeitsgesellschaft, die sich trotz ihres Traditionalismus einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben und Turbokapitalismus verschrieben hat.
Einfahrt des Geschosses auf Schienen: Zum Einsteigen bleiben 30 Sekunden. (Bild: Adrian Lobe)
Gesellschaft im Temporausch
Doch nicht jeder kann mit diesem Tempo mithalten.
In Japan gibt es rund eine halbe Million «Hikikomori»: Junge Menschen, die sich in ihrem Zuhause von der Aussenwelt abschotten. Die Betroffenen leiden unter Panikattacken und meiden jegliche sozialen Kontakte. Es sind Menschen, die durchs Raster fielen, die den Ansprüchen der Familie und Gesellschaft nicht genügen. «Fortschrittsverlierer» würde man es hierzulande vielleicht nennen. Es sind vor allem junge Männer, die sich in ihren eigenen vier Wänden verbarrikadieren und vor dem Fernseher oder der Spielkonsole in eine Parallelwelt flüchten.
Das Phänomen ist zwar schon seit den 1980er-Jahren bekannt, wurde aber nie genauer medizinisch erfasst und von der Politik verharmlost. Soziologen führen eine Verschärfung des Phänomens auch auf die «Abenomics» zurück, jenem von Premierminister Shinzo Abe begründeten wirtschaftspolitischen Dreiklang aus lockerer Geldpolitik, flexibler Fiskalpolitik und Deregulierung. Doch Abenomics konnte das Wirtschaftswachstum nicht nachhaltig ankurbeln. Experten sagen für das nächste Jahr ein Wachstum von lediglich einem Prozent voraus.
Im Zug: Fast absolute Stille. Es ist ein bisschen wie in einem Flugzeug auf Schienen. (Bild: Adrian Lobe)
Druck und Problembewusstsein steigen
Die geringen Wachstumsaussichten verschärfen den Druck auf dem Arbeitsmarkt weiter: Vor allem junge Absolventen haben Schwierigkeiten, einen geeigneten Job zu finden. Und das, obwohl die Arbeitslosenquote offiziell bei tiefen 3,0 Prozent liegt. Aus Angst, die Erwartungshaltung der Gesellschaft nicht zu erfüllen, schotten sich junge Menschen ab. Der Psychologe Kazuhiko Saito sagt, die jungen Menschen seien «von sozialen Abstiegsängsten paralysiert». Eine verlorene Generation.
Die Regierung will nun auf dieses Problem reagieren und ein millionenschweres Hilfsprogramm auflegen, um die Hikikomori wieder in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Tradition und Moderne
In der alten Hauptstadt Kyoto, dem übernächsten Halt des Shinkansen, sind an diesem Abend Hunderte junger Menschen auf den buddhistischen Tempel Kiyomizu-dera geströmt, der auf einem Hügel thront und zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Die Tempelanlage leuchtet in kräftigem Rot, auf der Terrasse der Holzkonstruktion liegt einem ganz Kyoto zu Füssen. Junge Paare marschieren Händchen haltend über die steilen Treppen, kichernde Mädchen recken ihre Selfie-Sticks in die Höhe, Geishas mischen sich unters Volk.
Der Ausdruck «von der Terrasse des Kiyomizu springen» ist das japanische Äquivalent zur deutschen Redewendung «den Absprung wagen»: Von hier aus können die jungen Menschen ermessen, wie es sich anfühlt, sich in die Fährnisse der japanischen Hochleistungsgesellschaft zu stürzen.
Der Shinkansen-Zug «Hayabusa» am Tag seiner Jungfernfahrt in Tokio am 5. März 2011. (Symbolbild) (Bild: TETSU JOKO)
Über ein paar steile Steintreppen geht es vorbei an duftenden Garküchen und Porzellangeschäften in die Einkaufsmeile Matsubara-dori. Kyoto wurde 794 nach chinesischem Vorbild als Planstadt auf dem Reissbrett entworfen. Die urbane Struktur ist bis heute sichtbar: Die Strassen mit ihren pittoresken Holzhäusern sind wie ein Schachbrett angeordnet. Die Strassennamen datieren noch aus der Heian-Zeit (794–1185), die Adresse ergibt sich aus der Kreuzung zweier Strassen. Weil es schwierig ist, sich diese Strassennamen einzuprägen, wurde vor hunderten Jahren ein Lied komponiert, mit dem das Strassennetz besungen wird.
Harte Arbeitskultur, grosse Ausstrahlung
Japan ist berüchtigt für seine beinharte Arbeitskultur. Der Arbeitsplatz geniesst noch immer Priorität vor der Familie. 22 Prozent der Japaner arbeiten mehr als 49 Stunden in der Woche, 30-40 Prozent der männlichen Berufstätigen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren haben laut einer jüngsten Erhebung des Gesundheitsministeriums Schlafprobleme. Viele Männer schuften sich aus falsch verstandenem Ehrgeiz zu Tode. Karōshi, Erschöpfungstod durch Überarbeitung, ist eine offiziell anerkannte Todesursache.
Doch ohne den Bienenfleiss der Werktätigen hätte es Japan wohl nicht zur drittgrössten Volkswirtschaft gebracht, deren Automobil- und Elektronikindustrie (Toyota, Mitsubishi, Honda, Panasonic, Sharp) Exportschlager produziert.
Am nächsten Morgen marschieren um sieben Uhr die ersten Werktätigen in die Firmenzentrale des Spielherstellers Nintendo, der in Kyoto seinen Hauptsitz hat. In dem quaderförmigen Bau werden Konsolen und Videospiele wie Mario Kart oder zuletzt Pokémon Go entwickelt. Japans Wirtschaft und Kultur strahlt längst auf die ganze Welt aus.
Der Tokoku-Shinkansen-Zug «Hayabusa» in Tokio. Er bringt Passagiere mit bis zu 300 Kilometern pro Stunde ans Ziel. (Symbolbild. The Yomiuri Shimbun via AP Images) (Bild: TSUYOSHI MATSUMOTO)