Die friedliche «Schlacht» um Kaiseraugst

Dank des zivilen Widerstandes vor 40 Jahren wurde Kaiseraugst nicht zum Produktionsstandort für verstrahlten Müll, sondern zum Erinnerungsort für Atomgegner.

1975: Der Protestzug marschiert erst noch unbesorgt und ruhig an Kaiseraugst vorbei. (Bild: Kurt Wyss)

Dank des zivilen Widerstandes vor 40 Jahren wurde Kaiseraugst nicht zum Produktionsstandort für verstrahlten Müll, sondern zum Erinnerungsort für Atomgegner.

In unseren Tagen ist, weil solche Jubiläen anstehen, viel von alten Schlachten die Rede: von Marignano 1515 und von Morgarten 1315. Ob und wie wir dieser Ereignisse gedenken, hängt nicht von den Vorkommnissen selber, sondern von unserer Erinnerungsbereitschaft ab. Durchforstet man den historischen Kalender, stösst man auch auf andere runde Daten. Zum Beispiel auf den wesentlich näher liegenden April 1975, der, wenn man richtig rechnet, ziemlich genau 40 Jahre zurückliegt.

Da jährt sich ein Ereignis, das es durchaus verdient, in Erinnerung gerufen zu werden: die friedliche «Schlacht» um das in Kaiseraugst geplante Kernkraftwerk Kaiseraugst. 40 Jahre ist zwar keine ganz runde, aber eine gern und recht oft kultivierte Jubiläumsgrösse, weil da sozusagen die letzten noch lebenden Zeitgenossen des Erinnerungsereignisses daran teilhaben können.

Durchsetzung eigener Werte

Das ist auch beim Gedenken an das Grossereignis vom April 1975 so. Die Zeitzeugen von damals sind, ganz anders als im Falle von Morgarten oder Marignano, nämlich auch noch dabei: neben Peter Scholer, dem früheren Oppositionsführer und heutigen Gemeindepolitiker in Rheinfelden, auch der Kraftwerk-Projektdirektor Ulrich Fischer sowie der Projektgegner und Liedermacher Ärnschd Born.

In unseren Tagen wird allerdings nicht zum ersten Mal diesbezüglich «gedacht». Sicher gab es gleich nach 1975 immer wieder Gedenktage. Und vor zehn Jahren sorgten ehemalige und leicht einsam gewordene Aktivisten dafür, dass sich die Öffentlichkeit erinnerte: Am 1. April 2005 trafen sich ergraute Pioniere der Anti-AKW-Bewegung in Kaiseraugst, wo «vor genau dreissig Jahren» der historische und siegreiche Kampf begonnen hatte, der 13 Jahre später zur «Beerdigung» des Vorhabens – so die häufig verwendete Formulierung – führen sollte. Die damals mitgeführte Erinnerungstafel («der Nachwelt zur Erinnerung und Beurteilung») konnte allerdings nicht, wie beabsichtigt, in der politisch gespaltenen Gemeinde an einem offiziellen Platz angebracht werden. 

Am 1. April 1975 setzte, nach dem kurzen «Probehock» von Weihnachten 1973, die zweite Grossbesetzung des Geländes ein, auf dem das Kernkraftwerk geplant war. Diese Besetzung sollte elf Wochen dauern, in der stärksten Phase rund 15’000 Menschen mobilisieren und Wesentliches dazu beigetragen haben, dass das Projekt schliesslich begraben wurde. Man kann jetzt also an einen Sieg erinnern, das heisst an die Durchsetzung eigener Werte.

Das Grosi backte Kuchen für die Geländebesetzer und Prokuristen halfen bei der Suppenausgabe.

Der Widerstand gegen das Projekt hatte schon früher begonnen. Im Mai 1970 wurde das Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen das Atomkraftwerk Kaiseraugst (NAK), später bekannt als Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke (NWA), gegründet. Hinzu kam die Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst (GAK). Diese bildeten in den folgenden Jahren den harten Organisationskern einer sanften, aber entschiedenen Bewegung.

Nachdem das Bundesgericht im Juli 1973 entschieden hatte, dass die Gemeinde Kaiseraugst und der Kanton Basel-Stadt zur Beschwerdeführung gegen das Vorhaben von nationaler Bedeutung nicht legitimiert seien, blieb nur noch der Weg des politischen Protests. Und dieser meldete sich als milieu-, alters- und parteiübergreifende Volksbewegung. Symbolhaft dafür ist das rührende Faktum, dass das «Grosi» für die Geländebesetzer Kuchen backte und Prokuristen bei der Suppenausgabe mitwirkten.

Nicht unwichtig war, dass die informelle Bürgerbewegung durch formelle Beschlüsse der beiden Basler Kantone unterstützt und gedeckt wurde. Es gab aber auch die andere Dimension: Am 19. Februar 1979 wurde der Informationspavillon des geplanten Kernkraftwerks von militanten Kraftwerksgegnern gesprengt. Das war am Tag, nach dem die Anti-Atom-Initiative mit 51,2 Prozent abgelehnt worden war. Und dieses Resultat war mit einer undemokratisch massiven Propagandaflut herbeigeführt worden.

Gesamtschweizerische Unterstützung

Projektleiter Fischer stellte schon im April 1975 fest, dass «auch in der Schweiz» eine illegale Besetzung möglich sei. Damals erhielt der Begriff vom zivilen Ungehorsam Auftrieb und bürgerte sich die Unterscheidung zwischen legal und legitim ein. Wichtig war auch die Kategorie der direkten Betroffenheit. Bürgerliche Kräfte der Region vertraten eine «Nicht hier»-Position, auch wenn sie nicht grundsätzlich gegen Kernenergie waren.

Die Stadtnähe war ein Argument, zumal die Durchführung allfälliger Notevakuationen nicht zu den Planungsarbeiten gehörte. Im Hinblick auf die spätere (Wieder-)Wahl politischer Exponenten war das ein wichtiger Punkt. Ein weiteres, aber nicht durchschlagendes Argument war die Seismik im tektonisch schwierigen Raum der Oberrheinischen Tiefebene.

Auch wenn jenseits des Juras das Verständnis für die Basler begrenzt war und diese mitunter des Egoismus bezichtigt wurden, erhielt die zunächst regionale Bewegung gesamtschweizerische Unterstützung. Über 170 Verbände und Parteien schickten Solidaritätsadressen. Für die Basler hatte es auch ermunternde Vorbilder aus dem benachbarten Ausland gegeben: Wenige Wochen zuvor waren zum Beispiel im elsässischen Marckolsheim und im badischen Wyhl je ein Bauplatz besetzt worden.

Bürgerliche Politiker beantragten eine «angemessene Entschädigung», um das Projekt abklemmen zu können.

Die Besetzung vom Frühjahr 1975 konnte zwar die bereits begonnenen Aushubarbeiten blockieren, damit aber nicht gleich das ganze Projekt bodigen. Es folgten trotz des Protests weitere Bewilligungsschritte. Andererseits wurde noch im Juni 1975 mit der Lancierung einer Volksinitiative «zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen» der klassische eidgenössische Weg beschritten, der aber, wie dargelegt, 1979 zu einer Niederlage führte.

Nachdem Behörden und Betreiber einen vierwöchigen Baustopp versprochen hatten, räumten die Besetzer am 11. Juni das Gelände, sodass sich die von der Aargauer Regierung angedrohte und unter Beizug interkantonaler Polizeikräfte ins Auge gefasste Zwangsräumung erübrigte. Zuvor war gerüchteweise davon die Rede, dass (wie im Landesstreik vom November 1918 oder im Herbst 1968 im Jurakonflikt) Miliztruppen für den inneren Ordnungsdienst eingesetzt werden könnten. Über Schriftsteller Peter Bichsel wurde bekannt, dass der populäre Bundesrat Willy Ritschard in diesem Fall demissionieren würde. Ritschard war an sich ein Kernkraftwerk-Befürworter und ermunterte die Energiebranche zu mehr Lobbying, das heisst professioneller PR-Arbeit.

Erst im Februar/März 1988 zeichnete sich ein Ende des umstrittenen Kernkraftprojekts ab. In einer bis zuletzt geheim gehaltenen Blitzeingabe beantragten die bürgerlichen Politiker Georg Stucky (FDP), Ulrich Bremi (FDP), Christoph Blocher (SVP) und Gianfranco Cotti (CVP) eine Lösung, die vorsah, dass die Badener Firma Motor-Columbus AG gegen eine «angemessene Entschädigung» auf die Verwirklichung des an sich bewilligten Projekts verzichtet.

Erinnerungsort für die Region

Die Entschädigung sollte schliesslich 350 Millionen Franken betragen. Nach Schätzungen des Bundesrats blieben 1,1 bis 1,3 Milliarden Franken bei der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG hängen. Offen bleibt, ob das Projekt wegen des politischen Widerstands oder wegen fehlender Wirtschaftlichkeit aufgegeben wurde.

«Kaiseraugst» ist, wie die bisherige Medienaufmerksamkeit gegenüber dem 40-Jahr-Gedenken bestätigt, vor allem ein Erinnerungsort für die Region. Wir werden sehen, ob es bei den bevorstehenden Standortentscheiden zur Endlagerung der Atomabfälle ein erweitertes Gedächtnis geben wird, das dazu führt, dass sich Widerstandsbewegungen ausserhalb der engeren Region (im zürcherischen Weinland und im aargauischen Jura-Ost, am Bötzberg) plötzlich vermehrt an «Kaiseraugst» erinnern und orientieren. Die Besetzer von 1975 könnten ihnen dann entgegenhalten, dass sie in ihrem Fall mit der Verhinderung des Kernkraftwerks schon früh dafür gesorgt hätten, dass gar kein nukleares Entsorgungsmaterial produziert wurde.

Bis man, gemäss vorliegender Ankündigung, einen definitiven und damit ernsthaft bekämpfbaren Entscheid zu einem Tiefenlager für radioaktive Abfälle in der Schweiz haben wird, dürfte so viel Zeit ins Land gehen, dass das 50-Jahr-Jubiläum zu «Kaiseraugst» von 2025 begangen werden kann.

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