Die Front in den Köpfen: Ein Augenschein in Mariupol

In der ukranischen Hafenstadt Mariupol entscheidet sich, ob das Waffenstillstandsabkommen von Minsk hält. Die Menschen in der Stadt sind ausgezehrt von der ständigen Angst vor Angriffen und bis in die Familien gespalten in ihrer Loyalität. Wer Kiew unterstützt, lebt gefährlich.

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In der ukranischen Hafenstadt Mariupol entscheidet sich, ob das Waffenstillstandsabkommen von Minsk hält, oder ob der Krieg sich über den Donbass hinaus ausdehnt. Die Menschen in der Stadt sind ausgezehrt von der ständigen Angst vor Angriffen und bis in die Familien gespalten in ihrer Loyalität. Wer Kiew unterstützt, lebt gefährlich.

Manchmal ist es besser, in Mariupol den Mund zu halten. Ein Mann lehnt an einer Mauer im Viertel Vostoschny und hält sein Morgenbier in der Hand. Als er hört, dass jemand etwas auf Englisch sagt, fängt er an zu keifen. Die Flasche schwenkt er in der Hand, als wolle er sie werfen. Die Englischlehrerin Margo Stakhiv beschleunigt ihren Schritt und biegt um die Ecke in eine unbelebte Gasse. Sie blickt sich um. In der Strasse sind kaum Fussgänger unterwegs, niemand ist in Hörweite. «Ich habe dich gewarnt. Die Leute in Vostoschny mögen keine Europäer», flüstert sie in der fremden Sprache.

Die Mauern der Wohnblocks rings herum tragen Narben wie Pockengesichter. Die Trümmer der Grad-Raketen, die im Januar auf dem Wochenmarkt in Vostoschny eingeschlagen sind, haben sich wie glühende Nägel in den Beton gebohrt. Auf dem Markt selbst hinterlassen sie an diesem Tag einen Sumpf von Blut und zerfetzen Gliedmassen. Die Stadtverwaltung zählt dreissig Tote. Die Menschen in Vostochny glauben aber bis heute, dass es viel mehr gewesen seien.

Angstvoller Alltag

Zwei Monate und ein Waffenabstillsabkommen später sitzen die Menschen in Vostochny abends in ihren Wohnungen und beobachten ein Wetterleuchten am Himmel, das keines ist. Sie bereiten ihr Abendessen zu, während draussen nur wenige Kilometer entfernt in dem umkämpften Ort Schirokino Mörsergranaten explodieren. Die dürfte seit dem Minsker Abkommen eigentlich keine Seite mehr einsetzen. Sie gehen mit der Angst ins Bett, das eines der Artilleriegeschosse ihren Wohnblock trifft. Keine Sirene wird sie warnen. Selbst wenn es ein Frühwarnsystem gäbe, wie sollen sie rechtzeitig vor dem Einschlag von einem höheren Stockwerk in die provisorischen Schutzbunker im Kellergeschoss rennen? So schnell kann kein Mensch laufen. Also bleibt den Menschen in Vostoschny nur die Hoffnung, dass es wieder gut geht dieser Nacht. Und am Morgen wird ein neuer Tag bleischwer auf ihnen lasten, an dem sie wieder dem Himmel über ihren Köpfen nicht trauen können.

Margo Stakhiv lebt in einem Viertel von Mariupol, das direkt an Vostoschny grenzt. Auch sie hört von ihrer Wohnung aus jeden Tag das Grollen der Geschütze und das Knattern der Maschinengewehre in der Ferne. Ihr Gehörsinn, sagt sie, sei in den vergangenen Monaten sensibler geworden. Sie könne erkennen, ob die Front stagniert, und Ukrainer und Separatisten sich nur gegenseitig beharken. Dann dreht sie oft die Musik einfach lauter, die sie mit Kophörern hört. Vor wenigen Tagen musste sie aber an den Rucksack mit Dokumenten, Geld und Kleidungsstücken denken, den sie in einen Schrank gepackt hat und mit dem sie im Notfall irgendwohin flüchten möchte, wie sie sagt. Denn der Donner der Artillerie schien bedrohlich laut. Dann flauten die Kämpfe aber plötzlich wieder ab, und sie hört nun von der Front nicht mehr als den Gutenachtgruss mit Mörsergranaten, den beide Seiten in den Abendstunden über die Front hinweg austauschen.

Weg aus Mariupol

Margo Stakhiv hat den Rucksack mit dem Nötigsten also im Schrank gelassen. Stattdessen packt sie ihre guten Sachen in Ruhe in ihren Koffer. Das Ticket für die Fahrt in die Haupsstadt Kiew ist schon gebucht, die Einladungen für Vorstellungsgespräche in der Hauptstadt hat sie bereits erhalten. Keine überhastete Flucht vor den anrückenden Truppen der so genannten «Donezker Volksrepublik» kommt der geplanten Ausreise aus der umkämpften Stadt dazwischen. Margo Stakhiv will nur noch weg aus Mariupol. Weg von der Angst, morgen in einem anderen Land aufzuwachen, wenn nachts kein Raketenangriff das Leben beendet hat. Weg aus einer Stadt, in der sie es immer schwerer habe, sie selbst zu sein, wie sie sagt. «Ich habe Angst, in Mariupol Ukrainisch zu sprechen», sagt die 23-Jährige. Margo Stakhiv gehört zur russischsprachigen Mehrheit in Mariupol. Aber sie spricht auch Ukrainisch und schwärmt von Lviv, der Grossstadt im Westen der Ukraine. Es gehöre Mut dazu, sich dazu in manchen Teilen von Mariupol zu bekennen. «Und seit dem Raketenangriff im Januar ist es noch schlimmer geworden», sagt sie. Damals rückten die ukrainischen Freiwilligen des Asow-Regiments als erste am Ort des Einschlags an. Für viele Bewohner von Vostoschny gilt das als Beleg, dass die Asow-Kämpfer vorab Bescheid wussten von dem Blutbad. «Viele Menschen in Mariupol glauben, was ihre Verwandten in Russland sagen. Dass die Ukraine an allem Schuld ist und auch die Geschosse abgefeuert hat», sagt sie. Die Erkenntnisse der OSZE, die eindeutig belegen, dass die Raketen vom Gebiet der Seperatisten abgeschossen worden sind, interessiere die Menschen in Vostoschny nicht. «Die russischen Medien sagen, dass die Europäer Komplizen der ukrainischen Faschisten sind. Also glaubt ihnen niemand».

Der Hass auf Europäer in ihrem Viertel tut der Englischlehrerin weh. Sie träumt davon, irgendwann nach Schottland zu reisen. Bisher hat sie es nur in die westlichen Nachbarstaaten der Ukraine geschafft, Polen, die Slowakei und Ungarn. Obwohl sie nur einen kleinen Teil des Kontinents kennt, spricht Margo Stakhiv das Wort «Europa» geradezu liebevoll aus. Warum so viele Menschen um sie herum das gleiche Wort nur mit Abscheu äussern, versteht sie nicht. Die ukranischen Soldaten und erst recht die Kämpfer der Freiwilligenbataillone würden viele als Besatzer wahrnehmen. «Dabei waren es die Separatisten , die im Sommer Geschäfte geplündert haben», sagt sie. Ein halbes Jahr, nachdem die ukrainischen Truppen Mariupol zurückerobert haben, hat Margo Stakhiv wieder ein sicheres Gefühl, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs ist. Eigentlich müssten die anderen Frauen in der Nachbarschaft es ähnlich empfinden wie sie. Doch ihre eigene Mutter wettert tagtäglich gegen die ukranischen Soldaten und freiwilligen Kämpfer. Margo Stakhiv hat keinen Plan B für den Fall, dass sie sich in Kiew nicht über Wasser halten kann. Einen Rückfahrtschein nach Mariupol würde sie aber auf keinen Fall kaufen.

Streit um Lenins Denkmal

Vielleicht war es der schwerste Fehler der ukrainischen Truppen, der Stadt Lenin zu nehmen. Nachdem Mariupol im Sommer wieder in der Hand der Armee und der Freiwilligenverbände war, wurde die Statue des Bolschewistenführers unweit der Universität von Mariupol vom Sockel gehoben. Ein Holzkreuz wurde vor dem enthaupteten Denkmal errichtet. Das Kreuz blieb aber nicht lange an Ort und Stelle. Es verschwand eines Nachts. Seitdem liefern sich die Stadtverwaltung und die Rächer Lenins ein Spiel nach dem Motto, wer den längeren Atem hat. Die einen stellen ihr Holzkreuz auf, die anderen rücken nachts mit Äxten an, um es zu fällen. Maks Nikolaenko wundert es nicht, dass viele in Mariupol das Sakrileg an Lenins Statue bis heute nicht verwunden haben. «Vor dem Zweiten Weltkrieg war Mariupol eine ukrainische Stadt. Danach haben sich hier Menschen aus der ganzen Sowjetunion angesiedelt. Die meisten haben immer noch das Gefühl, dass nicht Russland, oder die Ukraine ihr Heimatland ist, sondern die UdssR», sagt Nikolaenko. Seine eigene Familie stammt aus Russland genau wie die seiner Freundin, und er spricht Russisch. Und es erstaunt ihn nicht, dass viele Menschen in Mariupol weder ukrainisch bleiben wollen, noch unter der Herrschaft der Separatisten leben möchten. «Viele hoffen, dass die russische Armee kommt und für Ruhe sorgt», sagt Nikolaenko.




Der 30-jährige Ingenieur arbeitet für das Asowstal Stahlwerk. Es gehört zum Metinvest-Imperium des Donzeker Oligarchen Rinat Achemtow. Sein Gehalt ist in den vergangenen Monaten von umgerechnet 800 Dollar auf 150 Dollar geschrumpft. Asowstal bekommt keinen Nachschub an Eisenerz und Steinkohle aus den Gebieten der «Donezker Volksrepublik». Deshalb hat das Unternehmen seine Mitarbeiter in Kurzarbeit gesteckt. Mariupols Metallarbeiter haben nun weniger Lohn in der Tasche während der Krieg die Inflation antreibt, und die Preise immer höher steigen lässt. Die Schwierigkeiten von Asowstal reissen die ganze Wirtschaft Mariupols in den Abgrund. Metinvest ist Mariupol und Mariupol ist Metinvest, sagen die Menschen in der Hafenstadt. Sie meinen damit, dass die Wirtschaft der ganzen Stadt vom Wohlergehen des grössten Arbeitgebers abhängt. Haben die Metaller kein Geld, kaufen sie nichts in den Geschäften, und die Cafés und Restaurants bleiben leer. Maks Nikolaenko erstaunt es deshalb nicht, dass die Menschen in Mariupol nur eines wollen: Frieden, egal zu welchem Preis und unter welcher Flagge auch immer.

Traum vom europäischen Leben

Der schlimmste Feind der Ukraine sei das russische Fernsehen, sagt Maks Nikolaenko. Der Ingenieur trifft sich mit seiner Freundin Alina Malygina gern im Café «La Rouchelle» in der Innenstadt von Mariupol. Die Wände sind dekoriert mit Bildern von Catherine Deneuve, Jean-Paul Belmondo und anderen französischen Stars. Édith Piaf haucht aus den Musikboxen ihre Chansons. Maks Nikolaenko und Alina Malygina stammen aus Russland, sprechen russisch, träumen aber von einer europäischen Leben. Die Ukraine ist für sie wie eine Brücke in ein Leben, in dem sie vielleicht einmal ohne Visum nach Paris reisen könnten. Nur, in ihren Familien und in ihrem Freundes- und Kollegenkreis sind viele ganz anderer Meinung. Im vergangenen Februar haben sich beide vor allem über das Internet über die Ereignisse auf dem Maidan und danach auf der Krim und im Donbass informiert. Ihre Verwandten hätten dagegen das russische Fernsehen eingeschaltet. Als die ukranischen Truppen und die Freiwilligenbataillone im Sommer die Stadt von den Separatisten eingenommen haben, war die Angst vor Gräueltaten in Mariupol gross. «Für viele Leute war es klar, dass uns Faschisten eingenommen haben. Und sie glauben es immer noch, obwohl hier niemand Kinder umbringt oder Leute aufhängt», sagt Alina Malygina. Die Tatsache, dass es in Mariupol nicht einmal eine nächtliche Ausgangssperre gibt, ändere nichts an dem Gefühl vieler Menschen in Mariupol, unter einem brutalen Besatzungsregime zu leiden, sagt die 23-Jährige. «Sie wollen von der Regierung in Kiew mehr finanzielle Unterstützung, lehnen aber die ukranischen Truppen ab. Das ist absurd», sagt sie. Ihr Freund findet das weniger widersprüchlich, weil für ihn Mariupol ein aus der Zeit gefallenes Stück Sowjetunion ist. «Die Menschen können mit Patriotismus nichts anfangen. Für sie gibt es nur sie selbst und den Staat, der sie versorgt», sagt er. Welcher Staat das letztlich ist, sei den Leuten gleichgültig.

Kämpfer haben wenig Verständnis für Zivilisten

Wie lässt sich eine Stadt verteidigen, die vielleicht gar nicht verteidigt werden will? «Budweiser» und «Sidori» stellen sich diese Frage nicht. Die beiden Kämpfer des Freiwillligenbataillons Dnipro nennen lediglich ihre Kriegsnamen, die sie auch über Funk kommunizieren. Eine Vorsichtsmassnahme für den Fall, dass sie der anderen Seite in die Hände fallen. Sie haben Verwandte in den Seperatistengebieten, und die Angst vor dem, was die «Donezker Volksrepublik» mit ihnen machen könnte, wenn sie herausfindet, dass jemand aus der Familie für die andere Seite kämpft, ist gross.

Ob die Menschen in Mariupol sie mögen oder nicht, ist «Budweiser» und «Sidori» egal. Sie hätten andere Dinge zu tun, sagen sie. Vor allem müssen sie schauen, wie sie im Stellungskrieg um die Kleinstadt Schirokino zehn Kilometer ausserhalb von Mariupol am Leben bleiben. Allein in den vergangenen 24 Stunden hätte es fünf Kameraden erwischt, sagen sie. Die Separatisten würden ihre schweren Waffen verstecken, damit die OSZE-Beobachter sie nicht so leicht entdecken können. Sobald es dunkel wird, würden sie aus vollen Rohren feuern. Dass es in Kürze zu einem Angriff auf Mariupol kommt, steht für die Kämpfer fest. Beide fahren in voller Montur in ihrem Jeep durch Mariupol. Die Maschinengewehre haben sie zwischen ihre Schenkel abgestellt, damit sie jederzeit griffbereit sind. «Natürlich kann ich verstehen, dass die Menschen Angst haben, wenn sie bewaffnete Männer wie uns sehen», sagt «Budweiser». Damit endet aber auch sein Verständnis für Bürger, die den Frewiilligenverbänden in der Stadt ablehndend gegenüber stehen. «Wer etwas gegen Leute hat, die unser Land verteidigen, soll doch nach Russland gehen», sagt er. «Sidori» sieht es so: «Wenn ich Insekten im Haus habe und diese Insekten der meine Meinung sind, das sei ihr Zuhause, werde ich sie trotzdem vernichten», sagt er. Die Frage, was das Bataillon Dnipro also tut, um auch diejenigen in Mariupol zu überzeugen, die sie als Besatzer sehen, hat sich mit «Sidoirs» Ungeziefervergleich erübrigt.

Die Partisanen Mariupols brauchen jemand, der auf sie aufpasst. Sie haben ihre Zentrale in einem Kellergeschoss in einem Wohnblock im Zentrum von Mariupol. Einer muss draussen in den Strassen Wache schieben, weil auf das Büro der Selbstverteidigungskräfte Samooboona schon mehrmals Brandsätze geschleudert worden sind. Im Inneren des Raums hängt ein Verteilerkasten, der in den Flammen zusammengescmolzen ist. Ansonsten glänzt der Raum in einem hellen Gelb , das die Freiwilligen nach dem letzten Anschlag über den Russ gepinselt haben. Maxim Svetloff zieht nicht einmal Anorak und Stiefel aus, um ein Interview zu geben. Nervös spielt der Kopf der Mariupoler Samoobrona mit seinem Autoschlüssel, als müsste er schon längst in einer dringernden Angelegeneit unterwegs sein. Die Zeit scheint abzulaufen für den Mann, der einen Partisanenkampf vorbereiten will. 200 Männer zählt Svetloff zu seinen Mitkämpfern. 1000 Bürger aus Mariupol will er trainiert haben, wie sich zum Beispiel mit Messern verteidigen könnten. Glaubt er selbst, dass seine Truppe irgendetwas ausrichten könnte gegen eine drohende Invasion? «Wir tun, was wir können», sagt er.

Auf die Frage, warum denn der Rest der 470 000 Bewohner Mariupols glaubt, dass es besser ist, sich nicht auf eine Selbstverteidigung vorzubereiten, gibt er eine kurze Antwort. «Die meisten Menschen wollen Frieden, keinen Krieg», sagt er. Und er selbst, warum will er sich in ein vielleicht aussichtsloses letztes Gefecht stürzen? Svetloff berichtet von Gräueltaten der anderen Seite in der «Donezker Volksrepublik». Sie könnten wahr sein oder eben auch nur Propgaganda von der anderen Seite. Dann wird der russischstämmige Mann aus Mariupol grundsätzlich. «Die Russen sind unsere Brüder. Aber wenn mein Bruder, mir vorschreiben will, wie ich zu leben habe, dann darf ich mich wehren», sagt er. Mit seiner Wut auf den grossen Bruder ist der Partisan ziemlich allein in einer Stadt, die ihr Schiksal erwartet.

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