Harry Belafonte blickt mit 85 Jahren zurück auf sein ereignisreiches Leben – und mag sich als Aktivist noch immer nicht zur Ruhe setzen.
Locarno wirkte in den vergangenen Tagen wie eine Hochburg der Schweizer Sozialdemokraten. Bundesrat Alain Berset sprach hier über die Filmförderung. Der Berner Nationalrat Matthias Aebischer wurde zum Präsidenten von Cinésuisse, dem Dachverband der Schweizerischen Film- und Audiovisionsbranche, gewählt. Weniger offiziell wirkten dagegen alt Bundesrat Moritz Leuenberger, den man am Rande des Trubels gemütlich einen Kaffee trinken sah, oder die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch, die entspannt über die Piazza schlenderte.
Am unscheinbarsten aber wirkte am Dienstagnachmittag jene ältere, robuste Dame, die sich in der langen Schlange vor dem Cinema Rialto einreihte. Wie Dutzende andere war sie bereits eine halbe Stunde vor Filmbeginn erschienen, in der Hoffnung, einen guten Platz für die Vorführung von «Sing Your Song» zu ergattern. Und wie Dutzende andere steckte sie in der Schlange fest. Die Hitze drückte, die Ungeduld wuchs. Die ältere Dame brach aus, überholte die anderen Besucherinnen und Besucher auf der linken Seite und erkundigte sich vorne an der Kasse, warum es nicht vorwärts gehe. Der Saal sei bereits voll, erfuhr sie. Es war völlig egal, welche Art Festivalpass man oder frau auch besass: Niemand wurde mehr hineingelassen. Auch nicht eine alt Bundesrätin wie Ruth Dreifuss. Die Genfer Sozialdemokratin erfuhr damit am eigenen Leib: Vor Harry Belafonte sind alle gleich.
Die schiefe Bahn vor der Haustür
Für soziale Gleichberechtigung hat sich der 85-jährige US-Amerikaner sein Leben lang eingesetzt. Das zeigt der Dokumentarfilm der deutschen Regisseurin Susanne Rostock mit eindrücklichen Bildern und Interviews. Es ist die komprimierte Fassung seines Lebens als Entertainer und Aktivist – zwei Aufgaben, die bei Belafonte nicht voneinander zu trennen sind.
1927 im New Yorker Immigrantenstadtteil Harlem geboren, wuchs Belafonte in schwierigen Verhältnissen auf: Armut, Arbeitslosigkeit, Alkoholikereltern. Oft auf sich allein gestellt, musste er sich um seinen jüngeren Bruder kümmern. Die schiefe Bahn führte an seiner Haustür vorbei. Stark war sein Wille, nicht wie seine Mutter ein aussichtsloses Leben zu führen, und gross der Zorn, mitansehen zu müssen, wie die Verzweiflung viele Menschen in seinem Umfeld in die Kriminalität, in den Knast, ins Elend führte.
Belafonte überholt Presley
Im American Negro Theater sammelte er erste Bühnenerfahrungen, zuerst als Handlanger, dann als Schauspieler, lernte dabei den stillen Kollegen Sidney Poitier kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Belafonte knüpfte auch Kontakte zu Jazzmusikern wie Lester Young, die ihn ermutigten, zu singen. «Doch im Jazz fühlte ich mich nicht zu Hause, also ging ich in die Library of Congress und forschte dort nach alten Folksongs», erzählt Harry Belafonte bei unserem Tischgespräch in Ascona. «Zur gleichen Zeit entdeckte ich den Performer und Aktivisten Paul Robeson.» Der afroamerikanische Sozialist wurde ein wichtiger Mentor für den jungen Sänger. «Robeson sagte mir: Mach, dass sie deinen Song singen – und dann wissen sie, wer du bist!»
Kunst für den Wandel
Der junge Belafonte verinnerlichte diese Aussage, wie er auch nie vergass, was seine Mutter ihm einmal sagte, als sie bedrückt und erschöpft von einem Tagesjob bei einer weissen Familie nach Hause kam: «Man sollte sich abends nicht schlafen legen, wenn man sich tagsüber nicht gegen eine Ungerechtigkeit gewehrt hat.»
Ein dritter Mensch inspirierte ihn nachhaltig: die deutsche Theaterlegende Erwin Piscator. Als einziger dunkelhäutiger Kursteilnehmer genoss er bei ihm einen Workshop, umgeben von Studenten wie Walter Matthau, Marlon Brando und Tony Curtis, die ebenfalls das Rüstzeug für eine Weltkarriere sammelten. «Piscator lehrte uns, dass Kunst nicht einfach nur Unterhaltung ist, sondern ein Instrument für den Wandel», erzählt Belafonte.
1954 spielte er in Oscar Premingers Film «Carmen Jones» mit, einer Anlehnung an Georges Bizets Oper, die in den USA heftige Kontroversen auslöste. Erstmals in einem Hollywoodfilm waren alle Rollen mit Farbigen besetzt. Im gleichen Jahr schloss sich Belafonte einer Roadshow an, die ihn auch in den Süden führen sollte. «Ich wollte den Weissen meine Songs ins Gesicht singen», erinnert er sich. «Sie sollten mich aus der Nähe sehen, wenn ich ihre Gesellschaftstheorie mit meinen Mitteln infrage stellte.»
Vom Arbeiterlied zum Stadionsong
Was ihm gelang. Denn wenn heute in einem Sportstadion die Masse «Day-O» ruft, geht gerne vergessen, dass in diesem alten Schlager, dem «Banana Boat Song», eine tiefe Bedeutung steckt, die eng mit Belafontes Biografie verknüpft ist: Sein Vater arbeitete als Koch auf «Banana Boats», war oft auf See und fern der Familie. Harry selbst wurde von der Mutter nach Jamaika verfrachtet, wo er einige Kindheitsjahre unter Wellblechdächern verbrachte und mit eigenen Augen sah, wie die Hafenarbeiter die ganze Nacht über schufteten und sich mit Gesängen wachhielten.
Der «Banana Boat Song (Day-O)» erschien 1956 auf seinem dritten Album «Calypso», das Geschichte schrieb: Erstmals wurden mehr als eine Million Exemplare von einer LP verkauft. Damit übertrumpfte Belafonte den Rock’n’Roll-Sänger Elvis Presley, wurde ein gefragter Sänger in Nachtclubs und Konzertsälen, aus heutiger Sicht der erste Weltmusik-Star.
Auch in diesen ruhmreichen Stunden vergass er nicht, warum er Belafonte heisst – und nicht wie seine Vorfahren Bellanfanti: Andere Künstler nehmen Pseudonyme an, weil ihr Taufname zu wenig einprägsam ist. Hinter Belafonte steht eine andere Geschichte: Die Eltern hielten sich illegal in den USA auf. Stets auf der Flucht vor der Einwanderungsbehörde, liess sich die Mutter gefälschte Pässe mit anderen Namen ausstellen. Als er selbst ein gefeierter Star war, half Belafonte der südafrikanischen Sängerin Miriam Makeba, die beim Apartheidregime in Ungnade gefallen war. Half ihr bei der Einreise in die USA – und beim künstlerischen Durchbruch.
Im Visier des Ku-Klux-Klans
Ende der 1950er-Jahre lernte er den ein Jahr jüngeren Pfarrer Martin Luther King kennen, war beeindruckt von dessen Rhetorik und Willen zum Ungehorsam, um der herrschenden Rassentrennung in den USA ein Ende zu setzen. Bald freundete er sich auch mit den Kennedys an. «Ich wusste, dass die Kennedys meine Popularität benutzten – aber auch ich habe sie benutzt, um die Bewegung voranzutreiben», erzählt er uns im Gespräch.
Belafonte setzte sich dabei immer wieder Gefahren aus. Als er in den frühen 1960ern nach Mississippi reiste, um jungen Bürgerrechtsaktivisten eine Tasche voller Dollarscheine zu überreichen, damit sie ihre Arbeit fortsetzen konnten, entkam er nur knapp dem Ku-Klux-Klan, der ihn im Visier hatte.
Er gab nicht auf, auch nicht, nachdem Weggefährten wie John F. und Robert Kennedy sowie Martin Luther King ermordet worden waren. Belafonte machte sich stark im Kampf gegen Armut und Kriegswut, sei es als Co-Initiant von USA For Africa («We Are The World») oder, bis heute, als Sonderbotschafter der Unicef.
Kam der Philanthrop einmal an den Punkt, an dem er sich fragen musste, ob es das alles wert gewesen sei? «Ja, jedes Mal, wenn mir das Geld auszugehen drohte», sagt er. «Ich habe Millionen von Dollars gespendet. Und eine Zeit lang auch viel Geld in Spielcasinos liegen gelassen», wie er ehrlich anfügt.
Hüter der Wahrheit
Obschon er sich an einem Gehstock festhält, wirkt Belafonte noch immer kräftig. Und sein Blick ist wach, so wach, dass man gar nicht wahrnimmt, dass er auf einem Auge blind ist. Mit seinen 85 Jahren darf man ihn nicht zum alten Eisen zählen. «Ich arbeite bereits an einem neuen Projekt, der TV-Sender HBO garantiert die Finanzierung. Es wird ein Film über den arabischen Frühling und die Occupy-Bewegung.» Als Wahlhelfer von Barack Obama agiert er aber nicht. «Er hat mehr für die Mittelschicht getan als für die vielen Armen und Notleidenden in diesem Land», kritisiert Belafonte den US-Präsidenten.
«Die Demokraten ernähren sich wie die Republikaner von der eigenen Macht, viele haben ihr moralisches Zentrum verloren. Diese Apparate mag ich finanziell nicht unterstützen», sagt er. Dennoch wird er Barack Obama seine Stimme geben, «schon nur, weil wir Mitt Romney unbedingt verhindern müssen! Bereits unter George W. Bush standen wir am Anfang eines Vierten Reichs, unvorstellbar, was unter Romney geschehen könnte!»
Sympathien für Marx und Occupy
Da ist er wieder, der Zorn des alten Mannes, der Gutes tut und lebt. Dem die Demokraten zu weichgespült sind, der noch immer glaubt, dass der Marxismus im Kern die Welt besser machen würde: «Marx’ Ideen waren ja nicht falsch, sondern das, was die Leute in den Machtpositionen damit anstellten!», sagt Belafonte und fügt an, wie sehr er bedaure, dass Profitgier, Eigennutz und Neid bei vielen Künstlern Überhand genommen haben. «Dabei sind Künstler mehr denn je notwendig, um den Regierenden dieser Welt zu helfen, den richtigen Weg aus den Krisen der Gegenwart zu finden. Künstler sind die Hüter der Wahrheit.»
Dennoch: Den Optimismus hat Belafonte nicht verloren. «Auf keinen Fall! Ich hoffe, dass aus der Occupy-Bewegung etwas Grösseres entsteht. Die jungen Aktivisten haben meine Sympathien und Unterstützung. Und jene, die sie belächeln, seien gewarnt: Vor über 50 Jahren bezeichnete man auch Martin Luther King und mich als frustrierte Jugendliche ohne Zukunftsperspektiven – und unterschätzte die Kraft, die freigesetzt wurde.»
Kämpferische Worte eines eindrücklichen Mannes. Sein Auftritt auf der Piazza Grande, wo ihm ein Leopard für sein Lebenswerk überreicht wurde, begeisterte mehrere Tausend Menschen. Dass der Film über sein Leben tags darauf in einem viel zu kleinen Kinosaal ausgestrahlt wurde, ist ein Widerspruch, für den das Filmfestival künftig eine Lösung finden sollte. Schon nur, damit Sozialdemokraten sehen können, was man in einem Leben erreichen kann.
Ein kleiner Trost bleibt Ruth Dreifuss und all den anderen, die nicht ins Kino reingelassen wurden: Der Film erscheint demnächst auf DVD.
- Harry Belafonte: «My Song – Die Autobiographie», 633 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2012.
- «Sing Your Song» – der Dokumentarfilm von Susanne Rostock erscheint im September 2012 auf DVD.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.08.12