Fast 6000 Flüchtlinge haben den Weg aus Syrien in die Schweiz geschafft. Doch das Erlebte lässt sich kaum abschütteln. Die Geschichte einer Flüchtlingsfamilie, die in Basel untergekommen ist.
Der Schrecken des Krieges steht auf ihrer Stirn geschrieben, er hat sich in starrenden Furchen in ihr Gesicht eingegraben. Ob sie spricht, ob sie schweigt, die Falten bewegen sich nicht.
Dalia Lamud* sitzt in einem Hinterhof des Basler Asylzentrums an der Freiburgerstrasse und hört ihrem Mann Ahmed zu, wie er ihre gemeinsame Geschichte rekapituliert. Bald schüttelt die Erinnerung glänzende Tränen aus den dunklen, erschreckten Augen. Dalia versucht die Fassung zu bewahren, sie fängt die Tränen mit den Fingern auf, wischt sie weg, bis sie sie nicht mehr auffangen kann, weil es zu viele sind und die innere Zerrüttung jetzt nach aussen drängt.
«Sollen wir das Gespräch abbrechen?» – «Nein, es hilft, davon zu erzählen.»
Drei Monate ist es her, dass Dalia, Ahmed und ihr zehnjähriger Sohn in der Schweiz landeten. Ausgestattet mit Visa, die ihnen das Schweizer Konsulat in Istanbul ausgestellt hatte, beantragten sie hier Asyl. Hinter ihnen lag eine kurze Flucht aus Syrien, Schlepper hatten sie über die türkische Grenze gebracht. «Es regnete stark, als wir Syrien verliessen», erinnert sich Ahmed. Wichtig ist das nicht, aber Ahmed geht im Gespräch die Bilder durch, die er im Kopf hat.
Die Fronten wechselten ständig
Um das schlimmste Bild nachzuzeichnen, muss man zurückblicken: Die Familie Lamud lebte in einem Dorf zwischen der Hauptstadt Damaskus und der umkämpften Rebellenhochburg Aleppo. Die Fronten in der Region waren unklar. Mal hatten die Rebellen die Oberhand, dann wieder die syrische Armee. Ahmed Lamud verdiente sein Geld als selbstständiger Gipser und Maler, das Geschäft lief gut. Er hatte eben eine Parzelle gekauft, um ein Haus zu bauen, das Fundament war bereits gelegt, als der Bürgerkrieg ausbrach.
Ahmed, ein sunnitischer Kurde, sagt von sich, er sei unpolitisch und die frühen Auseinandersetzungen mit dem Regime hätten ihn nicht interessiert. Seine beiden älteren Söhne, wovon einer ebenfalls in der Schweiz ist und der andere in Istanbul festhängt, seien hin und wieder an Demonstrationen gegangen, an der Waffe kämpfte keiner von ihnen.
Der Krieg kam schleichend
Der Krieg erreichte ihr Dorf schleichend. Tagsüber ging alles seinen gewohnten Gang, die Menschen gingen ihrer Arbeit nach. Doch die Situation konnte so plötzlich umschlagen, wie ein Gewitter einen heissen Sommertag unvermittelt beendet. Ahmed erinnert sich an eine Bäckerei, die er häufig aufsuchte. Eines Tages, ohne Ankündigung, warf jemand kurz vor Feierabend eine Handgranate durch das Schaufenster in die Backstube. Es war die Phase, als die Konfliktparteien an den Bewohnern zu zerren begannen, sie sollten für die jeweilige Seite an die Waffen.
Als das Militär Ahmeds ältesten Sohn einziehen wollte, floh dieser in die Schweiz. Die restliche Familie blieb in der Wohnung und harrte aus, versuchte den Krieg auszusitzen und weiter das gewohnte Leben zu führen. Doch die Kämpfe in der Region wurden immer heftiger, und die Armee bombardierte die Dörfer, in denen sie Rebellen vermutete.
Die Soldaten zogen die Schlinge enger, auch um Ahmeds Dorf. Im obersten Stock seines Wohnhauses hatten sich Rebellen verschanzt. Nach ersten Feuergefechten bombardierten Assads Truppen den Stock und entschieden damit das Gefecht. Als der Angriff vorbei war, rannten Ahmed und seine Frau die Treppe hoch und sahen die verheerenden Folgen des Bombardements, die aufgetrennten und wesenlosen Körper.
Die Bilder bleiben in den Köpfen
Die Bilder, sagen die Lamuds, kriegen sie nicht mehr aus ihren Köpfen. Sie reissen sie aus dem Schlaf, blitzen auch in Basel auf, wenn draussen Kinder schreien oder es irgendwo knallt. Sie belegen ihre Seelen, zerfurchen ihre Antlitze, so dass ihre Gesichter ausschauen wie Gipsmasken dieses unfassbar brutalen Krieges.
In den drei Monaten, seit sie hier sind, haben sie sich noch nie in die Stadt getraut. Jeden Tag gehen sie den kurzen Weg vom Empfangs- und Verfahrenszentrum zu den nahen Langen Erlen. Noch nicht mal eine Moschee suchen sie auf. «Um zu beten», sagt Dalia, «muss man Ruhe im Kopf haben.»
Schweiz stoppte Visa-Austeilung
Jetzt sind sie hier in Sicherheit, sie wissen, dass sie unvorstellbares Glück hatten. Sobald Frieden herrscht, wollen sie zurückkehren, «auch wenn wir nichts mehr haben dort», sagt Ahmed. Doch wann wird das sein? Der Krieg werde noch 20, 30 Jahre dauern, glaubt der 52-Jährige. Der Bürgerkrieg habe die Gesellschaft zerstört, die alltägliche Brutalität beider Seiten alles Menschliche ausgelöscht. «Auch wenn irgendwann Frieden herrscht, wird es ewig dauern, bis die Leute wieder miteinander auskommen», befürchtet Ahmed.
Deshalb hofft er, dass seine im Land verbliebene Tochter die Flucht bald schafft. Doch das Unterfangen ist fast unmöglich: Die Tochter steckt mit ihrem Kleinkind in der belagerten Stadt Aleppo fest. Ihr Mann sei verschollen, sie selber habe weder Arbeit noch Geld.
Selbst wenn der Tochter die Flucht aus Syrien gelingt, wird es ein langer und beschwerlicher Weg in die Schweiz. Die Ausstellung von Visa auf Botschaften oder Konsulaten hat die Schweiz mittlerweile wieder gestoppt. Will ein syrischer Flüchtling jetzt in die Schweiz gelangen, bleibt ihm nur der gefährliche Weg quer durch Europa und den Nahen Osten, zumeist mittels Schlepperbanden über das Mittelmeer.
*Alle Namen wurden geändert, um verbliebene Angehörige nicht in Gefahr zu bringen.
Flüchtlingstag auf dem Claraplatz