Nach dem juristischen Erdbeben wählen die Ägypter am Wochenende einen Präsidenten. Der Wahlausgang ist ungewiss, die Angst vor neuen Unruhen gross.
Nicht nur Islamisten sprachen von einem «weichen Militärputsch», nachdem das Verfassungsgericht in Kairo am Donnerstag das Parlament für illegal erklärt hatte und die Kandidatur von Ahmed Shafiq, dem letzten Premier unter Mubarak, guthiess. Geschockt waren auch liberale und linke Kräfte und vor allem die Revolutionsjugend. Sie organisierte am Freitag weitere Demonstrationsmärsche und kündigte bereits an, dass sie eine Wahl Shafiqs niemals akzeptieren würde.
Umstrittener Gerichtspräsident
Triumphiert hat Shafiq, der ehemalige Luftwaffengeneral. Als ob er das Urteil im Voraus gekannt hätte, hatte er eine Pressekonferenz vorbereitet und dazu viele jubelnde Anhänger eingeladen. Den Richterspruch nannte er historisch und erklärte, in Zukunft würden nie mehr Bürger durch das Gesetz diskriminiert. Mit dem Verdikt ist der Weg frei für die hart umkämpfte Stichwahl zwischen Shafiq und Mohammed Morsi von den Muslimbrüdern, die nach dem Willen des regierenden Militärrates wie vorgesehen am Samstag und Sonntag abgehalten wird. Dies obwohl der politische Transformationsprozess mit dem Richterspruch völlig aus der Bahn geworfen wurde.
Für die Revolutionsgruppen ist dies ein abgekartetes Spiel des alten Regimes in Abstimmung mit der Armee, umso mehr als dem Militär am Vortag auch noch neue Sondervollmachten eingeräumt worden waren. Beide hatten aus ihrer Ablehnung gegen eine politische Dominanz der Muslimbrüder nie einen Hehl gemacht. Das Verfassungsgericht wird von Farouk Sultan präsidiert, der auch der Wahlkommission vorsteht. Sultan, der als sehr regimetreu galt, wurde 2009 von Mubarak gegen den Willen breiter Justizkreise in dieses Amt gehievt, um mit seiner Hilfe seinen Sohn Gamal inthronisieren zu können, lautete damals die Spekulation. Es folgten 2010 die schlimmsten Wahlfälschungen in der jüngeren ägyptischen Geschichte.
Mit dem Entscheid, dass das erste demokratisch gewählte Parlament illegitim sei – die Generäle haben seine Auflösung noch nicht verkündet – wird praktisch der gesamte politische Neuaufbau rückgängig gemacht. Das einzige gewählte Organ verliert seine Funktionsfähigkeit und die ägyptische Revolution ist wieder dort, wo sie im Frühjahr des vergangenen Jahres nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak war. Die Armee übernimmt wieder die gesetzgebenden Aufgaben und will die Ausarbeitung einer Verfassung überwachen. Der liberale Oppositionspolitiker Mohammed el-Baradei warnte, ein Präsident ohne Verfassung und ohne Parlament, so etwas gebe es nicht einmal in den berüchtigtsten Diktaturen. Der neue politische Fahrplan ist völlig unklar.
Angst vor neuer Gewalt
Wie sich das politische Chaos auf die umstrittene Präsidentenwahl auswirken wird, ist schwer abzuschätzen. Die Kampagne ist zu Ende; die Kandidaten dürfen sich nicht mehr äussern. Für Millionen Ägypter und Ägypterinnen ist es ohnehin eine bittere Wahl, weil sie weder einem Islamisten noch einem Vertreter des alten Regimes ihre Stimme geben wollen. Auf beiden Seiten gibt es sehr viel Hass und Animositäten. Die Revolutionsgruppen sind gespalten. Mehrere haben sich für Morsi ausgesprochen. Es gibt überraschende Konstellationen. Linke und Liberale, die jahrelang gegen das Mubarak-Regime gekämpft haben und jetzt Shafiq empfehlen, weil ihr Hass auf die Muslimbrüder so abgrundtief ist.
Mehrere Gruppierungen haben zu einem Wahlboykott aufgerufen. Bei den Auslandsägyptern waren bis zu zehn Prozent der Stimmen ungültig. «Die Revolution geht weiter», stand auf vielen Bulletins. Morsi hat die Gerichtsentscheide akzeptiert, aber gewarnt, Ägypten stünden gefährliche Tage bevor. Mit dem Segen der alten Staatsmacht für Shafiq als einem der ihren wird befürchtet, dass auch die bekannten Schlägertrupps wieder aktiv werden, die unter Mubarak jeweils für die gewünschten Resultate gesorgt haben. Ein siegessicheres, staatsmännisches Auftreten hatte Shafiq bereits am Donnerstag.