Die Geschichte einer medialen Fehlleistung

Zwei Buben wollen ihrer Lehrerin nicht die Hand geben. Diese Geschichte zählt zu den grössten Medienereignissen des Jahres. Doch sie sagt weniger über den Islam aus als vielmehr etwas über die unreflektierte Skandallust der Journalisten.

Die Händedruck-Affäre wurde in der medialen Debatte bis zum Letzten ausgequetscht.

Die Geschichte zählt zu den grössten Medienereignissen des Jahres: Zwei Buben wollen ihrer Lehrerin nicht die Hand geben. Doch die in allen Details ausgebreitete Story erzählt weniger über den Islam als über die unreflektierte Skandallust der Journalisten.

Wie verlogen die Aufwallung zum verweigerten Händedruck zweier Teenager an einer Therwiler Sekundarschule war, ist schnell dargelegt. Dafür reicht ein Blick auf den «Schweizer Aufschrei». Seit bald zwei Wochen machen dutzend- und hundertfach Schilderung von Sexismus im Alltag die Runde: Klebrige Komplimente, Griffe ans Bein, Machosprüche – die ganze Palette an Widerlichkeiten, mit denen Männer in diesem Land regelmässig und ungestraft Frauen zu nahe treten. In der Politik, im Büro, beim Vorbeigehen.

Publizierte Artikel zur Problematik in der «Basellandschaftlichen Zeitung» bislang (Irrtum vorbehalten): null.*

Wir bemühen dieses Blatt an dieser Stelle, weil es in der «Handschlag-Affäre» den Lead hatte, wie man so schön sagt, weil es anderen Medien oft «einen Schritt voraus war», ein Umstand, der nebst dem monatlichen Gehalt bei jedem Redaktor die grössten Glücksgefühle auslöst. Publizierte Artikel in der «Basellandschaftlichen Zeitung» zum Handschlag in Therwil bis dato: rund 30.

Nun ist die TagesWoche nicht in der Position, in dieser Sache Kollegenschelte zu betreiben. Auch wir haben nicht die beste Falle gemacht: Als im April die ersten Artikel zum Händedruck erschienen, waren die Meinung innerhalb der Redaktion klar. Wir hielten die Geschichte für eine Lappalie, die nur darum Relevanz erhielt, weil es sich bei den Schülern um Muslime handelte. Wir entschieden für uns: Schenken wir der Story kein Gewicht.

Es fühlte sich richtig an. Wir lagen aber wahrscheinlich falsch.

Denn dann befand Chefredaktor Christian Degen, unsere Position sei unjournalistisch. Ein Thema, das derart intensiv diskutiert werde, könnten wir nicht einfach verschweigen. Wir sollten das Thema aber ruhig und unaufgeregt angehen. Also veröffentlichten wir zwei oder drei einordnende Texte, mit denen die ganze Aufregung runtergekocht wurde.

Wir meldeten uns erleichtert ab und die «Handschlag-Affäre», wie dieses kleine, anekdotische Ereignis an einer Baselbieter Sekundarschule bald getauft wurde, geriet ausser Kontrolle.

Es wurde komplett ausser Acht gelassen, dass sich die Story um zwei Minderjährige drehte – und das ist eine schändliche Fehlleistung.

Die Eskalation lief auf drei Ebenen ab, beteiligt waren zahlreiche Medien. Zunächst die problematischste Entwicklung: Die beiden Teenager, 14 und 16 Jahre alt, wurden nach allen Regeln der Kunst durchleuchtet, ihre Facebook-Seiten durchwühlt, das Umfeld, die Nachbarschaft ausgefragt. Bald geriet auch der Vater, ein Basler Imam, ins Visier.

Jedem Detail jagten die Redaktionen nach. Jede Kleinigkeit war eine neue Story wert. «Einen Schritt voraus sein», war der Motor dieser Entwicklung. Und dabei wurde komplett ausser Acht gelassen, dass es sich beim sezierten und skandalisierten Subjekt um zwei Minderjährige handelte, die nie die Öffentlichkeit gesucht hatten. Das ist eine gröbere Fehlleistung, eine schändliche zumal, weil sie keine Rücksicht darauf nimmt, dass in der Berichterstattung über Kinder und Jugendliche Zurückhaltung geboten ist.

Bald einmal wurde nach Verantwortlichen sprich Schuldigen gesucht. Dass es solche gab und diese festgenagelt gehörten, war spätestens dann unbestreitbar, als SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Schulleitung öffentlich tadelte. Von nun stand objektiv fest, dass jemand für den verweigerten Händedruck zweier Sekundarschüler den Kopf hinhalten muss. Dass es gesetzartige Regeln braucht mit ausgeklügelter Sanktionskaskade. Dass es Strafe braucht, hart und unverzüglich. Für Händedrücke oder eben keine.

Sexismus im Alltag interessiert nicht, jedenfalls niemals mit der im Fall Therwil erlebten Intensität.

Die Schuld wurde abwechselnd auf die Schultern des Schuldirektors und der Baselbieter Bildungsdirektorin Monica Gschwind geladen. Es spricht nichts dagegen, politische Verantwortung zu benennen und einzufordern. Im vorliegenden Fall kann man sich aber die Frage stellen, ob man nicht wenigstens für sich und seine Leser Alternativen durchdenken sollte. Wir leben in einer heterogenen Gesellschaft. Schulen und Lehrer haben längst gelernt damit umzugehen. Sie wissen, wann es ein Gespräch braucht, wann viele Gespräche, wann Sanktionen. Sie wissen auch, dass Einsicht in der Regel mehr bewirkt als die Demütigung durch Strafe. Und dass nicht jede mögliche Konfiguration von Ungehorsam juristisch verfolgt gehört.

Aber sie wissen nicht, dass all das nicht gilt, wenn der Islam im Spiel ist. Denn darum ging es im Kern dieser Geschichte, den Dutzenden, Hunderten Storys in der Schweiz und weltweit zum Händedruck von Therwil. Nicht die frauenverachtende Handlung war Gegenstand der Empörung, sondern die Begründung dieser Handlung. Sexismus im Alltag, strukturelle, jahrzehntelange Frauenmissachtung auf allen Ebenen, in der Schweiz gehört das fest zum Programm, interessiert nicht, jedenfalls niemals mit der im Fall Therwil erlebten Intensität.

Das so gefährliche wie dumme Wort der Leitkultur wurde wieder hochgeschwemmt. Und mit all dem befüllt, was gerade passte. Etwa mit dem Handschlag, als angeblich – das wurde mehrfach geschrieben – festem Bestandteil ebendieser Leitkultur. Die «Basler Zeitung» spann ihre Beweisführung im vielleicht krudesten aller Beiträge zum Thema bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurück. Von einer «seit Jahrtausenden genetisch verankerten Geste» fabulierte der Autor. Der Schluss daraus, selbstverständlich unausgesprochen: Was der Islam tut, ist wider die Natur.

Der Handschlag taugt nicht als Symbol. Dafür steht die Berichterstattung darüber für Aufwiegelung und Hetze.

Der Islam. Der Weg vom Handschlag bis zum Islam als solchem, und daraus abgeleitet zu den Gefahren, die muslimische Flüchtlinge für unsere Kultur bedeuten, war ein kurzer. In grundanständigen Feuilletons, etwa im «Bund» wurde vom Aufeinanderprallen der Gesellschaftsbilder als Folge der Migration gewarnt, davon dass damit ein rückständiges Frauenbild Einzug halte.

Wirklich? Der Islam? Bleiben wir doch, wo wir gerade auf Besuch in Therwil sind, im Baselbiet. Da gibt es kantonale Untersuchungen zur Religiosität der Bevölkerung. Die Erkenntnis: Der Anteil an Muslimen, die sich als nicht oder kaum gläubig bezeichnen ist ähnlich hoch wie bei christlichen Konfessionen.

Man kann, und hier zeigt sich das Aufwieglerische und bisweilen Hetzerische der Berichterstattung, den «Handschlag von Therwil» eben nicht als Kronzeugen gebrauchen, geschweige denn zum Symbol erheben: Ein verweigerter Handschlag steht für Frauenverachtung, steht für Islam, steht für Muslime, steht für muslimische Flüchtlinge. Eben nicht.

Man muss in dieser Geschichte relativieren. Relativieren tut man als Journalist eher ungerne. In diesem Fall bedeutet es aber: Der Realität gerecht zu werden. Monatelang fahndeten Journalisten nach weiteren islamistischen Verweigerern. Fündig wurden sie nicht. Die Schlagzeile in der Handschlag-Affäre von Therwil hätte folglich lauten müssen: «Muslimische Schüler bestens integriert – nur zwei stellen sich quer».

Eigentlich eine schöne Geschichte.

* Tatsächlich liegt ein Irrtum vor. Es erschienen im Mantelteil der «Basellandschaftlichen Zeitung», der von der «Aargauer Zeitung» bereitgestellt wird, mehrere Artikel zum «Schweizer Aufschrei». Bei der Recherche in der Mediendatenbank SMD wurde dies nicht berücksichtigt.

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