Die getwitterte Revolution

Die Demonstranten in der Türkei organisieren sich hauptsächlich über die sozialen Netzwerke Twitter und Facebook. Erdogan stört die Mobilfunknetze und verhaftet Personen, die im Internet «zum Aufstand aufrufen».

Die protestierenden Türkinnen und Türken organisieren sich hauptsächlich über Twitter und Facebook. (Bild: TOLGA BOZOGLU)

Die Demonstranten in der Türkei organisieren sich hauptsächlich über die sozialen Netzwerke Twitter und Facebook. Erdogan stört die Mobilfunknetze und verhaftet Personen, die im Internet «zum Aufstand aufrufen».

Zu den derzeit am fleissigsten in der Türkei über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreiteten Zeichenketten gehört der Hashtag «#resistanbul», eine Kombination aus resist (sich widersetzen) und Istanbul. Wie schon im arabischen Frühling ist jetzt auch für die Hunderttausenden Demonstranten, die in den türkischen Städten gegen die islamisch-konservative Regierung demonstrieren, das Internet das wichtigste Kommunikationsmittel.

Über soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook tauschen die Demonstranten Nachrichten, Aufrufe und Videos aus. Die Regierung reagiert mit Festnahmen: In der westtürkischen Hafenstadt Izmir habe die Justiz Haftbefehle gegen 38 Personen erlassen, die in sozialen Medien zum «Aufstand» aufgerufen oder «Propaganda» verbreitet haben sollen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. 25 Beschuldigte seien bereits festgenommen worden, nach weiteren 13 suchte die Polizei am Mittwoch noch.

«Soziale Medien sind eine schlimme Bedrohung.»

Tayyip Erdogan, türkischer Premier

Welche Bedeutung das Internet für die Protestbewegung hat, scheint auch Premier Erdogan nicht entgangen zu sein. Es gebe etwas, das sich Twitter nenne, erklärte Erdogan am vergangenen Sonntag in einem Fernsehinterview: eine «Plage». Dort würden «die grössten Lügen verbreitet».

Überhaupt seien die sozialen Netzwerke «die schlimmste Bedrohung», sagte der Premier. Nichts zeigt deutlicher als diese Äusserung, wie weit Erdogan inzwischen offenbar der Realität in seinem Land und insbesondere der Lebenswirklichkeit der jungen Türkinnen und Türken entrückt ist.

Die Verteufelung der sozialen Netzwerke überrascht aber auch deshalb, weil Erdogan selbst zwei Twitter-Konten unterhält, eines auf Türkisch mit 2,7 Millionen Followern und eines auf Arabisch (314.000 Follower). Auch auf Facebook ist Erdogan vertreten. Dort werden freilich nur staatstragende Parolen und vorteilhafte Bilder des Premiers verbreitet.

Polizei stört Mobilfunknetz

Schon am vergangenen Wochenende, als nach dem nächtlichen brutalen Polizeieinsatz gegen ein Zeltlager von etwa 50 Umweltschützern im Istanbuler Gezi-Park die Proteste aufflammten, habe die Polizei mit mobilen Störsendern, sogenannten «Jammern», das Mobilfunknetz in der Umgebung des Taksim-Platzes lahmzulegen versucht, berichten Augenzeugen. Zeitweilig scheint das Netz aber auch unter der Überlastung durch die vielen gesendeten Botschaften und Bilder zusammengebrochen zu sein.

Die Regierung Erdogan steht schon lange auf Kriegsfuss mit dem Internet. In den vergangenen Jahren liessen die staatlichen Aufsichtsbehörden zeitweilig mehr als 5000 «schädliche» Internetseiten sperren, darunter das Videoportal YouTube. Die Kommunikation über die sozialen Netzwerke ist jetzt für die Demonstranten deshalb besonders wichtig, weil sie sich von vielen Medien ignoriert fühlen.

Viele türkische Medien ignorieren Proteste

Tatsächlich zeigt nicht nur das Staatsfernsehen TRT bei Berichten über die Proteste allergrösste Zurückhaltung. Erdogans starker Arm scheint auch in die privaten Medienkonzerne hineinzureichen: Während der US-Nachrichtensender CNN International Live-Bilder von den Unruhen in Istanbul um den ganzen Globus verbreitete, sendete der örtliche Ableger CNN Türk eine Dokumentation über das Leben von Pinguinen. An einer Hauswand in Istanbul steht: «Diese Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen, sie wird getwittert.»

Auch nach einem Gespräch mit Vizepremier Bülent Arinc, der sich am Dienstag bei den Opfern des Polizeieinsatzes entschuldigt hatte, wollen die Initiatoren der Proteste ihren Kampf fortsetzen. Das erklärte gestern eine der führenden Initiativen, die Taksim-Plattform. Sie fordert unter anderem den Erhalt des Gezi-Parks und des Atatürk-Kulturzentrums am Istanbuler Taksim-Platz, die Entlassung der Verantwortlichen für die brutalen Polizeieinsätze, das Verbot des Einsatzes von Pfefferspray und die Freilassung aller festgenommenen Demonstranten.

Nach Angaben des türkischen Ärzteverbandes TTB wurden bei den Demonstrationen bisher 4100 Menschen verletzt, 43 von ihnen schwer. Nachdem bereits an den Vortagen zwei Demonstranten ums Leben gekommen waren, erlag gestern ein dritter junger Mann seinen Verletzungen. Er hatte bei einem Polizeieinsatz in Ankara schwere Kopfverletzungen erlitten.

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