Die grosse Abrechnung

Fünf Milliarden Franken werden Jahr für Jahr zwischen den Kantonen verschoben, um deren Finanzhaushalte ein wenig in Gleichschritt zu bringen. Bald geht es wieder los – das Gefeilsche, wer wie viel zahlt und wer wie viel erhält.

(Bild: Martina Senn)

Fünf Milliarden Franken werden Jahr für Jahr zwischen den Kantonen verschoben, um deren Finanzhaushalte ein wenig in Gleichschritt zu bringen. Bald geht es wieder los – das Gefeilsche, wer wie viel zahlt und wer wie viel erhält.

(Bild: Martina Senn)

Gegenseitiger Hass, ein gesunder Widerwille voreinander und gegenseitige Verachtung bilden die wahre, solide Grundlage der schweizerischen Demokratie und Neutralität.»

Was der ungarisch-britische Satiriker George Mikes schon vor vielen Jahren heillos überspitzt, aber in tiefer Bewunderung für unser Land auf den Punkt brachte, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn erstens, so Mikes, verbrauchen wir so unsere destruktiven Energien nach innen – wodurch wir nach aussen das friedfertigste Land der Welt sind; zweitens können wir mit der Zähmung dieser Energien im Inneren unsere beispielhafte Toleranz, unseren hohen Zivi­lisationsgrad und unsere demokratische Reife unter Beweis stellen.

Diese drückt sich etwa darin aus, dass die Schweizer viele Dinge zwar kontrovers diskutieren, Konflikte aber tunlichst vermeiden, indem sie Inte­res­sen entweder ausgleichen oder unumgängliche Entscheidungen durch Volksabstimmungen legitimieren und auch für die Verlierer erträglich machen.

Interessenausgleich durch Föderalismus

Wie auf politischer Ebene der in der Schweiz auf die Spitze getriebene Föderalismus für Interessenausgleich sorgt, hat die TagesWoche am Beispiel der Zweitwohnungs-Initiative dargestellt («Immer diese Bergler», Nr. 12/12), bei der für einmal die Bergkantone in der Minderheit blieben, während sonst meistens die urbanen Stände den Kürzeren ziehen.

Oder die Romands oder die Jungen oder die Rentner oder die Behinderten oder, oder, oder – in der Schweiz gibt es nämlich ausschliesslich Minderheiten, die stets in irgendeiner Weise benachteiligt sind und deshalb besänftigt werden müssen.

Auf wirtschaftlicher Ebene heisst eines der föderalistischen Besänftigungsprogramme «Finanzausgleich». Damit werden 4,7 Milliarden Franken pro Jahr zwischen den 26 Kantonen der Schweiz verschoben: rund 600 Franken pro Einwohner – und fast gleich viel, wie das Land für sein Militär ausgibt.

Erklärtes Ziel des Konzepts: Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Kantonen dürfen nicht allzu gross werden, weil ein zu steiles Wohlstandsgefälle den Zusammenhalt unter den Schweizer Regionen gefährden würde – und dadurch wohl eine noch grössere Binnenwanderung innerhalb des Landes stattfände. Deshalb werden mithilfe des Ausgleichstopfs die Unterschiede zwischen den kantonalen Haushalten teilweise ausgeglichen.

Im Sommer wird abgerechnet

Weil an einem Ausgleich alle beteiligt sind, sind auch alle unzufrieden – die einen, weil sie zu viel abgeben müssen, die anderen, weil sie zu wenig bekommen. Damit sich die Unzufriedenheit in Grenzen hält, hat sich der Gesetzgeber ein umfangreiches Regelwerk einfallen lassen, um die Entscheidungsprozesse und Berechnungsmethoden so unangreifbar wie möglich zu machen: vom Finanz- und Lastenausgleichsgesetz mit den dazugehörenden Verordnungen und Verfahrensvorschriften über die parlamentarischen und Expertengremien – bis nicht zuletzt zum Vernehmlassungsverfahren, in dem die Betroffenen die jeweils im Sommer erstellten Berechnungen für das kommende Jahr überprüfen und allfällige Korrekturwünsche anbringen können. Meistens halten sich die Änderungsanträge freilich in Grenzen.

Berücksichtigt wird zur Berechnung in erster Linie das «Ressourcenpotenzial» der einzelnen Kantone, worunter im Wesentlichen deren Steuereinnahmen zu verstehen sind – und zwar in einem jeweils über drei Jahre berechneten Durchschnitt. Die Daten hinken der Realität jeweils hinterher: Zur Berechnung des Ressourcenpotenzials für das Jahr 2012 etwa wurden die Steuerdaten der Jahres 2006 bis 2008 berücksichtigt. Mit dem Ergebnis, dass zum Beispiel die Zahlungsverpflichtung des Kantons Zürich massiv zurückging, weil sich für das Steueraufkommen 2008 die Finanzmarktkrise dieses Jahres erstmals bemerkbar machte.

Geben und Nehmen

Ob ein Kanton Nettozahler oder -empfänger ist, entscheidet sich am Ressourcenpotenzial pro Kopf der Wohnbevölkerung. Dieses beträgt im Durchschnitt für das laufende Jahr 29 633 Franken. Acht Kantone liegen über diesem Mittel und müssen also zahlen; 18 Kantone liegen darunter, bekommen also Zuwendungen. Ziel der Übung ist es, für alle Kantone mindestens 85 Prozent des schweizerischen Mittels zu erreichen.

Die zahlenden Kantone sind (in dieser Reihenfolge) Zug, Schwyz, Genf, Basel-Stadt, Nidwalden, Zürich, Waadt und Baselland. Alle anderen Kantone sind Nutzniesser des Geldsegens – ­allen voran und in dieser Reihenfolge die Kantone Uri, Jura, Glarus, Freiburg, Wallis und Graubünden. Die Zahlmeister sind also entweder Steuerinseln oder Kantone mit städtischen Ballungsgebieten; die grössten Nutzniesser sind Bergkantone.

Die Ermittlung des Ressourcen­potenzials ergibt allerdings erst die Basis für die Berechnung der Transferzahlungen unter den Kantonen. Um deren Höhe festzulegen, werden neben der Steuerkraft der Kantone auch geografische und soziodemografische Faktoren in Rechnung gestellt. Je höher die Siedlungen eines Kantons liegen, je steiler das Gelände ist, je dezentraler die Siedlungen angelegt sind und je geringer die Bevölkerungsdichte ist, umso grösser werden etwa die Ausgleichszahlungen für geografische Nachteile. Am meisten davon profitiert Graubünden mit einer Gutschrift von über 700 Franken pro Einwohner. Die Mittellandkantone gehen in dieser Hinsicht leer aus.

Basel-Stadt ist Profiteur

Mit den soziodemografischen Faktoren werden Sonderbelastungen berücksich­tigt, die vor allem städtisch geprägte Kantone betreffen. Der Anteil der Sozialhilfeempfänger, der über 80-Jährigen, der ausländischen Mitbürger führen zum Beispiel für die Kantone Genf und Basel-Stadt zu einer Gutschrift von über 160 Franken pro Kopf.

Ähnliches gilt für die Sonderbelastungen, die sich aus der Funktion von Kernstädten ergeben. Hier werden die durchschnitt­liche Siedlungsgrösse, die Beschäftigungsquote und die Siedlungsdichte in Rechnung gestellt. Davon profitiert Basel-Stadt mehr als alle anderen Kantone: Mit nur drei Gemeinden auf Kantonsgebiet ist die durchschnittliche Siedlungsgrösse sehr hoch.

Die Zahl der Beschäftigten macht dank Grenzgängern und Pendlern aus den Nachbarkantonen fast 85 Prozent der Wohnbevölkerung aus – das ist Schweizer Rekord. Und die Siedlungsdichte ist aus dem gleichen Grund höher als in jedem anderen Kanton. Daraus resultiert für Basel-Stadt eine Gutschrift von 100 Franken pro Einwohner.

Kein Grund zum Klagen

Was aus den Berechnungen mit diesen Faktoren resultiert und die Gemüter der Betroffenen mehr oder weniger erhitzt, ist ein Frankenbetrag pro Kanton. Wenn da, wie in diesem Jahr geschehen, der Kanton Bern erstmals die Milliardengrenze an Zuwendungen überschreitet, hebt der Spott auf der einen und die entsprechende Gegenwehr auf der anderen Seite an.

Zürich ziert sich damit, am meisten zu zahlen (428 Millionen Franken). Zug begründet seine gute Position als Nettozahler mit der erfolgreichen Steuerpolitik – was ja nicht falsch, aber eben nur auf Kosten anderer Kantone möglich ist. Die Berggebiete wiederum beklagen die Widrigkeiten ihrer Topografie (rechnen sich aber mit Steuervergünstigungen im Tourismus ihr Ressourcenpotenzial schlechter aus als nötig), die Städte stöhnen über die Last ihrer Zentrumsfunktionen (die aber ihrem Ressourcenpotenzial sehr guttun).

Und im Grunde wissen alle, dass es keinen wirklichen Grund zum Klagen gibt. Die Pro-Kopf-Zahlungen bleiben in allen Kantonen überschaubar. Die Verteilung auf Zahler und Empfänger ist nachvollziehbar. Das Verfahren ist so nahe an den Betroffenen wie möglich und wird in den meisten Ständen auch zum kantons­internen Finanz­aus­gleich zwischen den Gemeinden ­an­­ge­wendet. Es ist jedenfalls viel trans­pa­renter als die internationalen Umverteilungsmechanismen (etwa beim Inter­nationalen Währungsfonds oder in der EU). Und es ist ein Musterbeispiel für das Schweizer Verständnis von solidarischem Umgang miteinander und für die Rücksicht auf Minderheiten.

Dass man dennoch ausführlich daran herumnörgeln kann, wird die Zeit zwischen Sommer und Herbst 2012 zeigen: Dann geht nämlich die Finanz­ausgleichs-Vorlage für 2013 in die Vernehmlassung.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30.03.12

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