Unterdrückung durch Militärs, vor allem aber die täglichen Misshandlungen in der Ungleichbehandlung der extremistischen israelischen Siedler hat die Baslerin Lea Stahel in der grössten Stadt ders Westjordanlands, Hebron erfahren. Ein beeindruckender Augenzeugenbericht.
«In Hebron, das ist kein Leben. Es ist die Hölle. Es ist wirklich die Hölle». So beschrieb mir vor kurzem eine israelische Friedensaktivistin, eine ältere Frau namens Hanna Barag, die biblische Stadt Hebron, mit 175’000 Einwohnern eine der grössten Städte des Westjordanlandes. Das Westjordanland ist Teil des palästinensischen Gebietes, das seit 1967 von Israel besetzt wird. Mit Hannas Worten im Hinterkopf mache ich mich auf den Weg an diesen Ort.
Kurz vor Anbruch des nächsten Tages. Ich befinde mich am Checkpoint 56, einem der offiziell 122 «physischen Hindernisse» in Hebron. Dieser Checkpoint ist einer der wenigen Orte, an denen die Hauptfiguren des ganzes Israel-Palästina Konflikts täglich aufeinandertreffen: israelische Soldatinnen, Palästinenser und israelische Siedler. Die zwei jungen Soldaten am Checkpoint – merklich gelangweilt von ihrer monotonen Arbeit – kontrollieren Identitätskarten und Taschen von Palästinensern. Diese lassen die Kontrollen, wie jeden Tag, mit verdriesslichen Gesichtern über sich ergehen.
Was bleibt ihnen auch übrig, im Angesicht eines M16-Maschinengewehrs. Von Zeit zu Zeit fährt ein Auto mit israelischen Siedlern vorbei, die Insassen sind erkennbar an den Ringellöckchen und Kippas, den jüdischen Kopfbedeckungen. Der Interaktionskreis schliesst sich, indem Siedler bekanntermassen nicht nur Palästinenser, sondern auch Soldaten belästigen und attackieren.
Gezählte positive Interaktionen in diesem Triangel: Null.
Yes, the world is watching… (Bild: Lea Stahel)
Lehrern und Lehrerinnen einer nahen Schule war es vom Militär eine Zeit lang erlaubt worden, direkt durch das Gatter am Checkpoint zu passieren. Der Grund? Nach dem Motto «Wir sind Lehrer, keine Terroristen» hatten sie sich aus Prinzip geweigert, jeden Tag den Checkpoint mit den Metalldetektoren zu durchqueren. Für Lehrer, die als Respektspersonen gelten, sei der Gang durch den Checkpoint zu entwürdigend. Nach dem Wechsel der Armeeeinheit wurde das Abkommen jedoch wieder aufgehoben.
H1 und H2
Hebron stellt den ganzen Israel-Palästina Konflikt auf engstem Raum komprimiert und am gewaltsamsten dar. Während das ganze Westjordanland in Areal A (unter palästinensischer Kontrolle), B (palästinensische und israelische Kontrolle), und C (unter israelischer Kontrolle) aufgeteilt ist, wurde die Stadt Hebron 1997 in zwei Teile unterteilt: H1 und H2. H1 ist unter palästinensischer Kontrolle, H2 unter israelischer. In H2 leben 30’000 Palästinenser.
Zusätzlich wurden seit Beginn der Besetzung 1967 immer mehr Teile von H2 von israelischen Siedlern besetzt und in jüdische Viertel oder sogenannte Siedlungen transformiert. Heute leben ca. 500 bis 700 ultra-orthodoxe israelische Siedler in H2. Zusätzlich wurden 1500 bis 2000 israelische Soldaten in H2 stationiert, offiziell zum Schutz dieser Siedler. Diese Provision von Schutz ist nach internationalem humanitärem Recht jedoch illegal. Es ist einer Besatzungsmacht verboten, die eigene Bevölkerung in besetztes Gebiet zu transferieren oder sie dabei zu unterstützen.
(Bild: Lea Stahel)
Viele Palästinensische Schulkinder müssen täglich zwei Mal Checkpoint 56 passieren. (Bild: Lea Stahel)
Meine Augen suchen die Häuser oberhalb des Checkpoints ab. Ich treffe den Blick eines Soldaten, der auf dem Balkon eines übernommenen palästinensischen Hauses Stellung bezogen hat. Konstante militärische Präsenz ist in H2 zentral – laut ehemaligen Soldaten ist dies eine Form der Kontrolle, um die lokale Bevölkerung davon abzuhalten, die existierende Militärmacht anzufechten. Dazu würden auch willkürliche nächtliche Hausdurchsuchungen in palästinensischen Häusern gehören.
Militärpräsenz überall (Bild: Lea Stahel)
Dies halte die Wahrnehmung von Ausgeliefertsein auf Seiten der Palästinenser und von Sicherheit auf Seiten der Siedler aufrecht. Mir wird erzählt, dass vor kurzem auch das Haus der internationalen Aktivistengruppe ISM durchsucht wurde. Auf die Frage, wieso ihr Haus durchsucht würde, bekamen sie von einem Soldaten die Antwort: «To stay in shape».
Die Radikalisierung geht nicht zuletzt von den Siedlern aus (Bild: Lea Stahel)
Hebron ist bekannt dafür, dass hier die extremsten der extremen Siedler leben: jüdische, politisch radikal rechte Israelis, Chardalim genannt. Sie sind gewaltsamen Mitteln, milde ausgedrückt, nicht abgeneigt. Palästinensische Schulkinder waren in der Vergangenheit ein beliebtes Ziel ihrer Belästigungen und Attacken.
Durch ihre religiöse Motivation begründen sie den Anspruch auf das Land als gottgegeben (da in Hebron das Grab Abrahams liegt, ist die Stadt für Juden wie auch Muslime heilig). Diese aggressiven Siedler wurden auch schon von israelischer Seite selbst kritisiert. Sie gelten als unberechenbar – zwei Tage vor meiner Ankunft bekam meine schwedische Teamkollegin eine Kostprobe davon: eine Siedlerin hielt mit ihrem Auto vor ihr, stieg aus, schrie sie in Hebräisch an und beschimpfte sie als ‚Nazi‘.
Ungleiche «Spiesse»
Ein weiteres Problem ist der Doppelstandard bei der Behandlung von Siedlern und Palästinensern: In palästinensischen Häusern in H2 ist der Besitz grosser Küchenmesser nicht erlaubt – daher wird das Fleisch in den Shops oft schon gestückelt verkauft. Gleichzeitig ist es jedoch Siedlern erlaubt, in der Öffentlichkeit mit Maschinenpistolen herumzuspazieren. Ein Samstagsspaziergang der Siedler-Familie, den Kinderwagen schiebend und gleichzeitig eine Angst einflössende MP um die Schulter gehängt, ist kein seltener Anblick.
Gewalt hat es dagegen auch auf palästinensischer Seite gegeben; im Sommer 2010 beispielsweise bekannte sich die Hamas zu einer Attacke, in der vier israelische Siedler getötet wurden. Recht wird jedoch nur selektiv durchgesetzt: Palästinenser müssen aufgrund leichteren Gewalttaten mit langen Gefängnisstrafen rechnen. Im Gegensatz dazu wurden laut der UN über 90 Prozent aller Anzeigen, die von Palästinensern bezüglich Siedler-Gewalt gemacht wurden, ohne Anklage geschlossen.
Taschenkontrolle eines Palästinensers am Checkpoint 56. (Bild: Lea Stahel)
Schon mancher Soldat kam in Hebron in einen Gewissenskonflikt. «(…) Nach kurzer Zeit begann ich zu realisieren, dass ich (in Hebron) viel mehr damit beschäftigt war, Araber vor jüdischen Siedlern zu beschützen und nicht jüdische Siedler vor den Arabern». Dies ist das Zeugnis eines ehemaligen Soldaten der israelischen Organisation ‚Breaking the Silence‘. Obwohl die Soldaten die Siedler beschützen müssen, haben viele von ihnen ein ambivalentes oder gar ablehnendes Verhältnis zu den Siedlern.
Ich kehre Checkpoint 56 den Rücken und gehe die Shuhada Street entlang. Palästinenser dürfen hier nur zu Fuss gehen, währenddessen die Siedler in Autos vorbeifahren. Wie die Palästinenser schwere Güter jeglicher Art in ihr Haus schleppen sollen, ist ihnen überlassen. Viele andere Strassen sind exklusiv reserviert für Siedler; Palästinensern wird die Benutzung verwehrt. „Sterile Zonen“ werden diese Areale auch genannt.
Durch die Sperrung vieler Strassen für Palästinenser dürfen diese die Eingangstüre an ihrer Strasse nicht mehr benützen; so sind sie gezwungen, sich tagtäglich über die Dächer benachbarter Gebäude ihren Weg nach Hause durchzuschlagen.
Andere Strassen können Palästinenser nur benutzen, wenn sie Anwohner dieser Strasse sind; Bewilligungen werden an den vielen Checkpoints überprüft. Gäste von ausserhalb sind nicht erlaubt. Manche Familienzusammenkünfte scheinen daher ähnlich aufwendig wie die Beantragung der Staatsangehörigkeit in einem fremden Land.
Shudada Street. (Bild: Lea Stahel)
Durch diese schwere Restriktion der Bewegungsfreiheit der Palästinenser «geniessen» die jüdischen Siedler eine praktisch komplette Trennung von ihren palästinensischen Nachbarn. Dieses Prinzip der Separation sollte laut dem Militär u.a. Gewalttaten, wie frühere Massaker an Juden (1929) und Palästinensern (1994) in Hebron, verhindern.
Die Folgen der israelischen Besiedelung Hebrons sind in der Altstadt von H2 am heftigsten spürbar. Wo vor der Besatzung 1967 noch einst ein lebendiger Markt und viele Läden das Leben Hebrons füllten, laufe ich nun durch eine Geisterstadt, ein Stadt-Wrack. Hunderte, wenn nicht tausende palästinensische Einwohner in H2 wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und ihre Läden zu schliessen. All diese repressiven Massnahmen für 30’000 Palästinenser wurden von Israel mit dem Schutz von 500 israelischen Siedlern begründet. Für die Palästinenser in H2 jedoch bedeuten sie die Zerstörung ihres sozialen Lebens und ökonomischer Grundlage, in ihrer eigenen Heimatstadt.
Willkommen in der Apartheid-Strasse. (Bild: Lea Stahel)
Manche Stimmen nennen es Apartheid, andere bestreiten dies heftig, Dritte behaupten, es sei noch viel schlimmer als Apartheid. Unabhängig von der Terminologie ist jedoch Fakt, dass auf Teilen der Shuhada Street auf der einen Strassenseite nur Palästinenser, auf der anderen nur jüdische Siedler gehen dürfen. Abgetrennt durch einen 1 Meter hohen Betonwall. Um meiner vorgenommenen unvoreingenommen Annäherung an diesen Ort gerecht zu werden, laufe ich kurz auf der Strassenseite der Siedler, hüpfe schlussendlich aber über den Betonwall zur palästinensischen Seite.
An diesem Checkpoint dürfen die Palästinenser kurz die Strassenseite der Siedler überqueren. (Bild: Lea Stahel)
Der Zugang zu den verschiedensten Arealen der Stadt kann von Moment zu Moment verwehrt werden. Angegebene Gründe des Militärs: «Closed military zone» oder «Military order». Auch beliebt ist das unbestimmte und daher oft benutzte «For security reasons», mit dem sich so ziemlich jede Handlung rechtfertigen lässt. Mit diesem Vorwand wurden in der Vergangenheit tage-, wie auch wochenlange Ausgangsperren für die Palästinenser oder das Schliessen von palästinensischen Läden gerechtfertigt.
In einer engen, lebendigen Gasse in der Altstadt ist beim Teetrinken in einem palästinensischen Laden die gewaltaufgeladene Umgebung schon fast verdrängt. Doch dann richtet sich mein Blick nach oben: in 3 Metern Höhe ist die Gasse auf ganzer Länge mit einem Netz aus Maschendraht versehen. Dieses wurde angebracht, da Siedler viele obere Stockwerke der Palästinenser-Häuser übernommen hatten und nun undefinierbaren Abfall, Steine, manchmal auch Fäkalien oder giftige Flüssigkeit in die Gasse werfen, wo Palästinenser sich bewegen.
Der Tag ist zu Ende. In den Strassen Hebrons spaziere ich zwischen einem mich umgebenden existentiellen Kampf ums Dasein – von Glaube, Zerstörung von Würde und Integrität, physischer und psychologischer Gewalt, Erniedrigung, durch Metalldetektoren und separierte Strassen, deren Wandgraffitis Identitäten nicht strenger definieren und exkludieren könnten – inmitten von unzähligen individuellen Tragödien, sowohl auf palästinensischer, als auch auf Seiten israelischer Siedler.
Eine erstarrte Hölle
Nun, war es wirklich die Hölle? Was ich sehe, höre, fühle: Eine erstarrte Hölle, ein stilles, eingespieltes Schlachtfeld um Land. Nun habe ich mit meinen Augen gesehen, aber mein Kopf begreift noch immer nicht – eine für mich surreale, absurde, befremdende Realität. Und gleichzeitig die Gewissheit, dass dieser Status von Separation und das Level von Bedrohung für viele Menschen in Hebron alltäglich ist.
Trotz allem: Auch hier treffe ich auf Freude am Leben, Herzlichkeit und grosszügige Gastfreundschaft. Plötzlich stelle ich mit leichtem Schrecken fest, dass die Wiederkehr ähnlicher Orte, Geschichten, und Realitäten von Leiden und Gewalt verschiedenster Formen auch meine Emotionen allmählich verblassen lässt.
- Lea Stahel berichtet in ihrem Blog «Walls of Tears and Joy» aus der Westbank.