Für die Bevölkerung in Syrien hat sich die Lage dramatisch verschärft. In den Flüchtlingslagern verhungern Menschen, weil das Regime Lebensmittellieferungen unterbindet.
Die humanitären Folgen des Bürgerkriegs in Syrien haben sich für die Bevölkerung im vergangenen Jahr stark verschärft. «Heute gibt es viermal mehr Flüchtlinge als noch vor einem Jahr», sagte Nigel Fisher, regionaler Leiter des UNO-Koordinationsbüros für humanitäre Hilfe (OCHA) in Kuwait.
In Syrien sind 9,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, 6,5 Millionen von ihnen sind durch die Kämpfe innerhalb des Landes vertrieben worden. Die Hilfsorganisationen erreichen aber längst nicht alle. «In erster Linie helfen die Syrer ihren Mitbürgern selbst, Hunderttausende Familien haben ihre Türen für die Vertriebenen geöffnet», sagte Fisher.
Heute leben 2,3 Millionen syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern. Viele Ortschaften, vor allem in Jordanien und Libanon, sind nach den Worten von Fisher selbst unter Druck geraten. Die Syrer drängen dort als Konkurrenten auf den Arbeitsmarkt, es gibt zu wenige Schulen und die Gesundheitsversorgung ist überlastet. Deshalb hat die UNO dieses Jahr erstmals auch die Gastgemeinden in Syriens Nachbarländern in ihrem Spendenaufruf von 6,5 Milliarden Dollar eingeschlossen. Es ist der grösste Aufruf für eine einzelne Krise seit die Organisation besteht.
2,4 Milliarden Unterstützung zugesagt
Jordanien und die Türkei haben je mehr als eine halbe Million syrische Flüchtlinge aufgenommen und Libanon mit seinen nur vier Millionen Einwohnern bietet 833’000 Syrern Unterkunft. An der Geberkonferenz am Mittwoch sagten die UNO-Mitgliedstaaten in Kuwait 2,4 Milliarden Dollar zu. Der restliche Betrag soll während des Jahres gesprochen werden. Allein 2 Milliarden Dollar des Spendenaufrufs der UNO werden für die Lebensmittelhilfe in Syrien eingesetzt. Eine Milliarde umfasst ein Projekt unter Leitung des Uno-Kinderhilfswerks Unicef zum Ausbau von Schulen in Syrien und den Nachbarländern. Das Projekt soll verhindern, dass die Kinder und Jugendlichen zu einer «verlorenen Generation» werden.
Auch die Palästinenser in Syrien dürfen nicht vergessen werden, betonte Fisher. 400’000 von ihnen seien heute vom Bürgerkrieg betroffen, unter anderem im Flüchtlingslager Jarmuk von Damaskus, das von Regierungstruppen umzingelt ist. Dort sind nach Angaben der UNO-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge UNRWA in den vergangenen Wochen mindestens 15 Menschen verhungert.
Von den 20’000 verbliebenen Lagerbewohner leiden vor allem Kinder unter Mangelernährung. Viele leben laut UNRWA nur von alten Gemüseresten und in Wasser aufgelösten Gewürzen. Das Welternährungsprogramm (WFP) hat seit Monaten keinen Zugang zu Jarmuk, obwohl die UNO-Organisation diesen wiederholt bei der Regierung verlangt hat. Bei ihrem Besuch vergangene Woche in Syrien hätten ihr die Behörden versichert, sie setzten sich ebenso wie das WFP dafür ein, dass niemand in Syrien hungere, erzählt WFP-Direktorin Ertharin Cousin.
Die Regierung von Machthaber Baschar al-Assad setzt Hunger als Kriegswaffe ein.
Man habe ihr gesagt, dass das WFP dazu weiterhin mit den Behörden zusammenarbeiten müsse. «Wir werden sie beim Wort nehmen», betonte Cousin. Die UNO-Organisationen dürfen in einem Land nur mit dem Einverständnis der Regierung humanitäre Hilfe leisten, das hat eine Resolution der UNO-Generalversammlung 1991 festgelegt. Diese Hilfe ist in Syrien längst zum Politikum geworden.
Die Regierung von Machthaber Baschar al-Assad setzt Hunger als Kriegswaffe ein. Das Regime behindert die Lieferung von Lebensmitteln und anderen Hilfsgütern in Gebiete unter Kontrolle der Opposition und verweigert sie in den belagerten Städten oder Stadtteilen in und um Damaskus sowie andernorts wie in Homs. Hunderttausende Menschen leben laut Fisher in belagerten Ortschaften. Zwei Städte im Norden sind von Rebellen eingeschlossen.
Am 2. Oktober forderte der UNO-Sicherheitsrat in einer rechtlich nicht bindenden Erklärung – Russland blockierte eine schärfere Resolution – die Regierung in Damaskus auf, unverzüglich auch grenzüberschreitende Transporte von Hilfsgütern zuzulassen. Im Dezember erlaubte Damaskus eine erste Luftbrücke mit Hilfsgütern von Erbil im Irak nach Hassakeh im kurdischen Nordosten Syriens.
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) arbeitet in den Gebieten unter Kontrolle der Opposition. Daher ist sie von der syrischen Regierung nicht anerkannt. MSF forderte von den Staaten, die in den Syrien-Konflikt involviert sind, die Kontrolle der syrischen Regierung über die Verteilung der Hilfsgüter zu stoppen. Aber nur eine Resolution des in der Syrienfrage zerstrittenen UNO-Sicherheitsrats könnte dem Regime die Kontrolle tatsächlich entziehen.
«Wir können nicht auf eine politische Lösung warten.»
«Wir hoffen, dass der Zugang zu den Notleidenden in Syrien für die humanitäre Hilfe kommende Woche an der Friedenskonferenz in Montreux und Genf ein Thema ist», sagt Fisher. «Internationale Abkommen wie die Genfer Konventionen verlangen, dass kämpfende Parteien keine Zivilisten töten, keine Spitäler angreifen und den Zugang für humanitäre Hilfe erlauben.» Es sei auch ein Zeichen des guten Willens, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren, während Konfliktparteien über Frieden verhandelten.
Eine WFP-Sprecherin sagte dagegen: «Wir können nicht auf eine politische Lösung warten.» Das WFP hat seine Lebensmittelhilfe in Syrien für 3,8 Millionen Menschen im Dezember auf 4,25 Millionen im Januar ausgeweitet. Zwei Provinzen, Deir al-Zor im Osten und Rakka im Norden, waren im Dezember dafür jedoch nicht zugänglich.
Aber selbst wenn die Regierung Lebensmittellieferungen erlaubt und deren Verteilung trotz den Kämpfen auch möglich ist, gibt es noch viele Hindernisse zu überwinden. So zum Beispiel die täglichen zeitraubenden Verhandlungen an den vielen Checkpoints von Regierungstruppen und Aufständischen.
In Syriens Nachbarländern stellt das WFP den Flüchtlingen eine Art Kreditkarte zur Verfügung, mit der die Menschen in bestimmten Läden selbst Nahrungsmittel kaufen können. Das erspart den Hilfsorganisationen grosse logistische Operationen und die Flüchtlinge müssen nicht Schlange stehen. Im letzten Jahr hat das WFP auf diese Weise nach eigenen Angaben 300 Millionen Dollar in die Wirtschaft der Nachbarländer eingespiesen.