Immer mehr indigene Ecuadorianer kämpfen im Tessin als Wanderarbeiter um eine Zukunft. Sie leben auf dem Parkplatz einer Autobahnraststätte und versuchen, auf Märkten ihre Produkte zu verkaufen.
Als Marcelo Montalvo das Handy aus der Tasche zieht, fallen die ersten Regentropfen. Die Männer suchen Schutz unter den Bäumen. Montalvo murmelt etwas auf Quechua ins Telefon – es hört sich wie ein Quängeln an. Er sucht noch einen Mitspieler, damit sie ihr Volleyballspiel austragen können, bevor das schlechte Wetter wie angekündigt Bellinzona erreicht.
«Die Regentage sind fürchterlich», sagt Montalvo auf Spanisch, als er das Telefongespräch beendet hat. Montalvo: ein hagerer 26-Jähriger, der schon viel mitgemacht hat, ein Otavalo-Indianer aus Ecuador, der ins Tessin gekommen ist nicht für eine bessere Zukunft, sondern überhaupt für eine Zukunft. «Was hast du für eine Zukunft, wenn du tot bist?», fragt er einmal.
Bei solchem Wetter aber lässt sich nicht vernünftig Volleyball spielen, geschweige denn arbeiten – also in keinem Fall Geld verdienen. Fünf bis zehn Franken beträgt der Einsatz pro Person für ein Spiel, ein Tagesverdienst. Beim Volleyball gewinnt einer nur, wenn der andere verliert, aber so hat wenigstens einer Erfolg.
In Spanien «gibt es nichts mehr»
In ihrer Arbeit gewinnt seit einigen Jahren keiner mehr, seit immer mehr Ecuadorianer aus Spanien ins Tessin kommen, um hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie sind viele geworden, die auf den Märkten Armbänder verkaufen und vor den Einkaufszentren Musik machen. Gegen 100 Ecuadorianer kommen an schönen Tagen aus dem ganzen Tessin auf der Autobahnraststätte Bellinzona Süd zusammen, wo es einen weiten Umschwung hat, eine Spielwiese und einen Bach, um die Kleider zu waschen.
Die Raststätte ist Montalvos zweite oder vielmehr dritte Heimat geworden; er lebt in einem Auto auf dem Parkplatz. Ein paar Monate bleibt er jeweils, dann fährt er wieder nach Spanien zurück, zu seiner Freundin und seinen beiden Kindern. Seit zehn Jahren unternimmt er die Reise, zuletzt häufiger, weil es in Spanien «nichts mehr gibt», wie Montalvo sagt. Niemand kauft ihr Kunsthandwerk, und in der Landwirtschaft und auf dem Bau sind alle Stellen besetzt, seit auch die Spanier, von der Arbeitslosigkeit getrieben, in die untersten Jobs drängen.
150 bis 200 Franken verdient Montalvo im Monat, zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. So kann er seiner Familie kein Geld nach Spanien schicken und kein Geld sparen, um nach Ecuador zurückzukehren und den Traum zu verwirklichen, den auf der Autobahnraststätte Bellinzona Süd alle hegen: ein eigenes Haus zu bauen und etwas Geld beiseitezulegen für die Ausbildung der Kinder, damit die nicht Armbänder knüpfen müssen und in äusserster Not durch Europa streichen.
Vom Plus- zum Minuspol
Elsa Ramos wollte nie nach Europa. Ihr Vater nahm sie als Neunjährige mit, tourte mit ihr durch Spanien von Markt zu Markt. Er kam wie Zehntausende andere Otavalos in den 1990er- Jahren aus Ecuador nach Spanien, ausgestattet mit leicht erhältlichen Visa und der Hoffnung auf ein Auskommen. Sie wanderten aus, weil in Ecuador der Dollar als Währung eingeführt worden war und sich das Leben massiv verteuert hatte.
Bis zur Wirtschaftskrise war das Leben in Spanien für die Migranten zumindest kein schlechtes. Wer genügend Geld vorweisen konnte, erhielt eine Niederlassungs- und Arbeitsbewilligung. Sie konnten die Kinder auf spanische Schulen schicken. Und wer hart arbeitete, hatte die Aussicht auf eine erfolgreiche Rückkehr. So funktionierte der transatlantische Arbeiterstrom, vom Minus- zum Pluspol – und nach der Aufladung wieder zurück. Als Spanien aber ins Taumeln geriet, ist dieser Fluss zum Erliegen gekommen.
Jetzt ist Elsa Ramos 21 Jahre alt, und sie hat längst gemerkt, dass sie am Minuspol festhängt. Aber sie hat sich vorgenommen zu kämpfen, was man vielleicht an ihren schwarzen, neugierig funkelnden Augen sehen kann. Es sind andere Augen als jene der Männer, die oft stumpf erscheinen.
Sie hat sich eine Schweizer Freundin gesucht, die ihr einen Italienischkurs vermittelt hat. Nun will sie Deutsch lernen. «Kennt ihr jemanden, der Spanisch und Deutsch kann?», fragt sie und verspricht: «Wenn ich mich mit ihm einen Monat lang 24 Stunden einschliesse, kann ich Deutsch sprechen.» Sie denkt an eine Wohnung in der Schweiz, an eine geregelte Arbeit. Doch sie hat realisiert: «Es ist unmöglich, eine Chance zu bekommen.» Also hat sie ihre Freundin gebeten, bei Wochenmärkten anzurufen und zu fragen, ob sie ihre Produkte verkaufen kann.
Selbst bei einer Zusage kommt es oft vor, dass ein anderer Anbieter die Polizei anrufe und sie gehen müsse, weil sie keine Bewilligung hat. Die Denunzianten seien andere Otavalos, die es geschafft haben; die in der Schweiz leben und die nicht viel übrig haben für ihre Not leidenden Volksleute. Elsa Ramos sagt es mit einem stillen Lachen, wie es auf dem Parkplatz in Bellinzona Süd oft zu sehen ist.
Unsichtbar leben im Auto
Der drohende Regen hat sich nochmals verzögert. Marcelo Montalvo hat seine Mannschaft zusammen. Das Spielfeld haben sie genau ausgemessen und mit geflochtenem roten Garn begrenzt. Der Rasen ist ausgetreten, sie spielen oft. In den Gesichtern steht eine Mischung aus Unbeschwertheit und Ehrgeiz. Es ist schon ernsthaft – es gibt etwas zu gewinnen. Nach dem Spiel packen die Männer das selbst gemachte Netz und die Abfälle wieder ein.
Die Otavalos von Bellinzona leben fast unsichtbar; die Autos und Lieferwagen, in denen sie kochen und schlafen, könnten von Reisenden stammen. Wie es drinnen ausschaut, bleibt privat. Man soll nichts Schlechtes denken. Nur vor drei Jahren kam es zu einem Zwischenfall, als ein Onkel Montalvos im Auto fernsah – bei laufendem Motor, ohne zu merken, dass die Abgase ins Innere sickerten. Ein stiller Tod ohne viel Aufsehen.
Die Polizei lässt sie gewähren, auch wenn sie länger als die gesetzlich festgelegten drei Monate hier sind. Weil sie niemandem zur Last fallen, weil sie keine Unterstützung verlangen, weil sie niemandem die Arbeit wegnehmen. Man könnte sagen: weil sie sich in ihre Not fügen. Die Polizei wisse, sagt Montalvo, dass sie ehrlich für ihr Geld arbeiten würden und keine kriminel-len Sachen anstellen. Eine Frage der Kultur.
Die Kinder auf der DVD
Auf der Böschung neben dem Spielfeld, wo es zur Raststätte hochgeht, wo die Familien auf der Rückreise aus dem Süden die Kinder nochmals zur Toilette schicken, bevor es durch den Gotthard geht – hier sitzt Estella Morales. Sie hat dem Volleyballspiel zugesehen. Es ist kühl geworden und sie wickelt sich eine Decke um die Schultern.
Morales (42) lebt alleine in «Bellinzona Süd». Seit einem Jahr schläft sie auf der Rückbank eines kaum mehr fahrtüchtigen roten Ford Escorts. Ihre beiden Töchter gehen im spanischen Malaga aufs Gymnasium; sie sind bei einer Verwandten untergekommen. Manchmal kann Estella ein paar Euros runterschicken. Ihr Mann ertrug es in Spanien nicht mehr. Er ist nach Ecuador zurückgekehrt.
Estella hat ein warmes Gesicht, eine weiche Erscheinung, ein herzliches Lachen. Sie erzählt offen von ihrem Leben. Nur auf die Frage, wie sie es aushält, getrennt zu sein von den Kindern und vom Ehemann, ohne Aussicht auf eine Zukunft, antwortet sie nicht. Sie lächelt still und geht zum Parkplatz zurück.
Später sitzt sie mit einer Freundin im Escort und schaut auf einem batteriebetriebenen Gerät eine DVD. Auf dem Bildschirm läuft eine Diashow. Ein fröhliches Kind beim Spielen am Fluss, auf der Schaukel, schlafend, getragen von kräftigen Frauenarmen, posierend am ersten Schultag.
Endlich tost der Regen aus den Wolken, die sich den ganzen Tag lang im Tal aufgeladen haben; flutartig überspült das Wasser den Parkplatz. Estella Morales kurbelt die Seitenfenster hoch, zieht die Decke um den Hals und schaut auf dem kleinen Bildschirm ihrer Nichte beim Grosswerden zu.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.06.12