«Die islamistischen Kämpfer sind keine Syrer»

Der Pluralismus in Syrien war immer Anlass für Stolz. Im Konflikt aber kompliziert er die Lage, sagt der 44-jährige Syrer Nawras Sammour. Er leitet den Flüchtlingsdienst der Jesuiten für Syrien, Türkei, Libanon und Jordanien. Ein Gespräch über den Alltag im Bürgerkrieg.

Der syrische Christ Pater Nawras (zweiter von rechts) unter Freunden. Er leitet den jesuitischen Flüchtlingsdienst in Syrien. (Bild: zvg)

Der Pluralismus in Syrien war immer Anlass für Stolz. Im Konflikt aber kompliziert er die Lage, sagt der 44-jährige Syrer Nawras Sammour. Er leitet den Flüchtlingsdienst der Jesuiten für Syrien, Türkei, Libanon und Jordanien. Ein Gespräch über den Alltag im Bürgerkrieg.

Wenn Nawras Sammour nicht gerade während des Gesprächs eine seiner vielen Zigaretten raucht, hält er oft seine Hände ineinander gefaltet im Schoss.

Pater Nawras Sammour, Leiter des Jesuit Refugee Service Syrien, hält heute, 8.11. 2012, ein Referat über seine Arbeit und die Lage in Syrien in Basel: Katholische Universitätsgemeinde, Herbergsgasse 7, 4051 Basel, 20 Uhr.

Sammour ist Jesuit und damit als Ordensmitglied Teil der kleinen christlichen Minderheit in Syrien, in dem Sunniten und Alawiten den weitaus grössten Teil der Gesellschaft ausmachen. Um Religion geht es in seiner Arbeit jedoch nur am Rande, seit im März 2011 die Bevölkerung der Stadt Dara’a im äussersten Südwesten Syriens gegen die korrupte Wirtschaftspolitik des Landes zu protestieren begann, inspiriert von den Bewegungen in Tunesien, Ägypten und Libyen, und nach der gewaltsamen Reaktion der Regierung ein Bürgerkrieg ausbrach, der bis heute andauert.

Sammour, Regionalleiter des Jesuit Refugee Service JRS, hat sein Zentrum in Damaskus, aber seither reist er viel umher, während das Handy stets am Ohr bleibt – nach Homs und in den Libanon, in die schwer beeinträchtigte Stadt Aleppo und ins Ausland. Gegenwärtig besucht Sammour die Jesuitenzentren mehrerer europäischen Länder, darunter auch die Schweiz, um mit den Partnern des JRS die Hilfeleistungen zu besprechen, sich für die Solidarität zu bedanken und Interviews über die Lage vor Ort zu führen. «Der Aspekt des sozialen Engagements, der im Christentum sehr ausgeprägt ist, hat mich immer stark angezogen», sagt Sammour. «Bei den Jesuiten kommt noch die internationale Dimension hinzu.» Man könne viel bewegen in seiner Position, sagt er.

Pater Sammour, Sie sind Regionalleiter des Jesuit Refugee Service in Syrien. Ein Christ. Spielt das vor Ort eine Rolle?

Nawras Sammour: Nein. Ich bin seit 2010 für die Region zuständig, aber ich bin hier geboren. Das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen war in Syrien immer exzellent. Syrien ist eine pluralistische Gesellschaft und blieb von Spannungen zwischen den Gemeinschaften verschont. Die gegenseitige Toleranz hat unsere Arbeit natürlich stets erleichtert – und auch heute stellen religiöse Unterschiede keine Hindernisse dar. Wir haben genug andere Probleme.

Islamistische Kämpfer, die in Syrien operieren, sehen das wohl anders?

Das sind keine Syrer. Diese Kämpfer stammen aus Afghanistan, Nordafrika oder von der arabischen Halbinsel. Ich weiss nicht, ob ein Afghane für die Vorstellung empfänglich ist, dass eine einheimische christliche Gemeinschaft von Anfang an integraler Teil der Gesamtgesellschaft war. Aber die Syrer hegten immer ein pluralistisches Selbstverständnis. Dass hier verschiedene Denominationen die Gesellschaft gleichermassen prägten, bot Anlass zu stolz.

Wie hat sich Ihre Arbeit seit dem Krieg verändert?

Das kann man nicht vergleichen. Bis 2011 war Nothilfe kaum unsere Aufgabe, sondern Erziehung und psychologische Programme, Familienbesuche, Beratung in der Emigration, Kursangebote, alles vornehmlich für Menschen aus dem Irak. Heute ist alles anders, und Nothilfe für die syrischen Flüchtlinge das Wichtigste. Längerfristige Planung ist kaum mehr möglich, Flexibilität umso notwendiger.

«Syrien war immer stolz auf seine pluralistische Gesellschaft»

In Aleppo haben wir ein Zentrum für Kinder aufgebaut. Es wurde dreimal bombardiert, das letzte Mal vor zwei Monaten, nun ist es unbenutzbar. Sowas muss man bedenken und immer einen Plan B und C bereithalten. Ebenfalls in Aleppo hatten wir eine Küche, die täglich 5000 warme Mahlzeiten liefern könnte. Dann fielen Bomben, die Küche war zerstört. Kurz darauf haben wir einen besseren, grösseren Ort gefunden, in der Nähe des Lebensmittellagers, um die Küche wieder aufzubauen. Nun können wir dort wieder kochen und die Versorgung auf 10’000 Mahlzeiten täglich ausweiten.

Wo kriegen Sie die her? Wer sind Ihre Partner?

Hängt vom Ort ab. In Aleppo läuft die Kooperation zwischen uns und lokalen Organisationen wie Kirchen oder Moscheen sehr gut. Und dann gibt es die offiziellen Hilfsorganisationen wie der Rote Halbmond.

Woran fehlt es am meisten?

Nahrung. Das ist das Wichtigste. Die Leute müssen essen. Und der Winter kommt, wir brauchen Matratzen, Decken, Kleidung. Das dritte sind die Mieten, die Flüchtlinge zahlen müssen. Viele haben durch den Krieg alles verloren, auch Ärzte, Akademiker. Können Sie sich vorstellen, dass Ärzte um Hilfe beten? Das gibt es. Die brauchen 150 Dollar, um ein Zimmer für 6 oder 7 Personen zu mieten.

Sie arbeiten auch mit der Regierung zusammen?

Ja. In Aleppo kooperieren wir mit dem Roten Halbmond. Der ist die offizielle Regierungsorganisation für humanitäre Hilfe. Darauf sind wir angewiesen. Wir fragen die Flüchtlinge nicht, auf welcher Seite sie stehen, Hilfe ist überall willkommen, wo Menschen leiden. Und Leid erfahren alle, auf allen Seiten. Ich würde sagen, das einzige, was Syrien momentan vereinigt, ist Leid und Angst. Solange wir neutral bleiben, behindert uns niemand. In Damaskus ist die Kooperation mit dem Roten Halbmond allerdings bedeutend schwächer.

Warum?

Das möchte ich nicht beantworten.

Wie funktioniert denn die Hilfe ohne Kooperation mit den Regierungsorganisationen?

Auch dazu möchte ich nichts sagen.

Gibt es Gebiete, die unzugänglich sind für Sie?

In die Gebiete, die die Aufständischen erobert haben, können wir nicht. Das ist Kriegsgebiet, dort kommen wir nicht rein. Und unser Zentrum in Al Quzayr in der Nähe von Homs ist geschlossen. Es wurde zu gefährlich, die Stadt wurde grossflächig bombardiert.

«Was Syrien derzeit vereinigt, sind Leid und Angst»

Es war eine harte Entscheidung, aber wir mussten da fort. Zum Glück haben wir niemanden verloren, aber wir hätten im schlimmsten Fall alle unsere Leute verlieren können. Nur noch ein Mitbruder ist freiwillig im eingeschlossenen Stadtkern verblieben. Nun versuchen wir, den Leuten mit Hilfspaketen zu helfen. Die gefährlichste Region ist meiner Meinung nach Aleppo, und dort sind wir sehr aktiv, mit rund 80 Helfern. Die Kämpfe dort sind heftig, aber wir sind ja nicht das Ziel.

Sie haben also keinen Einblick Zugang in die Regionen, die von der Rebellenarmee kontrolliert wird?

Nein. Keinen. Das ist sehr schwierig.

Gibt es denn Organisationen, die da helfen?

Dazu kann ich nichts sagen.

Wie schützen Sie sich?

Gute Frage. So gut es geht, wir müssen funktionieren. Ich danke Gott.

Gibt es noch eine Form von Alltag für Sie?

Kaum. Ich versuche, den Tag entweder mit einer Messe zu beginnen oder zu beenden. Das ist mir wichtig. Ansonsten bin ich viel unterwegs, an Koordinationsmeetings, in Flüchtlingszentren, an Besprechungen. Ich reise viel. Nach Homs, Aleppo, in den Libanon. Das Handy klebt die ganze Zeit am Ohr. Es ist chaotisch, aber man muss weitermachen. Wir hören Schüsse, heben den Kopf und arbeiten weiter.

Bisher hat der Krieg rund 2 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht, die Hälfte davon ist immer noch in Syrien. Wer kümmert sich noch um sie?

In Syrien sind wenige. Der Rote Halbmond, lokale Organisationen, Caritas ist auch präsent, und wir. Aber die verschiedenen UN-Programme helfen natürlich als unsere Partner in den Nachbarländern. Auch Ärzte ohne Grenzen sind im Libanon. Wir selbst betreuen rund 35’000 Flüchtlinge.

Sie sind 2012 bereits zum zweiten Mal im Ausland, um Partner zu treffen und Interviews zu geben. Was haben Sie für einen Eindruck – interessiert sich das Ausland nach 18 Monaten noch für den syrischen Bürgerkrieg?

Die Menschen sind interessiert, ja. Meistens drücken sie eine tiefe, ernsthafte Sympathie für unsere Arbeit aus. Das ist offensichtlich und aufrichtig. Pro Tag sterben 200 Leute, das geht nicht spurlos vorbei. Und sie stellen Fragen, wie sie helfen können und in welche Richtung das Land steuert.

In welche Richtung steuert es?

Ich bin nicht Politiker. Aber eine Lösung kann nur eine Versöhnung aller Kriegsparteien bringen. Ohne Dialog ist Syrien nicht mehr zu retten. Natürlich gibt es viele Faktoren, die eine Rolle spielen.

«Pro Tag sterben 200 Leute, das geht nicht spurlos am Rest der Welt vorbei»

Russland, China und der Westen, und auch die regionalen Mächte Iran, Türkei und die Golfstaaten haben ihre Interessen. Der wichtigste Faktor sind jedoch die Syrer selbst, die ihre Nächsten verloren haben. Alle von ihnen. Christen, Sunniten, Alawiten. Keine militärische Intervention bringt diese zurück.

In Libyen hat die Militärintervention einen Bürgerkrieg beendet.

Man kann das nicht vergleichen. Syrien ist eine pluralistische Gesellschaft, das ist ein Unterschied zu Libyen oder Tunesien. Eine Lösung muss diesen Pluralismus berücksichtigen und stärken. Eine Militärintervention würde auf einen Gewinner setzen. Das wäre das Ende. Vielmehr muss man die wenigen pluralistischen Akteure unterstützen.

Gibt es die?

Wenige. Am meisten noch in der humanitären Hilfe. Aber diese Gruppen sind mit dem Pluralismus vertraut, ohne die Partikularität abzulehnen. Sie brauchen wir für eine Gesellschaft, die nicht in Gewinner und Verlierer getrennt ist. Wir können Syrien nur neu aufbauen, wenn wir akzeptieren, dass wir alle Verlierer sind.

Pluralismus setzt Demokratie voraus. Im Westen herrschte lange der Tenor: Assad muss weg, danach kann man den Wiederaufbau beginnen. Was halten Sie davon?

Das kommentiere ich nicht. Ich bin dafür da, dass Menschen überleben. Aber ich habe erfahren, dass nun auf beiden Seiten Stimmen intern zu einem Ende oder zumindest einer Mässigung der Gewalt auffordern. In Aleppo, in Damaskus. Da sagen manche: wir sind nicht bereit, bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Das bedeutet ein Fundament für Verhandlungen.

Was bedeutet Ihnen der Glaube in dieser tragischen Zeit?

Ohne Gott würde ich das nicht schaffen. Das ist meine tiefste Überzeugung. Ich beobachte aber auch, dass wir unter Krisenbedingungen einiges solidarischer und effizienter arbeiten. Denn wir sind uns der Härte der Situation stärker bewusst. Auch davor gingen wir die Flüchtlingsarbeit ernsthaft an, ja. Aber sie war geprägt von Projekten mit Menschen aus anderen Ländern, die in wieder andere Länder weiterziehen wollten. Es gab einen Alltag, eine Routine. Nun betrifft es unsere Familien, Freunde, Mitbürger. Das ist ein ganz anderes Feuer, das in uns bei der Arbeit brennt. Es ist unser Land. Wir haben kein Recht zu sagen, wir können nicht mehr.

Quellen

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