Im Zuge der Attacken von Nizza und München diskutiert auch die Schweiz wieder über Schusswaffen in privaten Händen. Eine Mehrheit hierzulande zählt das Recht auf Pistolen und Gewehr noch immer zu den Grundrechten.
Am Anfang der Geschichte der Schweiz steht gemäss Gründungslegende der Meisterschütze Wilhelm Tell. Der Legende wie des Schützen wird am bevorstehenden Nationalfeiertag besonders gedacht. Das Schiessen – mit Armbrust und Jagdflinte, mit Karabiner und Sturmgewehr – gehört zu den Grundfreiheiten archaischer Männergesellschaften.
Inzwischen haben sich allerdings auch Frauen in diese Gefilde vorgewagt und sich darin hervorgetan. Am Knabenschiessen sind seit 1991 auch Mädchen zugelassen. Recht häufig endet das Wettschiessen mit der Kür einer Schützenkönigin (1997, 2004, 2011, 2012, 2014 und 2015). Der Schweizer Schiesssportverband (auch unter Swissshooting erreichbar) mit seinen rund 175’000 Mitgliedern hat eine Präsidentin, Dora Andres. Und immer wieder und mit wachsender Beliebtheit finden traditionelle «Wyberschiessen» statt, auch in der Region Basel (Oberwil).
Wie weit Schusswaffen im Privatleben noch immer zur Verfügung stehen sollen, ist eine umstrittene Frage. Eine Frage, die landesintern fast permanent diskutiert wird; eine Frage, die wegen EU-Regulierungen zusätzlichen Diskussionsstoff abgibt; und eine Frage, die bei jeder amerikanischen Schiesserei Betroffenheit auslöst und durch den Münchner Amoklauf neue Aktualität erhält. So schrieb der «Blick» am 25. Juli ein Zitat von SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor auf seine Frontseite: «Schweizer bewaffnet euch!» (Online hingegen lautet der Titel zum Artikel «Dieser SVPler hat einen Schuss».)
Es herrscht die Meinung, in der Schweiz werde ein verantwortungsvoller Umgang mit Schusswaffen gepflegt. Die Statistik stützt diesen Eindruck.
Es gibt die einleuchtende Annahme, dass sich die Zahl der verfügbaren Schusswaffen auf die Zahl des Waffengebrauchs auswirkt. Die Schweiz hat eine sehr hohe Waffendichte und nimmt einen Spitzenplatz hinter den USA, Serbien und Jemen ein. Schätzungen gehen von 3,4 Millionen Schusswaffen aus, was 42 Waffen auf 100 Einwohner wären. Andere Schätzungen sind noch höher.
In der Schweiz herrscht weitherum die Meinung, dass hierzulande ein besonders verantwortungsvoller Umgang mit Schusswaffen gepflegt werde. Die Statistik stützt diesen Eindruck: Es gibt hier viermal weniger Tötungsdelikte, «nur» 7,7 pro Million Menschen im Vergleich zu den 29,7 in den USA. In jüngerer Zeit konnte man in der Schweiz auch einen Rückgang von Schusswaffen-Toten beobachten, zwischen 1998 und 2008 immerhin auf etwa die Hälfte. 2012 waren es noch 248, davon 222 Selbsttötungen. Diese Zahlen veranlassten Swissinfo im Januar 2013 zur anschaulichen Aussage, dass es jeden Werktag einen Schusstoten gebe.
Wie in anderen Fällen ist die Schweiz auch in diesem Bereich wegen der in ihrem Interesse praktizierten Kooperation mit der EU zu Verbesserungen gezwungen worden: Gemäss Schengen-Recht und dem entsprechend angepassten Waffengesetz der Schweiz dürfen seit Dezember 2008 in Privathaushalten keine unregistrierten Waffen mehr aufbewahrt werden. In der Folge wurden Tausende von «Waffen» (auch Bajonette und Artilleriegranaten) freiwillig zum Schreddern gebracht. Die Medien berichteten, dass dabei «Haarsträubendes» zum Vorschein gekommen sei, in Basel zum Beispiel zwei Dutzend noch geladene Waffen.
Die Vernetzung der kantonalen Waffenregister ist in der föderalistischen Schweiz enorm schwierig.
Die Möglichkeit zu gebührenfreier, aber auch nicht vergüteter Abgabe besteht weiterhin – bei jedem Polizeiposten – und bleibt stets ohne strafrechtliche Konsequenzen. Nach der Bluttat von Daillon (VS) vom Januar 2013 – ein Mann tötet drei Frauen – konnte man bei Sammelstellen einen leichten Anstieg beobachten. Die meisten der abgegebenen Waffen stammen aus Armeebeständen, was in Anbetracht der Usanz, den Wehrmännern die Waffe zu überlassen, nicht erstaunt.
Eine Verbesserung bedeutete die Einführung eines Waffenerwerbsscheins 2008. Es wurde jedoch kein zentrales Waffenregister eingeführt; und es bestand bloss die Absicht, die seit 2008 von den Kantonen geführten Waffenregister miteinander zu vernetzen. In der föderalistischen Schweiz erwies sich das aber als enorm schwierig. Es dauerte fünf Jahre, bis am 1. Juli 2016 das «Bundesgesetz über Verbesserungen beim Informationsaustausch zwischen Behörden im Umgang mit Waffen» in Kraft gesetzt werden konnte.
Und die ursprünglich für eine zweite Phase vorgesehene Nachregistrierung älterer Waffen aus der Zeit vor 2008 – es dürfte sich um etwa eine Million handeln – wurde 2015 vom Parlament abgelehnt.
Stadt-Land-Graben in der Waffenfrage
Die Volksinitiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» vom Februar 2011 wollte den Erwerb und Gebrauch von Schusswaffen – mit garantierten Rücksichten auf Jäger und Sportschützen – einer verstärkten Kontrolle unterwerfen. Insbesondere Ordonnanzwaffen sollten ausserhalb der Dienstzeit in offiziellen Magazinen und nicht mehr in Privaträumen aufbewahrt und den Dienstleistenden beim Ausscheiden aus der Armee keine Feuerwaffen mehr überlassen werden. Die Heimabgabe von Taschenmunition war schon 2008 aus Rücksicht auf Schengen eingestellt worden.
Das Argument der Initiative, dass mit solchen Einschränkungen zahlreiche Menschenleben gerettet werden könnten, fand keine Mehrheit und wurde nur von 43,7 Prozent der Stimmenden geteilt. Aufschlussreich – wie immer – war und ist die Verteilung der Kantonsstimmen: Vier Kantone der französischen Schweiz und in der deutschen Schweiz die beiden Metropolkantone Zürich und Basel-Stadt lieferten zustimmende Mehrheiten. Am deutlichsten Ja sagt Genf mit 61 Prozent.
Auffallend war der Stadt-Land-Graben in der Nordwestschweiz: Basel-Stadt erbrachte eine Ja-Mehrheit von 58,9 Prozent, Basel-Landschaft eine Nein-Mehrheit von 54,8 Prozent.
Wenig erstaunlich, dass die kräftigste Ablehnung aus der Innerschweiz – den Stammlanden Wilhelm Tells – kam, mit Obwalden an der Spitze (71,9 Prozent Nein), unmittelbar gefolgt von Schwyz, Uri, Nidwalden und Glarus. Das Gesamtergebnis hätte Jahre zuvor wohl noch schlechter ausgesehen, und es könnte sich bei einem weiteren Anlauf verbessern.
Nur wenige Dienstpflichtige geben ihre Waffe im Zeughaus ab. Estrich, Keller oder der Schrank im Schlafzimmer liegen näher.
Der Bundesrat beurteilte die geltenden Bestimmungen für ausreichend und die vorgeschlagenen Massnahmen für unverhältnismässig. Die radikalsten Gegner sahen in der Initiative eine gegen die Armee und den Wehrgedanken gerichtete Attacke, zudem war von Bevormundung, ja von Fichierung die Rede, von Abschaffung der schweizerischen Urfreiheit sowie von Fremdbestimmung durch die EU.
Im Sinne eines leichten Entgegenkommens gegen die drohende Volksinitiative schuf der Bundesrat 2010 die Möglichkeit, die Waffe für die dienstfreie Zeit im Zeughaus vorübergehend abzugeben. Man rechnete damit, dass 25’000 Wehrmänner davon Gebrauch machen würden.
Wie dieser Tage bekannt wurde, sind es aber unter 1000, das heisst etwa 0,5 Prozent des Effektivbestandes von rund 170’000. Im Urner Zeughaus wurde gerade mal eine einzige Ordonnanzwaffe deponiert. Offensichtlich wird der Aufwand als zu gross beurteilt: Estrich, Keller oder der Schrank im Schlafzimmer liegen näher.
Die Feuerwaffe als Mittel gegen Gewalttäter
Der 7600 Mitglieder zählenden Gesellschaft «Pro Tell» für ein freiheitliches Waffenrecht gehen die Bemühungen um Einschränkung des ausserdienstlichen Waffenbesitzes zu weit. Der in Dornach wohnhafte Präsident Willy Pfund (heute 76) hat sein eigenes Zahlenverständnis: «75 Millionen Patronen werden jährlich in der Schweiz verschossen – und nur 400 führen zu Todesfällen bei Suiziden oder Tötungsdelikten.»
Entgegen polizeilicher Mahnung, von Schusswaffen zur Selbstverteidigung im Alltag keinen Gebrauch zu machen, pries Pfund 2015 die Feuerwaffe als Mittel gegen Gauner und Gewalttäter und – natürlich – auch gegen Terroristen. Andere Waffenbesitzer erklärten, dass die Nähe von Asylunterkünften den privaten Waffenschutz nötig mache.
Pfund verkündete im Weiteren, den populistischen Plural verwendend: «Wir sind jahrhundertelang mit unseren Waffen verantwortungsbewusst umgegangen. Wir brauchen auch in Zukunft keinen EU-Waffen-Landvogt!» Damit sprach der Tell-Präsident allerdings eine Möglichkeit an, die tatsächlich drohte, nachdem die EU-Kommission als Reaktion auf die Pariser Attentate eine Verschärfung des Waffenrechts im Schengen-Raum ausarbeitete.
Zehn Prozent der Armeeangehörigen nehmen nach der Ausmusterung das Sturmgewehr mit nach Hause.
Verschiedene vonseiten der EU ins Auge gefasste Bestimmungen hätten die schweizerische «DNA» treffen können, insbesondere das Verbot halbautomatischer Waffen. Das Sturmgewehr, das dem Armeeangehörigen nach der Ausmusterung für 100 Franken überlassen wird und dann den Status einer Privatwaffe hat, wäre darunter gefallen. Immerhin wollen zehn Prozent der Wehrmänner, warum auch immer, die Waffe behalten.
Die Verschärfung konnte abgewendet werden, Justizministerin Sommaruga gab bekannt, dass man Verständnis für schweizerische Gepflogenheiten habe. Die Schweiz machte in doppelter Weise eine gute Erfahrung: dass man am EU-Tisch des Ministerrates seine Interessen verteidigen kann und dass es an diesem Tisch auch Verbündete gibt, in diesem Fall etwa Finnland und Estland.
Mit und ohne EU ist dafür gesorgt, dass die Diskussion um den Waffenbesitz weitergeht. Zu hoffen ist, dass die Anlässe eher theoretischer Art und nicht konkrete Dramen sind, die uns ausrufen lassen: «Schon wieder!» und für einen Moment die Frage aufwerfen: «Was könnte man dagegen tun?»