Der bosnisch-österreichische Politologe Vedran Dzihic über die Lage der Flüchtlinge auf dem Westbalkan, autoritäre Tendenzen in der Region, deren EU-Perspektive und die Aussichten der europäischen Westbalkan-Konferenz in Wien vom 27. August.
Herr Dzihic, am Donnerstag findet in Wien die zweite europäische Westbalkan-Konferenz statt. Sie wird überschattet vom Flüchtlingsproblem der Region – Zehntausende Menschen aus dem Nahen Osten, Zentralasien und Afrika drängen über die Balkan-Route nach Mittel- und Nordeuropa. Wird das Gipfeltreffen eine Lösung des Problems bringen?
Vermutlich eher nicht. Die Flüchtlingspolitik am Westbalkan ist ein Spiegelbild der EU-Flüchtlingspolitik. Ich sehe auf der Ebene der EU-Mitgliedsstaaten keine Bereitschaft, diese Politik zu ändern. Natürlich wird die EU jetzt mehr Geld für Länder wie Mazedonien und Serbien locker machen und ihnen mehr Aufmerksamkeit widmen, aber langfristig sehe ich keine Änderung.
Welche Auswirkungen hat die Flüchtlingsproblematik am Westbalkan auf den innen- und aussenpolitischen Kurs der Länder der Region?
Zunächst einmal muss man sehen, dass die Lage wirklich dramatisch ist. Mit der Verhängung des Ausnahmezustandes in Mazedonien hat die Regierung zugegeben, dass sie nicht mehr Herr der Lage ist. In Serbien ist die Lage noch dramatischer, nur geht der serbische Regierungschef Aleksandar Vucic damit anders um. Mit der Eröffnung neuer Unterkünfte für Flüchtlinge versucht er der EU zu zeigen, schaut her, wir sind solidarisch, wir gehen mit der Situation anders um. Da ist sicher auch das Kalkül, mehr bei den EU-Verhandlungen rauszuholen. Die Flüchtlingskrise wird auch die innenpolitischen Reformen in den einzelnen Staaten bremsen. Unabhängig davon werden vor allem Mazedonien und Serbien die Hilfe der EU brauchen.
Auch aus den Ländern des Westbalkans selbst fliehen die Menschen massenweise. Warum?
Die wirtschaftliche und soziale Misere auf dem Westbalkan dauert seit Jahren an, und die Aussichten auf Besserung sind eher mager. Die Liste der Probleme ist lang: hohe Arbeitslosigkeit, ineffiziente und überdimensionierte Verwaltungsapparate, schlechte soziale Netze, hohe Haushaltsdefizite. Hinzu kommt, dass die Region politisch an einem gefährlichen Scheideweg steht. In den vergangenen Jahren sind in nahezu allen Staaten des Westbalkans autoritäre Tendenzen des Regierens stärker geworden. Viele Menschen verlieren das Vertrauen in ihre Regierungen und Institutionen, sie haben keine Geduld und keine Lebenskraft mehr.
«Die Region steht politisch an einem gefährlichen Scheideweg. In den vergangenen Jahren sind in nahezu allen Staaten des Westbalkans autoritäre Tendenzen des Regierens stärker geworden.»
Bei der Westbalkan-Konferenz geht es eigentlich um eine Initiative, die im vergangenen Jahr in Berlin gestartet wurde und mit der die EU-Perspektive der Region gefördert werden soll. Stellt dieser sogenannte Berlin-Prozess eine Wende der europäischen Westbalkan-Politik dar?
Jedenfalls keine wirkliche Wende. Es gibt bisher nur eine Wende, die sich aus neuen Ängsten der EU beziehungsweise einiger Mitgliedstaaten wie Deutschland und Österreich speist. Konkret geht es um die Angst vor den Flüchtlingen aus der Region, vor dem Wachsen des russischen Einflusses am Balkan und vor dem möglichen Erstarken des radikalen Islam in der Region. Ob das nachhaltig zu einer Wende in der EU-Westbalkan-Politik führt, wird man erst in den Wochen und Monaten nach dem Wiener Gipfel beurteilen können.
Vielen Beobachtern zufolge hat die EU in ihrer Westbalkan-Politik insgesamt zu lange nur Wert auf Stabilität in der Region gelegt. Teilen Sie diese Ansicht?
Ja, die EU hat lange Zeit zu viele Kompromisse mit den herrschenden Eliten gemacht, um die Sicherheit und Stabilität der Region zu wahren. Die EU betrieb und betreibt in Bezug auf den Balkan schon seit einiger Zeit ein technokratisches «business as usual»: ein wenig Reformen, da und dort Druck, gebetsmühlenartiges Wiederholen der Hausaufgaben, die die Staaten zu erledigen haben und das immer leiser ausgesprochene Versprechen, dass die Zukunft des Balkans in der EU liegt. Das hat in der Region zu einem spiegelbildartigen Prozess geführt, in dem die alten Eliten in der Macht ebenfalls ein solches Spiel betreiben – sie versprechen Reformen, setzen da und dort welche um, aber nie zu viele, sie sprechen von Demokratie und ruinieren sie oft durch ihr Handeln.
«Die politischen Eliten müssen die objektive Aufarbeitung der Geschehnisse unterstützen, die Bildungssysteme müssen tiefgreifend reformiert werden und die nationalistische Geschichtsschreibung beenden.»
Anfang Juli war die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zu einem mit grossen Erwartungen verknüpftem Besuch in Tirana, Belgrad und Sarajevo. Wie bewerten Sie diesen Besuch?
Die deutsche Kanzlerin wollte signalisieren, dass ihr die Region trotz vielen anderen «Baustellen» innerhalb und ausserhalb der EU wichtig ist. Die Erwartungen an Angela Merkel waren fast übergross, so dass einige ob ihrer Nüchternheit enttäuscht wurden. Ihre Kernbotschaft ist aber dennoch angekommen: Bei gutem Willen und Fortschritt kann man Unterstützung erwarten, bei Ausbleiben der Reformen die kalte Schulter.
Das Hasspotenzial zwischen den Nationalitäten und Ethnien auf dem Westbalkan scheint immer noch da zu sein. Wie beeinflusst das Ihrer Meinung nach die Entwicklung der Region und sehen Sie Gegentendenzen?
Die Ereignisse rund um Srebrenica im Juli dieses Jahres oder die unversöhnliche Haltung Kroatiens und Serbiens rund um die Feierlichkeiten der Operation «Sturm» unlängst sind nur zwei von vielen Beweisen, wie wenig die substanzielle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vorangeschritten ist. Die Spirale der einander ausschliessenden Diskurse kann nicht durch den von den politischen Eliten rhetorisch so oft beschworenen Fokus auf die Zukunft unterbrochen werden. Die politischen Eliten müssen die objektive Aufarbeitung der Geschehnisse unterstützen, die Bildungssysteme müssen tiefgreifend reformiert werden und die nationalistische Geschichtsschreibung beenden, konkrete Initiativen müssen einen neuen positiven Diskurs des Gemeinsamen im Bewusstsein des Vergangenen pflegen. Für Letzteres gibt es glücklicherweise schon genügend Beispiele.
Wie die soziale Revolte in Bosnien-Herzegowina im vergangenen Jahr oder die Schüler- und Studentenbewegung in Mazedonien. In ihnen sieht man Nationalitäten und Ethnien nebeneinander kämpfen. Wie beurteilen Sie diese Bewegungen und Initiativen?
Diese sozialen Protestformen sind aus meiner Sicht die wichtigste demokratiepolitische Entwicklung in der Region in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Dass in vielen Staaten der Region den unverantwortlichen Politikern lautstark mitgeteilt wird, dass man Missstände nicht mehr dulden wird, ist ein Teil des Erwachsenwerdens und der Emanzipation der Gesellschaften. Bosnien 2014 und Skopje 2015 sind meiner Meinung und Hoffnung nach nur der Beginn eines kritischen Hinterfragens der schlechten Politik am Balkan, der zu mehr Freiheit und besserem Leben in der Region führen kann.
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Vedran Dzihic, 38, ist Politologe an der Universität Wien, Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) und Non-Resident Fellow am Center for Transatlantic Studies. Er ist Autor zahlreicher Buchpublikationen und Beiträge und Artikel in internationalen wissenschaftlichen Journalen und Medien. Im Vorfeld der Westbalkan-Konferenz in Wien ist er Mitorganisator einer Konferenz zivilgesellschaftlicher Initiativen vom Westbalkan. Vedran Dzihic wurde 1976 in Prijedor in Bosnien-Herzegowina geboren und lebt seit 1993 in Wien.