Die letzten Dorfkönige

In der Schweiz, dieser Trutzburg der Demokratie, werden Monarchen einzig als Gäste willkommen geheissen. Sogar die Dorfkönige hat man abgeschafft.

Am Stammtisch sind Jasskönige nach wie vor beliebt. (Bild: Hans-Jörg Walter)

In der Schweiz, dieser Trutzburg der Demokratie, werden Monarchen einzig als Gäste willkommen geheissen. Sogar die Dorfkönige hat man abgeschafft.

Wenn wir Schweizer schon keine Monarchie haben, dann wenigstens ein paar Dorfkönige. Dachten wir – und machten uns auf die Suche. Nicht sehr erfolgreich. Zwar fördert das Internet einige zutage, doch die meisten regierten in der Vergangenheit.

Gemäss einem Bericht des Historikers Daniel Hagmann in den «Baselbieter Heimatblättern» von 2005 liegt die Zeit der echten Dorfkönige schon bald hundert Jahre zurück. «Der letzte Dorfkönig» lautet der Titel und dieser hiess Xaver Feigenwinter. Er war in der Zeit von 1864 bis 1914, mit einem 12-jährigen Unterbruch, Gemeindepräsident von Reinach; er sass 31 Jahre lang im Landrat und war Mitglied im kantonalen Kriminalgericht. Die Geschichte von Feigenwinter ist die eines Dorfkönigs, der als Mitbegründer diverser Genossenschaften auch ein «Bewegungsführer» gewesen sei, schreibt der Historiker.

Ein einflussreicher Clan

Xaver Feigenwinter war kein reicher Unternehmer wie andere Dorfkönige – er arbeitete als Bauer und Pöstler – seine Macht basierte auf seiner Familie. Die Feigenwinters waren ein einflussreicher Clan; vor Xaver amtete sein Vater Nicolaus als Gemeindepräsident, Posthalter und Friedensrichter; Xavers Brüder Ernst und Niklaus heirateten beide in die mächtige Familie von Blarer ein. «Xavers Vorfahren und Nachkommen», so Hagmann, «gehörten zu einem der insgesamt sechs Feigenwinter-Stämme, welche seit Jahrhunderten in Reinach ansässig waren.» Auch nach Xavers Tod 1915 wurden Feigenwinters in wichtige Ämter – auch nationale – gewählt, aber nie mehr in das des Gemeindepräsidenten.

Aber Dorfkönige, die gab es auch nach Feigenwinter noch. Karl Flubacher aus Läufelfingen zum Beispiel. Der 1992 verstorbene Politiker wehrte sich zwar gegen die Bezeichnung Dorfkönig, ihm gefiel «Dorfvater» besser. Aber ob Vater oder König – in den achtzehn Jahren, in denen Flubacher in Läufelfingen das Amt des Gemeindepräsidenten ausübte, gab es kaum jemanden im Dorf, der sich öffentlich gegen ihn gestellt hätte. Flubacher war ein gewichtiger Mann, als FDP-Nationalrat 20 Jahre lang die unüberhörbare Baselbieter Stimme in Bern und als Bauunternehmer grösster Arbeitgeber im Dorf. Interessenskonflikte sah Flubacher keine. «Die Bevölkerung», sagte er 1981 in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen, «hat begriffen, dass es für mich als Bauunternehmer wichtig ist, die Leute beschäftigen zu können, und ich deshalb auf Aufträge der Gemeinde nicht verzichten kann.» Offensichtlich war das so, denn Flubacher gehörte nicht zu der Gattung Dorfkönige, die irgendwann mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt wurden.

Die gab es auch. Etwa der Gemeindeammann aus einer Gemeinde am Bodensee, der auch Architekt war und wegen einer Raumplanungsänderung zugunsten eines von ihm geplanten Bauvorhabens für negative Schlagzeilen sorgte. Oder der Gemeindepräsident einer kleinen Glarner Gemeinde – ein Bauunternehmer –, der sich während seiner Amtszeit in den Achtziger- und Neunzigerjahren Aufträge selber zuschanzte und schliesslich wegen ungetreuer Geschäftsführung verurteilt wurde. Einer der berühmt-berüchtigten Dorfkönige aus neuer Zeit war wohl der Walliser CVP-Nationalrat und Leukerbader Gemeindepräsident Otto G. Loretan, der das Bäderdorf mit Renommierbauten auf Pump in den Ruin getrieben hatte und wegen dieses Finanzdebakels für ein paar Jahre ins Gefängnis wanderte.

Fusionen zerstören das Reich der Könige

Es gibt vermutlich heute noch da und dort Lokalpolitiker, die die eigenen Interessen mindestens so eifrig verfolgen wie diejenigen ihrer Gemeinde. Aber echte Dorfkönige? Die scheinen in der Schweiz abgeschafft zu sein. Zum einen haben ein paar von ihnen ihr Reich durch Gemeindefusionen verloren. Beispielsweise im Kanton Glarus, wo auf einen Schlag mehrere Gemeindepräsidenten ihr Amt abgeben mussten. Zum anderen ist durch Amtszeitbeschränkungen sowie Ausschreibungspflicht für öffentliche Bauvorhaben die Macht der heutigen Gemeindevorsteher deutlich eingegrenzt. Manche Gemeinden finden wohl deshalb heute nur mit Mühe jemanden, der sich für dieses Amt zur Verfügung stellt.

Erstaunlicherweise fand sich nach langer Suche dann doch noch ein Dorfkönig aus dem jetzigen Jahrtausend. Zumindest wurde Heinz Aebi aus dem Laufental in einem Bericht so bezeichnet. Aber – ist er auch einer? Der heute 61-Jährige sass bis 2009 insgesamt 22 Jahre im Gemeinderat der kleinen Gemeinde Nenzlingen, 19 davon als Präsident. So lange an den Schalthebeln der Macht – das muss ein Dorfkönig gewesen sein. Aebi war auch der Dorfschullehrer, und früher wurde dem Lehrer wie dem Pfarrer und dem Arzt oft hohe Ehrerbietung zuteil. Aber kaufen konnten sie sich damit nichts. Im Gegensatz zu den Herren aus dem Baugewerbe, die als Dorfkönige die Auftragsbücher zu ihren Gunsten füllten.

Erfindung eines Journalisten

Gemeindepräsident Heinz Aebi, der angebliche Dorfkönig, musste sogar die Schmach erleben, die ansonsten vor allem für Menschen aus der Türkei und Ex-Jugoslawien reserviert ist: die Ablehnung seines Einbürgerungsgesuchs, und das gleich zwei Mal – 2000 und 2002. Er, der 1973 aus dem Berner Seeland zugezogen war und seither mit Frau und fünf Kindern in Nenzlingen wohnte, den Laufentaler Dialekt angenommen hatte und seit Jahren in der Gemeinde wie auch im Landrat für die SP politisierte, war als Bürger unerwünscht? Eben, meint Aebi lakonisch. «Ich bin wohl eher ein Dorfknecht gewesen denn ein König.» Ein solcher, sagt er, würde sich das Bürgerrecht selber geben. Nein, er habe immer im Team politisiert, und es sei ein gutes Kollegium im Gemeinderat gewesen. «Der König ist die Erfindung eines Journalisten.» Und dieser, so Aebi, habe die Bezeichnung wahrscheinlich von ein paar Leuten übernommen, die immer wieder mal gegen ihn stänkerten – dieselben, die ihn nicht einbürgern wollten. Er sei zu wenig integriert, nehme zum Beispiel nicht am Banntag teil, lautete deren Begründung.

«Vorgeschoben», sagt Heinz Aebi dazu. «Wahrscheinlich sind mehrere Dinge zusammengekommen.» Eines dieser «Dinge» liegt schon viele Jahre zurück, könnte aber der Hauptgrund für die Ablehnung gewesen sein, wie Aebi vermutet. Er war Mitbegründer der Laufentaler Bewegung, die sich für den Wechsel vom Kanton Bern zum Kanton Baselland stark machte. «Der Kanton Bern florierte und das ­abgeschottete Laufental hatte nichts davon», erklärt er sein Engagement. Ein hartnäckiges Engagement, wie sich zeigen sollte.

In der Volksabstimmung 1983 wurde der Kantonswechsel zwar abgelehnt, doch als bekannt wurde, dass die Berner Regierung die berntreuen Komitees im Laufental mit geheimen Zahlungen unterstützt hatte, reichte Aebi zusammen mit vier Mitstreitern eine staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht ein, worauf dieses die Wiederholung der Abstimmung verfügte. Am 12. November 1989 entschied sich die Mehrheit der Laufentaler für das Baselbiet, im Dezember fackelten Unbekannte Aebis Auto, das vor seinem Haus stand, ab.

2003 wurde Heinz Aebi mit seiner Familie durch einen Regierungsentscheid in Nenzlingen eingebürgert, Aebi hatte gegen den Willkür-Entscheid der Bürgergemeinde Beschwerde eingereicht. Das Leben eines Dorfkönigs stellt man sich irgendwie anders vor – weniger aufreibend jedenfalls.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06/01/12

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